DIE VERDUNKELTEN/UN PEU TARD DANS LA SAISON

Jerôme Leroy bietet eine dialektisch aufbereitete Anti-Anti-Utopie

Gibt es eine Anti-Anti-Utopie? Kann aus der Apokalypse neue Hoffnung erwachsen? Können wir uns auf eine Dialektik davon verlassen, daß jedwede Bewegung eines Pendels zwangsläufig seine Gegenbewegung gebiert? Jerôme Leroy versucht sich in seinem Roman UN PEU TARD DANS LA SAISON (Originaltitel) von 2017 an nichts weniger als diesen Fragen. Und treibt die Frage nach der Dialektik, nach These und Antithese weit, weit voran. Dafür wählt er – ebenso bescheiden wie hintersinnig – eine Form, die es erlaubt, auf das Cover des Buchs das Etikett „Kriminalroman“ zu kleben. Da erwartet man nicht zuviel und wird dann mit einer Wucht getroffen, die lange nach Beendigung der Lektüre noch nachschwingt. Und die Bezeichnung „Kriminalroman“ hat dann in Bezug auf den Inhalt des Buches noch ihren ganz eigenen kleinen ironischen Dreh.

Wie in seinem Band LE BLOC (2011) lässt Leroy zwei Erzähler ihre Stimme erheben. In welchem Verhältnis sie zueinander stehen, darf nicht verraten werden und wird auch im Buch erst spät offenbart. Dann aber wird daraus eine weitere dialektische Falte des Textes, die es in sich hat und den Atem stocken lässt. Abwechselnd berichten uns also der Schriftsteller Guillaume Trimbert, Autor von Kriminalromanen, die sich keiner großen, aber einer feinen, ihn kultisch verehrenden Lesergemeinde erfreuen, und die Profikillerin Agnès Delvaux, die von ihrem Chef auf eine Reihe von Leuten angesetzt wird, die in gesellschaftlich relevanten Positionen stehen und plötzlich verschwinden, bzw. um den deutschen Titel des Buches zu zitieren: Sich verdunkeln. Delveaux verfolgt aber nebenher ihre eigene Agenda, wenn sie sich an  Trimberts Fersen haftet und ihm schließlich quer durch Frankreich nachsetzt, nachdem sie ihn Monate, ja Jahre observiert und ein fast obsessives Interesse an dem ehemaligen Linksaktivisten entwickelt hat.

Die französische Literatur gibt sich seit einigen Jahren der Lust am Untergang hin. Bekanntestes und durchtriebenstes Beispiel ist sicherlich Michel Houellebecqs Roman SOUMISSION (2015/dt.: UNTERWERFUNG), doch gibt es zahlreiche Werke der letzten Jahre, die genüsslich den Untergang der liberalen Gesellschaft in den unterschiedlichsten Facetten durchspielen. Leroy greift das Muster auf, dreht es allerdings nahezu um, bzw. denkt es rigoros weiter, immer in der Annahme, daß Gesellschaften nie gänzlich verschwinden oder sich auflösen. Agnès berichtet uns aus der Zukunft ca. des Jahres 2029, ihre Tochter ist zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt. Für sie schreibt sie jenen Teil des Textes, den wir durch ihre Stimme wahrnehmen. Sie will Rechenschaft ablegen. Und so erfahren wir, daß nach „den Anschlägen“ 2015 – womit Leroy auf das Massaker in den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift CHARLIE HEBDO sowie jenes am Abend des 13. November 2015 anspielt, als ein Terrorkommando die Konzerthalle Bataclan stürmte und dort unkontrolliert um sich schoß; an jenem Abend starben in Paris an die 130 Menschen bei Anschlägen an verschiedenen Orten der Stadt – Streiks und Unruhen ausbrachen. Diese Anschläge waren der Ausgangspunkt dafür, daß zunehmend Menschen verschwinden. Nicht entführt werden oder in dunklen Verliesen und fürchterlichen Gefängnissen verschwinden, sondern beschließen, auszusteigen, unsichtbar zu werden, zu  verdunkeln. Sie löschen ihre sozialen Accounts, werfen die Handys weg, holen ihr Geld von der Bank und – lösen sich praktisch auf.

Trimbert seinerseits wäre prädestiniert für dieses Verhalten, wie Delveaux weiß. Da sie heimlich seine Tage- und Notizbücher studiert hat, weiß sie um seine zutiefst melancholischen Gedanken. Es sind die Gedanken eines etwas über 50jährigen Mannes, der anfängt, sich an jene Tage seines Lebens zu erinnern, als er jung war, verliebt, voller Kraft und Tatendrang. Trimbert ist ein Melancholiker und zudem ein wahrer Nostalgiker. Er entspricht in vielem den Männern seiner Generation: Ende der 1950er, zu Beginn der 60er Jahr geboren, im Grunde in eine Zeit prosperierenden Wohlstands hinein und zudem jenen Jahren, die Aufbruch und gesellschaftliche Libertinage versprachen, wurden sie zu Linken, ohne wirklich dem Proletariat zu entstammen. Mittelklasselinke. Wie so viele, die sich nicht radikalisierten – Trimbert hat durchaus Freunde, die sich in der Anarcho- und Hausbesetzerszene tummelten – trat er den Gang durch die Institutionen an, wurde Lehrer in einer nordfranzösischen Arbeiterstadt, bevor er ersten Erfolg mit seinen Büchern hatte und zudem eine Mäzenin fand, die nicht viel von ihm verlangte, ihm dafür aber ein angenehmes Leben finanzierte. Denn wie viele Männer seiner Generation schätzt Trimbert auch das gute Leben, gutes Essen, guten Wein, vor allem gute Bücher. Er mag Jazz und Klassik und lebt gern in einem der angesagten Pariser Arrondissements. Und mit zunehmendem Alter erscheint ihm die Vergangenheit immer goldener. Jene Jahre, als er mit seiner ersten Frau nach  Portugal fuhr und sie am Meer und frei waren; die Treffen mit den Freunden; die durchzechten und durchtanzten Nächte; die Kämpfe in der Gewerkschaft und die Demos. Gedanken vieler Männer in der Midlife Crisis. Und je mehr Trimbert sich diesen „Reisen in die Vergangenheit“, wie er sie nennt, hingibt, desto mehr spürt er das Verlangen, zu gehen, aus der Welt, der Gesellschaft, zu scheiden, auszusteigen, unsichtbar und unerreichbar zu werden – Ebenfalls ein Gedanke und Wunsch, den er mit manchen seiner Generation (und vielen Männern um die 50) teilen mag.

Interessanterweise merkt er nicht – oder zu spät – daß genau das um ihn herum geschieht. Immer öfter und in immer größerer Zahl. Es gebiert also eine eher linke Generation eine eher rechte, gebiert aber eben der „rechte“ Neoliberalismus und sein Zwilling, die Hochtechnisierung, eine Gegenbewegung, die plötzlich wie ein Virus um sich greift, jedoch ohne Manifest, ohne eine erklärte „Bewegung“ zu sein. Es ist schlicht die Bewegung einer Gesellschaft, die sich besinnt. Oder ermattet. Vielleicht. Die technische An-Ordnung und Überwachtheit des scheinbaren neoliberalen Chaos mündet in einem ungeordneten Rückzug der Einzelnen, des Individuums, das sich wieder in die natürliche Ordnung der Welt einzugliedern versucht. Mit der Sonne aufstehen und mit der Dunkelheit zu Bette gehen. Gewalt gebiert Gewaltlosigkeit, links gebiert rechts und andersrum und immer entsteht dabei etwas, das eine Synthese und damit Hoffnung auf etwas Neues, etwas Funktionierendes, dem Menschen Gerechtes sein könnte.

Im Format eines Kriminalromans präsentiert Leroy ein kleines, inhaltlich wie formal dialektisches – also fast philosophisches – Werk, das sich weigert – bei aller Grausamkeit, die die geschilderte Welt enthält und eben auch in personam Agnès Delveaux bspw. gebiert – das Spiel der Apokalyptiker mitzuspielen. Das erinnert schon an die Werke eines Don DeLillo in seinen besten Zeiten. Weiß Gott, es ist an der Zeit, daß wir wieder anfangen, auch davon zu erzählen, wie wir den scheinbar so sehnlichst herbeigewünschten Untergang wenn nicht abwenden, so doch zumindest erträglich gestalten – oder gar überwinden können. Denn die Lust am Untergang führt am Ende eben nur in den Untergang. Wollen wir das? Leroy nimmt die Zeitenwende, von der alle reden, sehr ernst und enthält sich schon deshalb eines apokalyptischen Szenariums, wie es zum Beispiel die zahllosen Zombie-Romane der vergangenen Jahre bieten. Er weiß, daß der „Untergang“, so er denn kommt, auf leisen Sohlen kommt und erst nach und nach spürbar wird, nicht mit einem Knall und Hollywood-gerechten Spezialeffekten. Und er weiß, daß es die Dienste sind, die es als letzte merken. Bis in den hintersten Winkel versteht Leroy sein Werk mit diesen Widersprüchen der (Post)Moderne aufzuladen. Brillant.

 

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