EINE GESCHICHTE DER WÖLFE/HISTORY OF WOLVES

Ein erstaunlicher Debütroman

Wie weit trägt Loyalität? Was ist das eigentlich – Loyalität? Wie kann ich begangenes – oder nur empfundenes – Unrecht durch Taten in anderen Zusammenhängen ausgleichen? Wie tief durchdringt mein Gewissen mein Leben und bedingt dessen Verlauf? Es sind Fragen wie diese, die Emily Fridlund in ihrem Debütroman EINE GESCHICHTE DER WÖLFE (Original: HISTORY OF WOLVES; 2016) aufwirft und (fast) durchgängig auf brillante Art und Weise zu verhandeln weiß.

Die fünfzehnjährige Linda lebt mit ihren Eltern im Seendistrikt des nördlichen Minnesota. Sie bilden die Überreste einer Hippiekommune, die sich hier zu Beginn der 80er Jahre angesiedelt hatte. Das Mädchen ist eine hervorragende Beobachterin, allerdings gilt sie als „Freak“ und Außenseiterin an ihrer Highschool. Als auf der anderen Seite des Sees, an dem sie lebt, eine junge Familie ihr Sommerhaus bezieht, freundet Linda sich mit der Mutter Patra an und wird die Babysitterin des 4jährigen Paul. Leo, der Vater Pauls und Gatte Patras, ein Astrophysiker und Anhänger der „Christian Science“, der an der Westküste unterrichtet, kommt nach Monaten heim und entpuppt sich als strenger, fordernder Patriarch. An einem Wochenende, das Linda mit der Familie in Duluth am Lake Superior verbringt, erkrankt Paul zusehends und Linda ist sich sicher, daß er ärztliche Hilfe braucht, die aber weder Leo noch Patra zu gewähren bereit sind, obwohl sich Linda nicht einmal darüber sicher ist…

Praktisch von der ersten Zeile an gelingt es Fridlund, die Linda die Geschehnisse aus deren subjektiver Perspektive berichten lässt, eine extrem unangenehme, fast bedrohliche Atmosphäre zu kreieren, die sowohl die Erzählerin, mehr noch jedoch alle andere Protagonisten dem Leser stark distanziert und entfremdet. Unangenehm berührt, jede neue Seite geradezu fürchtend, folgt man Lindas Bericht, der nicht chronologisch angelegt ist, sondern zwischen mehreren Zeitebenen hin und her springt, mal vorauseilt und die Einflüsse dessen, was in jenem Sommer geschah, auf ihr späteres Leben thematisiert, mal in frühere Vergangenheiten zurückspringt, um ihren eigenen Werdegang, ihren Sozialisationsprozeß in einem eher ungewöhnlichen Umfeld und ihr entfremdetes Verhältnis vor allem zu ihrer Mutter zu erläutern. Schon dieses Verhältnis wäre eine eigene Story wert und es ist beeindruckend, wie Fridlund es – mit einigen wenigen, aber ausgesprochen treffenden Strichen – eher skizziert denn beschreibt. Parallel zu den oben umrissenen Hauptereignissen, berichtet Linda dem Leser von ihrem Geschichtslehrer Mr. Grierson, der, aufgrund seiner Vorgeschichte in Kalifornien, ein geeignetes Opfer für Lindas Klassenkameradin Lily abgibt, als die eine Erklärung für eine ungewollte Schwangerschaft braucht. So doppelt sich Schuld und für Linda bleibt es eine lebenslange Frage, ob ihr Verhalten im einen Fall und jenes im anderen sich aufheben? Kann man Schuld – und sei sie nur empfunden – mit einer anderen Tat, an der man nun vollkommen unschuldig ist, aufwiegen?

Im Spannungsverhältnis zwischen ihren freundschaftlichen Gefühlen vor allem zu Patra, die im Grunde Lindas erste und einzige echte Vertraute ist, und den von ihr lediglich aus der Beobachterposition wahrgenommenen Ereignisse an ihrer Schule, entsteht ein auch für den Leser zusehends unerträgliches Geflecht aus Verantwortungslosigkeit, vielleicht echter  Schuld, aus Hilflosigkeit – gespeist aus Unwissen – und möglicherweise falsch verstandener Loyalität mit einer Freundin und deren Glaubenssystem, das der pubertierenden Linda vollkommen fremd ist. Es hat schon literarische Finesse, wie es gelingt, Lindas Verstörung, bei gleichzeitiger Anhänglichkeit an die neu gefundene Freundin, zu erklären, diese junge Frau dabei ebenso verständnisvoll wie durchaus unsympathisch in ihren egoistischen Motiven zu porträtieren. Dabei lässt Fridlund Linda vor allem eins sein: Gnadenlos ehrlich in ihrer Reflektion. Ihre Unterlassungen in jungen Jahren bestimmen später ihr Leben sowohl beruflich als auch privat. In beiden Feldern verweigert sie sich möglichem Glück, um in seltsam abstrakter Weise Buße zu tun für ein Vergehen, das nicht ihres war. Und das, obwohl sie anhand ihrer Versuche, in Mr. Griersons Fall etwas Richtiges zu tun, längst erfahren hat, daß die Dinge nicht gegeneinander aufzurechnen sind. Erst recht nicht, wenn sie sich derart diffizil darstellen, wie in diesen beiden Fällen.

Sprachlich wird das – an dieser Stelle sei die Leistung des Übersetzers Stephan Johann Kleiner gewürdigt – einerseits fast spröde, zugleich aber mit einer manchmal schmerzhaften Eindringlichkeit dargeboten, die erstaunt bei einer Debütautorin, zumindest was den Roman betrifft. Fridlund hatte zwar bereits etliche Kurzgeschichten veröffentlicht, doch ist dies ihr erster Text in Langform. Das ist vor allem im Mittelteil zu spüren, der im Vergleich zum atemberaubenden Beginn und dem Schlußteil, wenn sie wieder anzieht und in die Spur findet, ein wenig abfällt. Überdeutlich versucht die Autorin uns die seltsame bis beunruhigende Stimmung zwischen Patra und Leo, auf Kosten des kleinen Paul, den Fridlund sehr gekonnt als ebenso faszinierendes wie enervierendes Kind beschreibt, zu vermitteln. Fast möchte man ihr zurufen: Halte ein! Genug! Ich habs kapiert! Zugleich gelingen ihr Momente, die kaum auszuhalten sind, kaum erträglich, denen man sich stellt und doch nach jedem Absatz das Buch sinken lässt, weil man fürchtet, was einen als nächstes erwartet. Unerträglich die Lähmung, die alle im Angesicht einer Krankheit zu befallen scheint, unerträglich die Unentschiedenheit einer Mutter, die einem Gatten, zugleich ihrem Guru, hörig ist und dennoch „das Beste“ für ihr Kind will, kaum auszuhalten Lindas sowohl ihrer Unerfahrenheit wie ihrer Liebe zu Patra geschuldetem reglosen Verharren, in dem sie durchaus spürt, daß alle Hilfe bald zu spät kommen wird. Und ebenso unerträglich schließlich die Mißachtung, mit der ihre früheren Freunde sie für ihr Verhalten später, vor Gericht, strafen. Ein junger, unfertiger Mensch, neben den herkömmlichen Entwicklungsbedingungen noch durch die Besonderheiten seines Zuhauses zusätzlich verunsicherter Mensch wird hier zerrieben zwischen Ansprüchen, Forderungen und Erwartungen, denen er schlicht nicht gerecht werden kann. Und zwischen denen er versucht, den eigenen Wünschen, Erwartungen und Ansprüchen gerecht  zu werden. Ein kaum mehr entwirrbares Geflecht emotionaler Abhängigkeit tut sich vor dem Leser auf.

Die Überkonstruiertheit des gesamten Plots sei an dieser Stelle durchaus kritisch erwähnt. Das vereinzelte, vereinsamte Hippiekind, eine unheimliche Familie, die einer seltsamen und uns Europäern eh sehr fremden Religion, eher einer Sekte, angehört, ein scheinbar schuldiger Lehrer, eine Schülerin, die sich dessen Schwäche zunutze macht – es sind arg viele eher unübliche Details, die hier zusammenkommen, um eine spezifische Situation zu kreieren, die wiederum das gesamte Leben der jungen Linda bestimmen wird. Doch wie Fridlund dann dieses Leben umreißt, es sich entwickeln lässt und dem Leser mit all den Beschädigungen präsentiert, das hat seine Art und überzeugt. Vor allem die Metaebene überzeugt, auf der die erwachsene Linda, ohne sonderlich zu dramatisieren, über das falsche Verhalten in der richtigen Situation und das richtige Verhalten in der falschen Situation, das Abwägen begangener gegenüber gefühlter Schuld reflektiert. Und trifft den Leser auf äußerst schmerzhafte Weise.

EINE GESCHICHTE DER WÖLFE kann man getrost zu jenen Werken zählen, denen es gelingt, dem Leser etwas über die Bedingungen des Daseins, die ‚Conditio humana‘,  zu erzählen, ohne dabei aufdringlich oder gar belehrend zu werden. Ruhig, distanziert, wenig dramatisch aber ausgesprochen genau und treffsicher lässt Emily Fridlund aus der Perspektive der jungen und später nicht mehr ganz so jungen Linda die Passion eines kleinen Jungen vor unseren Augen ablaufen und die Folgen, die es für ein Leben hat, wenn man – und sei es aus jugendlicher Unwissenheit – nicht tut, was man hätte tun müssen. Die Beschädigungen eines Lebens, dargeboten als großartige Literatur.

 

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