ATLANTIC CITY, USA/ATLANTIC CITY

Louis Malles berührende Studie über ein Land im Umbruch, den Blick des Voyeurs und das Genre-Kino an sich

Sally Matthews (Susan Sarandon), die hofft, von der Austernbar eines großen Casinohotels in Atlantic City, New Jersey, als Croupière an einen der dortigen Black-Jack-Tische wechseln zu dürfen, erhält Besuch von ihrem Exmann Dave (Robert Joy) und ihrer Schwester Crissie (Hollis McLaren), die von Dave schwanger ist.

Der hat in Philadelphia Drogen der Mafia geklaut und will diese in Atlantic City verkaufen. Allerdings kennt er sich in der Stadt nicht sonderlich gut aus. Er trifft durch Zufall Lou Pascal (Burt Lancaster) auf der Treppe.Der alternde Möchtegern-Gangster will ihm helfen.

Lou ist Sallys Nachbar, der sie Abend für Abend über den Lichtschacht zwischen ihren Wohnungen hinweg bei ihrem Ritual einer Waschung mit Zitrone beobachtet. Lou kümmert sich aus alter Anhänglichkeit um die vermeintlich bettlägrige Grace Panza (Kate Reid), die in der Etage unter Sally und ihm wohnt.

Dave wird von Killern der Mafia verfolgt, die ihn schließlich aufstöbern und töten.

Lou holt sich die Drogen aus dem Versteck und beginnt, sie portionsweise zu verkaufen. Er kleidet sich neu ein und tritt Sally gegenüber charmant und mit Grandezza auf, zahlt leichthändig Daves Überführung in seine kanadische Heimat und führt sie zum Essen aus. Chrissie führt er Grace zu, da die eine die Kunst des Massierens beherrscht, die andere eine Massage mal bitter nötig hätte.

Eine kurze Weile gelingt es Lou, dem Bild zu entsprechen, das er von sich selber hat: Der Mittelklassegangster, der sie alle kannte, die Großen, der als „Informant“ arbeitete und vom Ruhm vergangener Tage lebt. Schließlich kommt es zwischen ihm und Sally zu Intimitäten.

Doch als Daves Mörder ihnen auflauern und Sally zusammenschlagen, kann Lou nicht einschreiten und sie schützen. Sallys Wohnung wurde verwüstet und sie begreift nun erst, wie groß das Ausmaß der Bedrohung ist, daß ihr mit Dave und Chrissies Auftauchen erwachsen ist. Chrissie gesteht ihr den Drogendiebstahl.

Im Casino erfährt Sally, daß sie gefeuert wurde, wegen der Vergangenheit ihres Mannes. Joseph, Sallys Gruppenleiter in der Croupier-Schule, versucht, sie zu prostituieren. Sallys Welt bricht zusammen und sie will Lou zur Rede stellen, merkt jedoch, daß der abgehauen ist.

Im letzten Moment kann sie ihn aus einem Greyhoundbus holen, der ihn aus der Stadt gebracht hätte. Sie streiten offen über den Stoff und das Geld, als die Killer auftauchen. Lou erschießt die beiden. Er und Sally hauen ab.

In einem Motel kommt es zu einer finalen Szene, in der beiden klar wird, daß es keine gemeinsame Zukunft gibt. Sally haut mit dem Wagen ab, in einer Schlußeinstellung sehen wir Lou und Grace gemeinsam spazierengehen auf dem Boardwalk von Atlantic City, USA.

Viele Vertreter der französischen ‚Nouvelle Vague‘ hatten ein großes Herz für den amerikanischen Genrefilm, für den Western, ebenso für das Melodrama und – naheliegend, da artverwandt – den ‚Film Noir‘. Nur wenige von ihnen hingegen wagten den Schritt ins Land der begrenzten Möglichkeiten, um dort wirklich auch selber Filme zu realisieren. Claude Chabrol hatte seine „kanadische Phase“, Bertrand Tavernier drehte gelegentlich in den USA. Es war jedoch Louis Malle, der die Möglichkeiten, einen eigenen Film in den USA zu realisieren, recht früh erkundete. Er, eh eher ein Außenseiter unter den französischen Filmemachern, hatte erste Auslandserfahrung als Regisseur bereits 1965 in Mexiko gesammelt, wo unter seiner Regie der nominell als Euro-Western gehandelte VIVA MARIA! (1965) mit den damals großen Diven Brigit Bardot und Jeanne Moreau entstand. Ab 1977 drehte er dann fast zehn Jahre lang in den USA – fünf Spielfilme und zwei sehenswerte Dokumentationen kamen dabei heraus.

Man kann mit einigem Recht behaupten, daß der vorliegende Spielfilm ATLANTIC CITY (1980) der Kulminationspunkt ist, wenn man diese Filme als Reflexion auf Amerika lesen will. Der Nachfolger MY DINNER WITH ANDRE (1981) ist sicherlich der intellektuell ansprechendere Film, doch ist er nicht wirklich Amerika-zentriert. Vielleicht sind die ihm zugrunde liegenden Ideen, Gedanken und Überlegungen Reflexionen, die einem Künstler in der Entfernung, der Distanz zur (auch künstlerischen) Heimat kommen. ATLANTIC CITY ist anders. Hier betrachtet Malles sein Gastland – natürlich durch die Brille des Filmemachers und natürlich durch die Maske des europäischen Filmemachers, der durch amerikanische Filme sozialisiert wurde. So ist ATLANTIC CITY ebenso eine Stilübung in, wie auch eine Hommage an den ‚Film Noir‘, zugleich ist es eine tiefschwarze Komödie über Menschen, die unbedingt mehr sein, größer scheinen wollen, als sie sind, und es ist eine melancholische Meditation über den amerikanischen Traum und darüber, wie er zumeist nicht in Erfüllung geht.

Die Eröffnungseinstellung des Films zeigt uns die Sprengung eines der großen Hotelkomplexe an der Uferfront der ehemaligen Metropole am atlantischen Ozean. Ende der 70er Jahre durch die Legalisierung des Glücksspiels zum Hotspot aller Immobilienhaie geworden, veränderte die Stadt ihr Gesicht sehr schnell und sehr gründlich. Malle nimmt dies sinnbildlich. Er dokumentiert einerseits wirklich den Abriß, den Zerfall, die Zerstörung einer Stadt, andererseits geht symbolisch damit der Zerfall all der Träume der Menschen einher, die hier ihr bisheriges Leben gefristet haben. Malle, als französischer Mensch seiner Zeit, blickt kritisch auf einen Traum, der komplett auf das Materielle ausgerichtet ist. Jeder hier sucht das große Los, und das große Los bedeutet: Geld. Die Mafia, Dave, Sally, deren materielles Bestreben immerhin einem ideellen Traum dient – sie will nach Frankreich auswandern – , Lou oder die Typen, denen er gestreckten Stoff verkauft (und die eine scheinbar niemals endende Pokerrunde in einem Hotelzimmer spielen) – sie alle wollen Geld machen. Und naturgemäß werden immer die meisten scheitern, scheitern müssen, sonst wäre für die Gewinner ja nicht genug da. Eine niederschmetternde Analyse für ein Land, welches 1980 am Beginn einer Ära ungezügelten, brutalen Kapitalismus stand.

Malle erzählt das im gerade von den Franzosen so erkannten und benannten Stil des ‚Film Noir‘. Die Art von Thrillern, die einerseits immer eine schicksalhafte Verkettung widriger Umstände erzählen, aber auch von moralisch korrumpierten, oft bankrotten Menschen, die zwangsläufig in die Fallen tappen, die sie selbst gebaut haben. Arme Kraucher, die angeben und sich gewaltig übernehmen. Lou Pascal ist da ein Paradebeispiel. Lancaster weiß ihn ebenso zu parodieren, indem er ihn spielt wie einen der distinguierten älteren Herren, die er einst bei Visconti gab, wie er ihn auch mit Würde auszustatten versteht, indem er die Figur nie der Lächerlichkeit preis gibt. Lou versucht, eine sich ihm bietende Chance zu ergreifen und alles richtig zu machen, so, wie es aus seiner Perspektive einst die „Großen“ gemacht haben. Daves Tod ist ihm relativ gleichgültig, es passt ihm allerdings gut in den Kram, daß er so Sally näher kennen lernen und sich als Beschützer aufspielen kann. Und wie in jedem „echten“ Noir ist mit dem Auftreten der Dame das Schicksal des Helden besiegelt. Nur daß Lou kein Held ist, wie auch sonst niemand hier ein Held ist. Sally ihrerseits stolpert ungebeten in diese Story hinein, und Susan Sarandon arbeitet hier den Typus Frau aus, den sie später oftmals variieren sollte – den der taffen, selbstständigen, meist in der Vergangenheit verletzten, oft alleinstehenden Frau, die sich nichts vormachen lassen will. Viel eher will Sally etwas hinter sich lassen und das arg naiv gezeichnete Hippiepärchen Dave und Chrissie gehört ganz offensichtlich dazu. Sie entwickelt wirklich aggressive Energie, als sie sich von allen, inklusive Lou, hintergangen oder ausgenutzt fühlt. Sie beschließt, daß sie nun endlich auch ein Stück vom Kuchen haben will, und Geld wäre ein großer Schritt bei der Verwirklichung ihres europäischen Traums. Der Film lässt das offen. Doch zugleich nimmt er für einen Noir-Thriller einmal die weibliche Sicht sehr ernst, die der klassische ‚Film Noir‘ eines Billy Wilder eher aussparte. Hier begreifen wir, wieso eine Frau schließlich bereit ist, alles und alle zu verraten. Nur nennen wir es am Ende dieses Films nicht mehr Verrat.

Doch  beläßt Malle es nicht dabei, sondern setzt die Dekonstruktion des Metiers fort: Noch während des Vorspanns offenbart uns die Kamera den voyeuristischen Blick, den Lou auf Sally wirft. Malle läßt uns von Anfang an nicht vom Haken, sein Blick ist voyeuristisch und unser Blick, ist, wenn auch nicht identisch, so doch nah an Lous Voyeurismus. Die Kamera fährt zurück, knapp an Lous Kopf vorbei und nur sehr knapp entgehen wir einer subjektiven Einstellung. Das Kino ist immer eine Art des Voyeurismus, oder zumindest eine Art der Befriedigung desselben. Und damit – indem diese verräterische Rückfahrt der Kamera uns zu Lous zwangsläufigen Verbündeten gemacht hat – gehört unsere Sympathie sehr lange diesem Charmeur, einem Schlawiner, dem wir nichts Böses zutrauen und der uns dann umso mehr verstört in seiner kindlich anmutenden Freude darüber, die beiden Mafiakiller wirklich getötet zu haben.

Es sind dies die Momente, in denen Malle das Personal des Noir-Thrillers deutlich zu dekonstruieren beginnt. Die meisten dieser Figuren verhalten sich anders, als es der Zuschauer durch seine Sozialisation durch den Hollywoodfilm gelernt hat. Das verwirrt, und der Film – der die Story ebenso wie die Verfassung der Figuren immer wieder mit Totalansichten der Stadt kontrastiert – nimmt momentweise fast surreale Züge an. Eine Stadt im Wandel, im Zerfall, Menschen, die in seelischen Ruinen wandeln. Malle zitiert das amerikanische Kino eher, als daß er seinem nominellen Gangsterfilm einen wirklich amerikanischen Look verpassen würde. Die filmische Erzählung bleibt immer in Halbdistanz zum Erzählten. Und aus dieser Halbdistanz heraus verrät Louis Malle (Louis Malle/Lou Pascal) viel über seine eigene Filmsozialisation, über seine europäische Herkunft und vor allem über den Blick, den ein Europäer auf Amerika wirft: staunend, genau, besorgt, manchmal verängstigt. Und sicherlich erschüttert ob der Geschichtsvergessenheit. Die Art, wie hier mit dem Alten rigoros aufgeräumt wird, um Neuem Platz zu schaffen, die Würdelosigkeit, mit der ebenso mit Leben umgegangen wird, ist für Europäer oft schwer zu ertragen.

Louis Malle und sein Autor John Guare haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß die Stadt selbst die Hauptdarstellerin des Films sein solle. Nun muß man dies nicht unbedingt teilen als Wahrnehmung, dennoch ist deutlich, daß die Stadt immer spiegelt, was den Protagonisten widerfährt. Und so, wie die Leben dieser Menschen kaum je etwas Außergewöhnliches aufweisen, so bleibt auch die Stadt, solange sie nicht in Luftaufnahmen gezeigt wird, gesichtslos, unauffällig: Diners und Clubs, Casinos und Restaurants – nichts, was nicht austauschbar wäre. So wie die Figuren hier und diese Leben letztlich austauschbar sind.

Louis Malle ist ein oft spröder, trauriger, manchmal von melancholischem Witz durchzogener Film gelungen, der zwar nur leidlich spannend ist, dem es aber gelingt, eine klassische Thrillerstory in ein Drama zu verwandeln. Und damit erweist er dem ‚Film Noir‘, der immer dem Melodrama nah ist, eine große Referenz. Man erwarte hier keinen Spannungsfilm. Belohnt wird man mit einer fantastischen Studie amerikanischen Lebens zu Beginn der 80er Jahre. Und man wird belohnt mit einem tiefen Verständnis für die Beschädigungen des Menschen in einer modernen, kalten und oft schlicht brutalen Welt. Und last but not least, wird man auch mit einer Meditation über das Wesen des Films und das des Kinos belohnt. Unter Louis Malles Amerikafilmen vielleicht der relevanteste.

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