DOCTOR SLEEP

Kings Nachfolger zu SHINING kann - leider - nicht überzeugen

Als das Gerücht aufkam, Stephen King arbeite an einer Fortsetzung von THE SHINING (1977), einem seiner frühen Großwerke, stellte sich bei Vielen eine Mischung aus freudiger Erwartung, banger Hoffnung und der Befürchtung ein, daß der große Meister aus Maine möglicherweise nicht mehr die Kraft, vielleicht auch nicht mehr den Willen hat, dahin zu gehen, wo es weh tut und wohin THE SHINING scheinbar so mühelos gelangte.

Als das lang erwartete Werk unter dem Namen DOCTOR SLEEP 2013 dann erschien, erwiesen sich die Befürchtungen durchaus als berechtigt. Die Erwartungen wurden in vielerlei Hinsicht enttäuscht und es bleibt die Hoffnung – die ja bekanntlich zuletzt stirbt – , daß King irgendwo doch noch ein wirklich großes Werk in sich trägt. Ob dieses Werk dann noch im Bereich Horror oder Fantasy anzusiedeln ist, wird man sehen. Solange er jedoch zwischen Erwartungshaltungen anderer und dem, was er offensichtlich von sich selber erwartet, schwankt, werden die Ergebnisse wahrscheinlich eher lau bleiben. So wie dieses Werk.

In einer wirklich atemberaubenden Szene zu Beginn des Buches begegnen wir Danny Torrance, dem Sohn von Jack Torrance, der Ende der 70er Jahre starb, als er im Overlook Hotel in Colorado von den Geistern, die das Hotel behauste und seinen eigenen Dämonen – darunter dem Dämon Alkohol – zugrunde gerichtet wurde. Danny – nun selbst Alkoholiker – flieht seine Vergangenheit, versucht, Zuflucht in der Betäubung zu finden und driftet durch ein Leben, das vollkommen aus den Fugen geraten scheint (wenn es denn je wirklich verfugt gewesen ist). Verschiedene Vorkommnisse bringen ihn schließlich nach Neuengland, wo er glücklicherweise auf die richtigen Menschen trifft, um seine Sucht zu überwinden und einen Job zu finden. Schließlich wird er Angestellter in einem Hospiz, wo er seine „besondere Begabung“ – eben jenes Shining, ein zweites Gesicht, daß ihn Vergangenheit, manchmal die Zukunft und andere mögliche Gegenwarten blicken lässt – dazu nutzt, Sterbenden den Weg „hinüber“ zu erleichtern. Eines Tages spürt er, daß ein junges Mädchen namens Abra in seine Gedanken eindringt, die offenbar über ein weitaus mächtigeres Shining verfügt, als er selber es je hatte. Und dieses Mädchen braucht Hilfe, ist sie doch in den Fokus einer Sekte geraten, die sich „Der Wahre Knoten“ nennt und davon lebt, Sterbenden, die über das Shining – und sei es noch so gering vorhanden – verfügen, den letzten Atem auszusaugen, den sie Steam nennen. Und diese Sekte, allen voran deren Anführerin Rose „the Hat“, wollen Abra fangen, sich gefügig machen und so Steam in Hülle und Fülle aus dem lebenden Objekt saugen. So also machen sich Dan Torrance und seine Freunde auf, Abra zu finden, ihr zu helfen und sich schließlich dem „Wahren Knoten“ zu stellen.

Man findet hier allerhand King-typische Wandlungen, einmal mehr hat man es mit manchmal grandios geschriebenen Dialogen zu tun, die Art und Weise, in der er uns die seit den Geschehnissen im Overlook Hotel vergangenen Jahre nahebringt, ist auch ein wunderbarer Gang durch die Geschichte Amerikas seit den späten 70er Jahren und die angerissenen Themen – auch dies typisch für den amerikanischen Erzähler par excellence – sind Legion und würden jedes einzelne sicherlich einen eigenen Roman wert sein. Allerdings mangelt es diesem Buch an etwas Entscheidendem: Spannung. Und Grusel. Und der Unbedingtheit, der Kompromißlosigkeit der Werke der frühen und mittleren Perioden in Kings Schaffen.

Die oben erwähnte Szene am Anfang des Buches, in der wir Dan Torrance einen üblen Kater ertragend dabei beobachten dürfen, wie er sich in die Niederungen menschlicher Würdelosigkeit begibt und einer Trunkenen und deren Kind das letzte Geld klaut, setzt eigentlich einen hohen Standard für das Folgende. Da ist sie, die Spannung, denn wir fragen uns, wie aus diesem zwar niedlichen, doch uns irgendwie auch fremden, fast unheimlichen  Kind, das den Horror des Overlook überlebte, das mit seiner Mutter Wendy die folgenden 25 Jahre, die vergangen sind, als die Handlung einsetzt, irgendwie verlebt hat, dieser bittere und auch schäbige Mann hat werden können. Wir betrachten ein Trinkerdrama, wie wir es kennen aus den Geschichten eines Joseph Roth, eines Ernest Hemingway oder eines Malcolm Lowry. Und schon da möchte man eigentlich meinen, daß das eine tolle Geschichte abgäbe: Die Story eines Verdammten, das Drama eines Verlorenen in einem Amerika, das immer gnadenloser wird nach den Geschehnissen des 11. September.

Doch King will (muß?) weiter. Also findet Danny sich in diesem Hospiz wieder. Dort hilft er mittels Shining den Sterbenden, sich von der Welt, dem Leben, zu lösen und die Angst vor dem Unbekannten, dem „Beyond“ zu überwinden. Das wäre eine Story! Was kann man mit dieser seherischen Fähigkeit, die so Vieles umschließt – Gedankenlesen, Geistersehen, Zukunft, Vergangenheit und das Jenseitige schauen – Nützliches anfangen? Erneut wäre dies eine Geschichte für sich. Doch Stephen King ist Stephen King und wir haben es immerhin mit der Fortsetzung eines modernen Klassikers der Gruselliteratur zu tun. Einem echten American Gothic, wenn man so will. Also muß King weiter und muß Erwartungen bedienen.

Und so serviert er uns eine Sekte, die sich am 11. September, wissend, was kommt, in New Jersey an die Kaimauer stellt und kräftig durchatmend Steam einsaugt, der von den Sterbenden in den Türmen freigesetzt wird; eine Sekte, die, da der Steam „reiner“ ist, wenn er unter Schmerz produziert wird, einen 13jährigen Jungen schrecklich foltert, damit der die entsprechenden Schmerzen erleidet und schließlich geradzu um seinen Tod fleht; eine Sekte, die in riesigen Wohnmobilen die Highways des Mittelwestens und der Great Plains durchmisst, immer auf der Suche nach dem nächsten Steam und dabei so reich ist, daß sie sich alles mögliche leisten können, denn sie sind nahezu unsterblich und haben immensen Wohlstand angehäuft in all den Jahrhunderten, die sie ihrer geheimen Existenz frönen. Wer King kennt und auch seine essayistischen Metabände über das Schreiben und sein Leben gelesen hat, weiß, daß er – wie viele Amerikaner seiner Generation – nahezu obsessiv an den Geschehnissen um den „Prediger“ Jim Jones und den Massenselbstmord seines „Peoples Temple“ in Jonestown, Guyana, im Jahr 1978 interessiert war/ist. Eine Sekte fehlte eigentlich noch in seinem Oeuvre, was hiermit dann erledigt wäre. Aber wie? Man möchte nicht vorgreifen und man möchte denen, die das Buch noch lesen wollen, den Spaß nicht nehmen, doch muß man sagen, daß diese Sekte in diesem Buch nicht eine Sekunde lang Angst einflößen kann, eher erregt sie Mitleid. Und die Auseinandersetzung zwischen Danny, Abra, deren Freunden und der Sekte wirkt nahezu pflichtschuldigst abgearbeitet. Mag sein, daß King sich da etwas von der Seele schreiben wollte, mag sein, daß er da ein eigenes Trauma abgearbeitet hat, jedenfalls hat er es auf eine fast comichafte Art und Weise getan.

Schon in seinem vorvorletzten Roman – DER ANSCHLAG (2012) – konnte man sehen, daß sein literarisches Streben eigentlich in eine ganz andere Richtung geht, als weiterhin dem Schrecken nachzujagen. In jenem Roman reist jemand in der Zeit zurück und versucht, das Kennedyattentat zu verhindern. King hat weder dem Genre der Zeitreise etwas Neues hinzuzufügen, auch den endlosen Verschwörungstheorien um das Attentat selbst weiß er nichts abzugewinnen oder beizumischen. Es blieb damals der schale Eindruck, daß es ihm eigentlich um eine Geschichte ging, die in den 50ern spielen sollte und ihm v.a. an einer Schilderung jener Jahre, die als „unschuldig“ galten, gelegen war. Sowohl der Zeitreisekniff als auch der Anlaß der Ermordung des Präsidenten, scheinen ihn eher marginal interessiert zu haben. Ähnlich ist es hier. Im Grunde möchte King eine Geschichte über Freundschaft erzählen und im Grunde – so zumindest ist der Eindruck – gehen ihm all die übernatürlichen Wendungen, all die Schrecknisse von jahrhundertealten Steam-Vampiren schlicht auf die Nerven. Und auch die blutigeren Momente sind bei weitem nicht mehr vergleichbar mit jenem Splatter, der uns z.B. in einem Werk wie DUDDITS (2001) geboten wurde. King wird offensichtlich milder…

Aber wer würde einen Roman lesen, in dem Stephen King sich einfach des Themas „Alkoholismus“ annähme und schlicht die Geschichte eines Säufers erzählte? Wer läse eine Geschichte vollkommen ohne Geister, Horror, Schleim und Blut, die einfach davon erzählt, wie jemand eine ihm eigene Fähigkeit nutzt, die – so wird im Buch immer wieder erwähnt und betont – im Grunde recht weit verbreitet, lediglich bei einigen derart heftig ausgeprägt ist? Wer würde einen Roman dieses Autors lesen, der einfach nur von Freundschaft und ihren Fallstricken erzählt? Ohne Tote, wie es sie bspw. FALL FROM INNOCENCE (1982), der Vorlage für den Rob-Reiner-Film STAND BY ME (1986), noch brauchte? Wahrscheinlich nur die wenigsten. Obwohl – das sei an dieser Stelle ausdrücklich gesagt und betont – gerade eine solche Geschichte von King durchaus von Interesse sein könnte.

Es ist vollkommen in Ordnung, wenn sich ein einstmals junger und in seinen ganz eigenen Schrecknissen verfangener Autor, der eine Imagination des Bösen und Schrecklichen hatte, die ihresgleichen suchte, auf seine alten Tage, die einfach auch nicht mehr derart bedrohlich sind, jetzt, da die Millionen fließen, von den alten Inhalten abwendet und neue thematische Felder sucht. Vielleicht ist King einfach nicht mehr nach Horror, Schrecken und Gewalt? Vielleicht ist ihm weitaus mehr danach, eine amerikanische Idylle zu suchen, zu beschreiben, von der nicht nur er, der liberale, eher linke Autor der wilden, bedrohlichen und paranoiden 70er Jahre meint, sie sei einmal vorhanden gewesen und könne zumindest in der Kunst noch beschworen werden. Seit einiger Zeit hat man den Eindruck, King möchte so etwas wie der literarische Norman Rockwell unserer Zeit werden. So, wie man beim Maler der Idylle, der aber durchaus ein Bewußtsein für die Dringlichkeiten seiner Zeit hatte, nie recht weiß, ob er das, was er da malte, eigentlich wirklich ernst meinte oder ob man es mit einer äußerst subtilen Karikatur zu tun hatte, so weiß man bei King nie so recht, ob man es nicht eigentlich mit einem Autoren zu tun hat, der zwar durchaus die Dringlichkeiten seiner Zeit sieht, versteht und in seinen guten Momenten in düstere Sprachbilder verwandeln kann, der aber eigentlich viel lieber von dem Apfelkuchen erzählen würde, der in seiner Kindheit immer sonntags auf dem Fensterbrett in der Küche stand und abkühlte, bis er am Nachmittag von der Familie gemeinsam verspeist wurde.

Es gab eine Zeit, da hatte King das Format, das eine im anderen zu spiegeln. Da waren seine fast schamanischen Beschwörungen von Freundschaft – oft auch über die Generationen hinweg – eine Notwendigkeit dieser Literatur, denn die Bedrohungen wirkten oft so übermächtig, daß man wirklich Angst um die Protagonisten hatte. Da waren die Dick Hallorans oder die Freundesgruppen in einigen seiner Werke zwar ebenfalls oft maximal gütige Freunde und Gemeinschaften, doch sie wirkten nicht aufgesetzt und auch nicht selbstzweckhaft. Notwendigkeiten, wie gesagt. Das waren die Zeiten von SHINING, FRIEDHOF DER KUSCHELTIERE (1983), von dem immer noch viele sagen, sie hätten es nicht zuende lesen können, es sei das beängstigendste Buch, das sie je in Händen hielten, die Zeiten von ES (1986). Und auch später noch, in STARK – THE DARK HALF (1989) oder SARA (1998) gelangen ihm noch Momente düsterster Bedrohlichkeit und Verlorenheit, gepaart mit der Wärme für die Protagonisten und ihre Bedürfnisse. Doch seit ca. 15 Jahren scheint ihn der Horror verlassen zu haben und die Bedrohungen in seinen Büchern werden in gewisser Weise immer schwächer, manchmal muten sie geradezu lustig an. Mittlerweile wird er dafür immer besser, wenn es darum geht, ganz herkömmliche menschliche Bösartigkeit zu beschreiben, weshalb ein Werk wie DIE ARENA (2009) zu den besten Sachen gehört, die King in den letzten 20 Jahren geschrieben hat, DER ANSCHLAG oder DOCTOR SLEEP jedoch einfach nur unter „ferner liefen“ verbucht werden. Das ist schade, denn gerade von diesen beiden Werken hatte man sich doch viel versprochen.

Und dennoch: Wer mit King aufgewachsen ist, wer durch King das Fürchten gelernt hat, der wird ihm die Stange halten und alle paar Jahre bereit sein, wieder 600 bis 800 Seiten des Meisters aus Maine zu lesen, und wenn es wieder nicht funkt, weiter zu warten. Es wird noch etwas kommen, ein großes Werk, ein letztes großes Werk, und alle werden sagen: Also doch!

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