DIE HAUPTSTADT

Leider gelingt Robert Menasse kein großer europäischer Roman

Kann man Politik spannend erzählen? Kann man einen politischen Roman, einen Roman, der institutionelle politische Abläufe thematisiert, so aufbauen und umsetzen, daß es den Leser fesselt? Wolfgang Koeppen ist es gelungen, 1953 mit DAS TREIBHAUS, doch zumeist wenden sich „politische Romane“ in Polit-Thriller, was nicht schlecht sein muß, wie die klassischen Werke von Eric Ambler oder Graham Greene beweisen, doch kommen sie dann eben selten ohne eine Verschwörung und andere Topoi des Thriller-Genres aus.

Robert Menasse hat es nun also versucht. DIE HAUPTSTADT nimmt sich eines Themas an, wie es dröger und unpassender für einen Roman, der auch unterhalten will und also eine gewisse Spannung erzeugen muß, kaum sein könnte: Die Europäische Union in Gestalt der EU-Kommission und deren Umfeld in Brüssel, der titelgebenden Hauptstadt. Der Autor, immerhin verantwortlich für solch begeisternde Werke wie DIE VERTREIBUNG AUS DER HÖLLE (2001) und vielleicht mehr noch die „Trilogie der Entgeisterung“ (zwischen 1988 und 1995), nimmt sich des Themas anhand einer Riege kaum in Bezug zueinander stehender Figuren an, die teils für diverse Abteilungen der Kommission in Brüssel arbeiten, teils, wie der österreichische Professor Erhart, in einzelne Projekte als externe Experten eingebunden sind, teils nichts mit dem Kerngeschehen zu tun haben und eher die Peripherie des Romans markieren, und teils mitten in einer Handlung stehen, die kein Zentrum aufweist.

Zur Stärkung des Ansehens der Kommission in der EU und bei den EU-Bürgern, soll zu deren sechzigstem Geburtstag im Jahr 2018 ein Projekt gestartet werden, das an die Ursprünge der Gründung der Kommission erinnern soll. Es sei die Idee gewesen, den Nationalstaat und damit den Nationalismus zu überwinden, damit nie wieder geschehen könne, was im 2. Weltkrieg und speziell in Auschwitz geschehen sei. Zugleich arbeitet der bereits erwähnte Professor Erhart an einem Projekt, das sich mit der Zukunft der EU als Staatenbund, bzw. supranationalem Gebilde beschäftigt. Der Brüsseler Kommissar Brunfaut hat einen Mord in einem Hotel aufzuklären, den es nach einigen Tagen offiziell gar nicht mehr zu geben scheint. Der Holocaust-Überlebende David de Vriend verlebt seine letzten Tage in einem Altenheim, nicht ahnend, daß er genau der Shoah-Überlebende ist, den die ‚Abteilung Kultur, federführend beim Kommissionsprojekt, so händeringend sucht. Langsam im Sumpf der Demenz sich verlierend, erinnert er sich immer klarer an seine Flucht aus einem Zug gen Osten, in dem er seine Eltern und den Bruder zurückgelassen hatte…

Es kommt vielleicht schon in einer solchen Kurzbeschreibung des Inhalts zum Ausdruck, wo das Problem des Buches zu verorten ist: Robert Menasse hat sich ungeheuer viel vorgenommen, die Summe der einzelnen Teile des Romans würden jeder für sich bereits ein Projekt ergeben. Hier nun führt der Autor alles zusammen: Ironische Kritik an der Arbeit der Kommission und diverser Abteilungen der Brüsseler Hierarchien, die sich oft gegenseitig blockieren, manchmal aus wahrer Überzeugung, manchmal aus schierer Lust am Opportunismus und oftmals auch einfach aus persönlichem Ressentiment; sarkastische Beschreibungen einzelner Verbände, wie dem der Schweinezüchter, und wie sie Einfluß zu nehmen versuchen; die Erinnerungen eines Überlebenden des schlimmsten Menschheitsverbrechens, das dieser Planet bisher gesehen hat; einen Kriminalfall, der sich mehr und mehr als Verschwörungsthriller mit Verbindungen bis in den Vatikan entpuppt; leicht frivole Liebeständeleien zwischen EU-Angestellten und zugleich deren Karrierepläne und  -aussichten. Doch im Kontext bleiben all diese Themen, Schicksale und Einzelpunkte skizzenhaft, fast oberflächlich. Mehr und mehr drängt sich beim Lesen der Eindruck auf, daß Menasse all diese Geschichten und Geschichtchen, die oft geradezu banal anmuten, manchmal einfach langweilig, nur als Staffage benutzt, als Lametta an einem Baum, der keinen wirklichen Stamm hat. Sie werden zu literarischen Funktionen, anstatt eine jede für sich wirklich etwas zu erzählen. Ärgerlicherweise gerinnt Vieles dann auch zum Klischee, erweisen sich Nebenfiguren als exakt das, was sie auch in der Tagespresse sind – Pappkameraden nämlich, die den Nutzen haben, daß man sich über sie lustig machen kann. Und genauso ärgerlicherweise wird das in einer oft allzu geläufigen, allzu gefälligen Sprache dargeboten.

Was soll da eigentlich erzählt werden? Warum braucht es einen Holocaust-Überlebenden, dessen Geschichte letztendlich gleichwertig neben seitenlangen Beschreibungen der EU-Schweinezuchtverordnungen steht? Und die im Rahmen dieser fragmentierten Handlung einen rein funktionalen Charakter bekommt? Warum braucht es einen Mord und eine Verschwörung – ein Handlungselement, das sich geradezu als Einschub aufdrängt, um den Leser bei der Stange zu halten und nebenher ein wenig Lokalkolorit einzustreuen? Warum müssen wir den eher banalen Beziehungsansichten einer Referentin folgen, die so auch einer Frauenzeitschrift entstammen könnten? Was ist der Grund, dieses Buch  zu schreiben? Doch dann, im letzten Drittel, wird der Leser plötzlich Zeuge einer Szene, in der der bereits erwähnte Professor Erhart in einem wahren karrieristischen Selbstmordakt ein flammendes Plädoyer wider den Nationalstaat und für ein supranationales Europa hält. Da ist sie plötzlich, die (er)greifende Sprache, die Idee, das Feuer. Man spürt mit einem Male, wieso dieser Roman geschrieben werden musste, ja, man bekommt gar den Eindruck, daß der gesamte Roman um diese Passage herum konstruiert wurde.

Dennoch – Robert Menasse ist da leider nicht der große Wurf gelungen, von dem die Feuilletons gern sprachen und den man nur allzu gern gehabt, den man ihm gegönnt hätte. Die Summe der Einzelteile ist in diesem Fall nicht größer als das Ganze. Die Einzelteile  ergeben schlicht kein Ganzes. Alles wirkt zersplittert und zerfahren, fragmentiert und unfertig. Kommt die Story dann zu ihrem Ende, weil ein Roman irgendwann eben ein Ende braucht, hat man den Eindruck, es fiel dem Autor schlicht nichts mehr ein, kein schlüssiges Konzept. Wenn die Idee, all die losen Enden eben lose bleiben und ausfransen zu lassen, ein „offenes“ Ende für die Geschichte der Europäischen Union und ihrer Kommission, die wie noch nie zuvor in der Kritik ihrer einzelnen Mitglieder stehen, symbolisieren soll, dann ist die Metapher doch arg bemüht. Vielleicht sollte man nicht all das mit einem großen Knall enden lassen, wenn man angeblich diese EU verteidigen und gegen ihre Angreifer schützen möchte. Ein überzeugter Europäer, der Menasse zweifelsohne ist, sollte eher nicht genau die Klischees bedienen, die an Stammtischen und in der Gruppe der Visegrád-Staaten zirkulieren, er sollte die Arbeit der Kommission eher nicht als zänkisches Allerlei etlicher Einzelinteressen schildern und nur in einer einzigen Szene nahezu kontrapunktisch einen Protagonisten ein Bekenntnis ablegen lassen. Koeppen hat es in seinen Romanen vorgemacht, daß es sehr wohl möglich ist, Kritik zu üben bei gleichzeitig klarem Bekenntnis zur Demokratie und der damals jungen Bundesrepublik.

DIE HAUPTSTADT mutet zu oft wie die Bestätigung gängiger Klischees an, wobei der Roman sich relativ gut weglesen lässt, da der Autor es seinen Lesern nie wirklich schwer macht und die wenigen Passagen wirklicher Tiefe und Reflexion immer wieder mit solchen oberflächlichen Geschwätzes konterkariert. Vielleicht liegt es einfach daran, daß man als Menasse-Leser sehr viel erwartet. Vielleicht wäre dies alles, aus der Feder eines anderen, ein zumindest sehr unterhaltsamer Roman geworden. So aber ist es ein manchmal unterhaltsamer, sehr selten reflektierender, öfters auch ärgerlich stimmender Roman, der im Grunde auf Vollendung wartet.

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