AM SEIL

Erich Hackl spürt einmal mehr mit der ihm eigenen Genauigkeit der großen Geschichte im Kleinen nach

Der Kunsthandwerker Reinhold Duschka, ein Bergsteiger und Alpinist, ein eher ferner Bekannter der Chemikerin Regina Steinig, in deren Küche sich in den 1920er und frühen 30er Jahren eine Gruppe moderat links eingestellter Freunde regelmäßig trifft, versteckt sie und ihre Tochter Lucia ab 1941 für vier Jahre in seiner Werkstatt, da Mutter und Tochter jüdischen Glaubens und damit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt sind.

Das ist die kürzeste Zusammenfassung, die man von Erich Hackls Kurzroman AM SEIL (2018) geben kann. Hackl  – dessen manchmal fast telegrammartiger, reduzierter Stil immer ausgefeilter und stetig verfeinert wurde – gelingt es einmal mehr, faktenbasiert eine ‚wahre‘ Geschichte so zu erzählen, daß die Wahrheit hinter den reinen Fakten umso deutlicher hervortritt. So berichtet er, gibt Informationen an den Leser weiter und verweist zugleich immer darauf, daß er selber, als Erzähler, der doch nie als Subjekt in den Text hineintritt, seine Erzählung auf meist mündliche Berichte der Betroffenen – hier vor allem Lucia als alter Frau – stützt. Unaufgeregt, fast beiläufig erscheint das, was da geboten wird und ist doch eine weitere Geschichte aus jener dunklen Zeit, die das 20. Jahrhundert beherrscht wie keine andere. Menschen, am Leben bedroht, Opfer eines fürchterlichen Regimes und seiner lebensverachtenden Ideologie, treffen auf Menschen, die es in Zeiten wie jenen als Menschenpflicht betrachten zu helfen, egal was es koste. Denn nur so kann man Mensch bleiben – und zum stillen Helden werden.

Hackl gibt seinem Text den Untertitel „Eine Heldengeschichte“. Deutlicher kann man die Distanz zu jenen „Heldengeschichten“, die gern von Kriegern und Kämpfern, von Wüterichen und Wollüstigen erzählen, kaum markieren. Denn Reinhold Duschka taugt sicher nicht für jene Erzählungen. Ein stiller Mann, der wenig Aufsehens um sich und seine Bedürfnisse macht, der lediglich im richtigen Moment versteht, wie er richtig zu handeln hat. Und der mit eben jener Ruhe und Umsicht handelt, die ihn in seinem Handwerk wie auch in seinem Hobby, der Kletterei, auszeichnen. Präzision, Geduld und Ausdauer. Und den so ein unsichtbares Band, ein Seil, mit jenen verbindet, die er gerettet hat, ohne daß er selber wahrscheinlich von Rettung je sprechen würde. Er hat sie, als er es musste, vor einem fürchterlichen Schicksal bewahrt.

Vielleicht, denkt man sich, vielleicht habe ich diese Geschichte aber doch schon so häufig gehört und gelesen? Mag sein. Doch zum einen kann sie nicht oft genug erzählt werden in all ihren Facetten, nicht zuletzt, um in erneut unseligen Zeiten daran zu erinnern, was getan werden muß, wenn es darauf ankommt, zum andern aber versteht Hackl es, eben mit seinem ebenfalls präzisen und sich am Wesentlichen orientierenden Stil, das Augenmerk auf Merkmale zu richten, die vielleicht nebensächlich erscheinen mögen in Anbetracht der Ungeheuerlichkeit dessen, was in dieser düsteren Zeit wirklich geschah: Die Langeweile in einem Versteck, das man nicht verlassen darf, gerade für ein Kind; die Umsicht, mit der man versuchen kann, der Angst und eben jener Langeweile mit Aufgaben zu begegnen; die kleinen Beschaffenheiten, die es zu bedenken gilt – Essensrationen, Kohlen für den Ofen in bitterkalten Wintern, den Hausmeister, der sonntags durch das Werkhaus streift und Geräusche vernehmen könnte, wo keine sein dürften, den Abstand zum Fenster, weil man von den Unterrichtsräumen der gegenüberliegenden Schule aus entdeckt und beobachtet werden könnte.

Dadurch, daß wir durch Hackls Schreiben immer Lucias erinnernde Stimme vernehmen, kommen uns als Lesern eben diese fast alltäglich und deshalb weniger schlimm anmutenden Dinge umso näher, können wir umso besser begreifen, was Sich-verstecken in Zeiten äußerster Bedrohung im Kern bedeuten mag. Und eben weil der Text als Rückschau angelegt ist, eben weil wir um die Geschichte, die Größe des Verbrechens wissen – und der Autor dieses Wissen voraussetzen kann, ja muß – , ist es möglich, dem Text auch jene Geschichten einzuschreiben, die nicht „gut“ ausgegangen sind, die, nur noch als Zahl unter Millionen von Toten im Bewußtsein, jedesmal von unvorstellbarem Grauen und Leid erzählen.

AM SEIL ist ein kurzer, aufwühlender und furchtbar wahrer Text, der einmal mehr von der großen Könnerschaft seines Autors kündet, aber – und das ist wesentlicher – mehr noch einmal mehr von der abgründigen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Erich Hackl, immer auf der Suche nach diesen kleinen, fast vergessenen Geschichten, gelingt es auch hier, wie zuvor in ABSCHIED VON SIDONIE (1989) oder in DIE HOCHZEIT VON AUSCHWITZ (2002), die große, umgreifende Geschichte in einer kleinen aufzustöbern, offen zu legen und greifbar zu machen. Und es gelingt ihm darüber hinaus, in dieser so grauenhaften Geschichte so etwas wie Hoffnung zu entdecken und sie den Leser spüren zu lassen.

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