MONTANA/FOURTH OF JULY CREEK

Smith Henderson entführt den Leser in ein beklemmendes MONTANA

In den Weiten des westlichen Montana spielt sich eine moderne Hiob-Geschichte ab, die Smith Henderson seinen Lesern auf gut 600 Seiten präsentiert. Hier, wo quantitativ die wenigsten Menschen der U.S.A. pro Quadratkilometer leben, kann sich der Einzelne in den Bergen, der Steppe und dem Grasland verlieren, bzw. verstecken. Hier tut der Sozialarbeiter Pete Snow in den Jahren 1979, 1980, 1981ff. seinen Dienst.

Snow ist ein Trinker, der, als er begriffen hat, daß seine Frau ihn betrügt, die Familie verlassen hat und sich in Tenmile, einem Kaff im äußersten Nordwesten des Staates, verkrochen hat. Er kümmert sich um sozial schwache Familien, vor allem um die Kinder. Er betreut den aggressiven Cecil, dessen Mutter und Schwester, er kümmert sich um diverse Jungs, die auf die schiefe Bahn zu geraten drohen, er legt tagtäglich enorme Wege zurück, um seine Klientel zu erreichen. Er lernt die Kollegin Mary kennen und lieben und verliert sie wieder, als er mit ihren ureigenen Dämonen konfrontiert wird. Sein Bruder, ein Flüchtling vor dem Gesetz, bringt ihn in Schwierigkeiten, als sein Bewährungshelfer auftaucht. Und eines Tages wird Pete mit einem Jungen namens Benjamin konfrontiert, der sich an der örtlichen Grundschule rumdrückt. Als er den Jungen aufgreift und zur Rede stellt, stellt sich heraus, daß der Kerl mit seinem Vater in der Wildnis lebt. Schließlich lernt Pete auch Jeremiah Pearl selbst kennen. Ein Aussteiger, ein Wirrkopf, voller antisemitischer, rassistischer Verschwörungstheorien, voller Hass auf die bürgerliche Gesellschaft und vor allem gefangen in einem grausamen und brutalen Glaubenssystem. Pete versucht, das Vertrauen des Jungen und schließlich auch des Vaters zu erlangen, doch als seine Exfrau, die mittlerweile in Texas lebt, ihn anruft und ihm mitteilt, daß die gemeinsame Tochter, Rachel, ausgebüxt und irgendwo in den Weiten des Kontinents verloren gegangen ist, verliert Pete endgültig seinen Halt. Ab nun kommt eins zum andern: Er vernachlässigt seinen Job, um seine Tochter zu suchen, er trinkt immer mehr und immer heftiger, er verliert sein Heim, als es abgefackelt wird. Und den Kontakt zu seinen Klienten verliert er ebenfalls, was für einige – Cecil und seine Schwester bspw. – fatale Folgen hat.

Henderson unterbricht seine in leicht distanziertem Ton erzählte Geschichte regelmäßig, um ein nie näher spezifiziertes Gespräch wider zu geben, welches zwischen Rachel, Petes Tochter, die sich aber nun Rose nennt, und einer nicht näher beschriebenen Institution (vielleicht Rachel selbst?) stattfindet und uns Aufschluß darüber gibt, wie der Weg des Mädchens auf die Straße, in die Prostitution und die Drogensucht führt. Da doppelt sich also einerseits das Schicksal des Vaters, eines Drifters, der immer auf der Flucht vor etwas ist, das er nie näher bestimmen kann, andererseits verdeutlicht es seine Tragik umso mehr, denn es gelingt ihm, dem Retter der Hilflosen und Entrechteten, nicht, seine eigene Tochter oder  gar die Familie zu retten.

Man muß Henderson hoch anrechnen, daß er seine Geschichte weder mit einem Happy End ausstattet, noch zu zuckersüßen Momenten greift, die es dem Leser erträglicher machen, sich dieser Häufung menschlicher Abgründe und Schmerzen zu stellen. Wie Willy Vlautin in THE FREE und viele andere Autoren momentan, malt auch Henderson ein Bild der U.S.A., das es in sich hat: Ein Land, das vor die Hunde geht, in dem Armut und  Hass grassieren, in welchem man alles versuchen und dennoch gnadenlos untergehen kann. Der Rückgriff auf jene Jahre, in denen Ronald Reagan die Macht erlangte und Amerika in eine fürchterliche Rezession und Massenverelendung führte zugunsten einiger weniger Superreicher, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Henderson, dessen im Original FOURTH OF JULY CREEK betitelter Roman 2014 erschien, auch auf die Gegenwart zielt.

Dieser Pete Snow, der, voller Mitgefühl, bereit ist, bis zum Äußersten für seine Klienten zu gehen, ist eine sehr lebensnahe Figur einerseits, zugleich aber ein literarisches Symbol. Anfangs wurde es erwähnt, dies ist eine moderne Hiobs-Geschichte. Anders, als in der klassischen Bibelerzählung, wird Hiob allerdings nicht Opfer einer furchtbaren Wette seines Schöpfers und dessen Widersachers, sondern letztlich seiner eigenen Schwächen. Weder hat er seinen Alkoholkonsum im Griff (und Henderson bietet einige ebenso abstoßende wie gelungene Darstellungen eines Suff-Absturzes), noch kommt er mit seinen Gefühlen hinsichtlich seiner Frau, seiner Freundin, seiner Tochter und letztlich auch nicht hinsichtlich seiner Klienten klar. Er begibt sich zwischenzeitlich auf ausgedehnte, manchmal tagelange Sauftouren, er wird handgreiflich gegen einen Schutzbefohlenen, er flieht die Frau, die ihm – vielleicht – ein Heim hätte bieten können, wenn er mit ihren ureigenen Zerstörungen und den daraus resultierenden Anomalitäten klar kommen könnte. Doch Pete Snow ist bei aller Belesenheit, bei aller Bildung und theoretischen Kenntnis der seelischen Abgründe seiner Klientel eben auch nicht in der Lage, den eigenen Dämonen zu entkommen. Daß er sich schließlich auf Jeremiah Pearl und dessen Sohn Benjamin wie auf sonst niemanden  einlässt, kann als Ausdruck seines Leidens an der Welt gedeutet werden.

Henderson greift nicht von ungefähr zu den Doppelungsmotiven, die er geradezu dialektisch anordnet: Ein Vater, der den Sohn eines anderen Vaters zu retten sucht, während er seine Tochter (sic!) nicht zu retten versteht, der aber zudem auch Ersatzvater eines vollkommen enthemmten Jugendlichen (Cecil) ist, den er nicht in den Griff bekommt und schließlich einfach in ein Leben entlässt, das geradezu zwangsläufig von Gewalt und Kriminalität geprägt werden wird, dessen eigener Vater im Laufe der Handlung stirbt – Pete Snow muß symbolsich für das Scheitern und den Verlust stehen, den das ganze Land erleidet, als die Reaktion sich seiner bemächtigt.

Ein packendes Buch, keine Frage. Allerdings hinterlässt es – gerade in Zeiten, in denen mit Donald Trump eine Art Wiedergänger des „Großen Kommunikators“ Reagan das Weiße Haus erobert hat – hier und da auch Ratlosigkeit. Einmal davon abgesehen, daß die Arbeit eines Sozialarbeiters bei der Jugendhilfe im Staate Montana sich nicht grundlegend von der eines Jugendamtsmitarbeiters in Wanne-Eickel unterscheidet, außer daß die zurückzulegenden Strecken zwischen den Klienten eben weiter sind, und somit nicht ganz ersichtlich wird, warum man sich nun gerade für die Erlebnisse eines solchen erwärmen sollte, liegt der Grund für die Ratlosigkeit in der Geschichte um die Pearls in diesem Typen begründet. Je mehr sich von der Familiengeschichte entblättert, je besser Pete Snow Benjamin kennen lernt, desto besser verstehen wir die Verstocktheit dieses Typen. Auf einer psychologischen Ebene. Doch inhaltlich?

Da der Roman in Deutschland nun gerade mit diesem Handlungsstrang beworben wird, sollte man diesen dann auch hervorheben. Nicht von ungefähr erinnert Jeremiah Pearl an Ted Kaczynski, jenen Mann, der einst als „Unabomber“ Angst und Schrecken unter Professoren und Postangestellten verbreitete, verschickte er seine Sprengwaffen doch bevorzugt als Brief und meist an Hochschullehrer, denen er verschiedene Verfehlungen wissenschaftlicher Art hinsichtlich des Klimawandels etc. vorwarf. Kaczynski bezeichnete sich selbst als Anarchisten, er war ein Mathematiker, der einst eine brillante Karriere vor sich hatte und sich dann gegen die Errungenschaften der modernen Technologie wandte, die er sehr genau verstand. Sein „Manifest“ wird allgemein als ein zwar manchmal wirres, doch durchaus ernst zu nehmendes Traktat zur Auswirkung zunehmender Technisierung betrachtet. Dem „Unabomber“ warf man seine Methoden, weniger seine Motivlage vor. Von alldem ist bei Jeremiah Pearl nichts geblieben. Er erinnert eher an die Mitglieder jener hochgerüsteten Milizen, die sich gerade in die Weiten und die Wildnis der wenig besiedelten Staaten – wie Montana – zurückgezogen haben und zuletzt maßgeblich für den Wahlsieg des kommenden amerikanischen Präsidenten mitverantwortlich zeichnen. Doch ist Pearl Opfer einer nahezu besessenen Liebe zu einer Frau, die einer rigiden Religion anhängt. Seine Entwicklung als ideologisch denkender Mensch wird hier zur Folge eines an Wahn grenzenden privaten Verlustschmerzes. Lesen wir in Snows Fall das Private als politische Metapher, kehrt sich dies bei Pearl um: Hier wird das Ideologische plötzlich im Privaten verortet. Henderson bringt viel Verständnis auf für diesen Mann. Etwas verschüchtert werden dessen menschenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Auslassungen zwar immer wieder erwähnt, ein, zweimal im Roman werden wir auch direkte Zeugen dieser Ausbrüche, doch nutzt der Autor sie eher als klischeehafte Charakterisierung, statt sich mit diesen Positionen auseinander zu setzen. Als müsse man den Antisemitismus eines „Mann aus den Bergen“ einfach nicht so ernst nehmen. Eine gefährliche, ja, schon fatale Haltung.

Doch bleibt am Ende der Lektüre doch Pete Snows verzweifelter Kampf um sein Seelenheil in Erinnerung, denn Pearls innerer Kern. Zumal Henderson sich durchaus Mühe gibt, Pearl als vollkommen unberechenbar zu skizzieren. Nein, man muß MONTANA Größe bescheinigen. Es weist Mängel auf, es ist vielleicht ein wenig zu lang, manchmal wirkt die Geschichte ein wenig banal. Doch merkt man dann, am Ende der Lektüre, weshalb es dann doch genau so ziemlich richtig war. Ein Buch, das nichts beschönigt, stringent und klar seine Geschichte erzählt, ein Buch, das genau hinschaut und das Bild eines Amerikas malt, das zwar nunmehr fast 40 Jahre zurückliegt, dessen damalige Entwicklung uns aber sehr viel über das Amerika von heute verraten kann. Eine Art Schlüsselroman, wenn man so will.

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