DIE SIEBTE SPRACHFUNKTION/LA SEPTIÈME FONCTION DU LANGAGE

Ein Vexierspiel der Pariser Intellektuellenszene um 1980...

Unter den letzten Strukturalisten, Poststrukturalisten und Postmodernen wird immer noch gern darüber gestritten, wann genau diese ausgesprochen aufregende Ära des Denkens und des intellektuellen Abenteuers zuende gegangen ist? Vielen, wahrscheinlich den meisten wird es der 25. Juni 1984 gewesen sein, als Michel Foucault, einer der Säulenheiligen der französischen Theoretiker, als eine der ersten Personen der Öffentlichkeit, die sich dazu bekannten, an AIDS starb. Anderen, vielleicht optimistischeren Gemütern, mag es dann eher der 8. Oktober 2004 gewesen sein, als mit Jacques Derrida der eigentliche Philosoph dieser Zirkel für immer verstummte.

Doch genau so gut könnte man den 26. März 1980 anführen. An diesem Tag starb mit Roland Barthes einer der populärsten und erfolgreichsten Denker der ‚neuen Französischen Schule‘. Barthes hatte bereits in den 1950er Jahren mit den MYTHOLOGIES (1957) – zu Deutsch DIE MYTHEN DES ALLTAGS (1964/2003) – enormen Erfolg und war zu einem echten Liebling der Pariser Intellektuellenszene geworden. Die 60er und 70er Jahre hindurch hatte er wesentliche Gedanken zu den poststrukturalistischen Entwicklungen, gerade in Hinblick auf die Literatur, beigetragen. Neben seinen Untersuchungen mythischer Systeme und ihres politisch-reaktionären Gehalts auch die Theorie vom „Tod des Autors“, was für das vorliegende Buch noch von Bedeutung sein wird. In Frankreich hatte Barthes zuletzt großen Erfolg mit seinem Buch FRAGMENTS D´UN DISCOURS AMOUREUX (1977) gehabt und hatte mehrfach in Freundeskreisen anklingen lassen, daß er einen Roman schreiben, auf jeden Fall mehr ins prosaisch/poetische Fach wechseln wolle – worauf die FRAGMENTS… durchaus schon hinwiesen.

Barthes so plötzlicher und viele erschütternder Tod war Folge eines Unfalls. Er wurde direkt vor seiner Fakultät von einem Lastwagen angefahren und starb einige Wochen später. Laurent Binet nimmt nun also diesen Tod als Ausgangspunkt für seinen Roman LA SEPTIÈME FONCTION DU LANGAGE (Originaltitel). Womit hat man es hier zu tun? Schnell wird dem Leser klar, daß es um eine geheime oder geheimnisvolle Formel geht, bei der es sich, an die sechs Sprachfunktionen des Linguisten und Semiotikers R.O. Jakobson anschließend, um eine siebte Sprachfunktion handeln soll, die aus einem zunächst unerfindlichen Grunde Auswirkungen auf den herrschenden Präsidentschaftswahlkampf zwischen dem Amtsinhaber Giscard d´Estaing und dem Herausforderer François Mitterand haben soll. Der ermittelnde Kommissar Bayard nimmt die Hilfe des Universitätsdozenten Simon Herzog in Anspruch, der selber semiotische Seminare anbietet und nun als eine Art “Übersetzer“ für Bayard dienen soll, dem nicht nur die Linguistik und Semiotik im Besonderen, sondern im Grunde die ganze akademische Welt fremd und unzugänglich ist. Für Binet Anlaß und Gelegenheit, das Verhältnis des französischen Kleinbürgers, oft und gern als Spießer par excellence portraitiert, ebenso zu reflektieren wie zu parodieren. Überhaupt hat der Text viele parodistische und manchmal sogar satirische Untertöne, was sehr zu seinem Unterhaltungswert beiträgt. Es entspinnt sich eine Art Schnitzeljagd nach der Formel, in die nicht nur diverse Geheimdienste – darunter der bulgarische Auslandsgeheimdienst sowie der Mossad – involviert sind, sondern auch Umberto Eco und die gesamte Szene der Pariser Intellektuellen von Julia Kristeva und ihrem Gatten, dem Schriftsteller Philippe Sollers, über Michel Foucault, dessen allseits bekannten, eher abseitigen sexuellen Vorlieben für allerlei schlüpfrige Passagen herhalten müssen, über damals noch eher als Randfiguren fungierende wie den notorischen Bernard-Henri Lévy, bis hin zu Geistesgrößen wie dem Denker der Dekonstruktion Jacques Derrida und dessen Freund und Lehrer Louis Althusser – wobei gerade letzteren im Roman höchst eigenartige Schicksale beschieden sind.

Aus der manchmal leicht frivolen Jagd nach geheimen Dokumenten, die das Duo Bayard/Herzog von Paris aus nach Italien, in die USA und nach Venedig führt und ihnen manch irrwitzige und oft action- und pointenreiche Wende in den Ereignissen beschert, Einsichten in die Theorien ihrer Zeit bietet und die die geheimen Spielzirkel der Intelligenzija einführt, entwickelt sich zugleich ein Vexierspiel mit den zeitgenössischen Geistesgrößen. Binet spielt ein Spiel, so wie Derrida, der im ganzen Roman erst sehr spät auftaucht und dann folgerichtig fast abwesend wirkt, vom Spiel der Signifikanten gesprochen und daraus seine ganze Theorie der ‚différance“ entwickelt hatte. Als Autor nimmt sich nun also Laurent Binet, der sich dem Text gelegentlich einschreibt – einschiebt, wollte man fast sagen – , die Freiheit, mit den Signifikanten zu spielen. Einen jeden dieser Denker als einen solchen Signifikanten behandelnd, lässt Binet sie zunächst ganz ihrer überlieferten Charaktere entsprechend eitel, selbstverliebt, arrogant, auftrumpfend oder verhuscht auftreten, um sie dann in immer abstruseren Windungen einer wahren Räuberpistole nach und nach zu deskonstruieren. Binet lässt hier ein wenig der realen Realität aus und fügt dort ein wenig fiktionale Realität ein, führt zusammen, was niemals passen kann, entfremdet sein eigenes Personal immer mehr, bis all diese Namen – Label – eben nur noch das sind: Begriffe, er nimmt den „Tod des Autors“ ganz wortwörtlich – und zwar nicht nur den von Roland Barthes – und lässt ihn, den Tod, als Leerstelle auftreten, bis der Leser, der es schon vergleichsweise früh ahnen konnte, endlich merkt, daß er es wirklich und wahrhaftig mit einem Roman zu tun hat. Ein Roman, der uns andauernd mitteilt, ein solcher zu sein. Und wenn man dann aus Freunden Feinde, aus Gerüchten Gewissheiten und aus den Toten Signifikate (?) macht, dann kann man schon erleben, wie ganz neue Anordnungen, andere Signifikantenketten entstehen, die die intellektuelle Szene des Paris von 1980 gehörig durcheinander gewürfelt gehabt haben wird. ‚Kristeva‘; ‚Foucault‘; ‚Derrida‘; ‚Sollers‘ schließlich nur noch abstrakte Repräsentanz kalt schimmernder Intelligenz, egozentrischer Selbstbespiegelung und macht- wie lustvoller Verführbarkeit bei passendem Preis. Auch auf dieser Ebene reflektiert Binet durchaus.

Hat man sich erst einmal daran gewöhnt, in einem Roman gnadenlos allen denkbaren Möglichkeiten ausgeliefert zu sein, ist man also durchaus gewillt, sich auf Binets gedankliches, theoretisches und personal-biographisches Experiment einzulassen. Der gibt sich wie gesehen auch weidlich Mühe, die Lektüre unterhaltsam zu gestalten. Doch verfängt und verliert er sich dann häufig in Naheliegendem, wird der Humor phasenweise unangenehm anzüglich, spürt man ab eines leider zu früh einsetzenden Zeitpunkts, daß dies eben nur EINE von etlichen – ja, folgte man Derrida: schier unendlichen – Möglichkeiten ist, wie sich ein Story wie diese entwickeln könnte. Irgendwann franst das aus und der Leser kommt nicht ganz umhin, Binets Abzweigung in den Metatext ein wenig dem Verdacht auszusetzen, daß ihm nichts mehr eingefallen ist, um seine Geschichte zu einem Ende zu bringen. Denn nimmt man den engeren Plot, handelt es sich um nichts weiter als eine durchschnittlich, manchmal viel zu grob gesponnene Agentenmär. Klassischer McGuffin: Eine dem Leser vorenthaltene Geheimformel, der an einer Stelle im Text die Macht zugeschrieben wird, mit ihrer Kraft ließe sich die „Weltherrschaft“ erringen. Drunter macht es dieser Roman nicht, was natürlich seinem inneren Wesen als ‚Roman‘ entspricht. Schon die Tatsache, daß Bayard Simon Herzog in einem Seminar über James Bond kennenlernt, deutet auf Binets Anordnung hin, sich gnadenlos sowohl hochintellektueller Theorien als auch bei Trivialmythen und manchmal irrer Spinnereien zu bedienen, um diesen ‚Roman‘ zu ver-wirklichen.

Da  geht so vieles in- und dann leider auch durcheinander, daß es zwar zunächst Spaß macht, die Fäden zu entwirren und Wahres von Falschem zu trennen, doch droht das alles dann irgendwann zu reiner ‚l´art pour l´art‘ zu verkommen, sämtliche Handlungsfäden scheinen ins erzählerische Nirgendwo zu führen, Figuren und ihre Beziehungen zueinander folgen entweder keiner psychologischen (oder dramaturgischen) Logik mehr oder aber einer nur wirklichen Intimkennern der damaligen Szene und den dort herrschenden Verbindungen erkenntlichen, was dann kaum mehr ins Gewicht fiele. Am Anfang, so scheint es, muß eine sehr abstrakte Idee – vielleicht vergleichbar dem ‚nouveau roman‘ der 1950er und 60er Jahre – gestanden haben, die in eine fiktiven Text überführt werden sollte, um die emotionale, die sensuelle Seite der Literatur zu berücksichtigen, die für einen Denker wie Roland Barthes natürlich nicht nur gegeben, sondern konstitutionell war (man vergleiche dazu bspw. seine Ausführungen zu de Sade[1]).

Solche Experimente gelingen ganz manchmal den ganz Großen. Aber auch die scheitern oft, meistens, an Ideen aus dem Bereich der Metatheorie. Binet, der das ganze sowohl als Schlüsselroman anlegt, der ununterbrochen in die Irre führt, wie auch als Politthriller, somit als Kommentar auf die abgehobene politische Klasse, vielleicht schon Kaste, die in Frankreich ja gerade erst ein Erdbeben erleben musste, Binet gehört sicher nicht zu diesen Großen. Lauter gute Ideen, schleicht sich der Gedanke immer wieder zwischen Leser und Lektüre, immer wieder Ansätze, die man eigentlich gern weiter verfolgt gesehen hätte – allein das Verhältnis von Geist und Macht, daß für einen Denker wie Foucault so wichtig gewesen ist, wäre schon eine genauere Betrachtung wert gewesen. Auch einen Schlüsselroman voller Klatsch und Tratsch würde man goutieren, wenn dieser denn mit Verve und Esprit vorgetragen wäre. Ein gut recherchierter Politthriller um die Wahl Mitterands? Warum nicht! Oder gar die Geschichte eines Denkers, der vielleicht an dem Spannungsverhältnis von Theorie und Wirklichkeit zu zerbrechen droht, wie es Barthes durchaus drohte? All diese Möglichkeiten schimmern neben den oben erwähnten, durchaus näher durchdachten, durch das textliche Geflecht und man fragt sich zwangsläufig, warum Laurent Binet sich ausgerechnet für die vorliegende Variante entschieden hat…

[1] Barthes, Roland: SADE, FOURIER, LOYOLA. Paris, 1971/dt. F.a.M.; 1974.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.