GOTT, HILF DEM KIND/GOD HELP THE CHILD

Ein abrundendes Alterswerk von Toni Morrison

Liest man die zuletzt erschienen Werke solcher Großmeister wie Umberto Eco, Don De Lillo oder Mario Vargas Llosa, fällt auf, daß sie alle darauf verzichtet haben, Romane vorzulegen, deren Umfang auf Hunderten von Seiten ausgebreitet wird. Vielleicht spüren sie, daß sie in der ihnen verbleibenden Zeit nicht mehr die Kraft für einen großen Wurf, ein weites Panorama, die lange Strecke haben? Günter Grass sagte einige Jahre vor seinem Tod, er spüre noch einen großen Roman in sich, wisse aber nicht, ob er Zeit und Kraft habe, den auch aus sich heraus zu bringen. Die mittlerweile 86jährige Toni Morrison, Amerikas große alte Dame der Weltliteratur, mag schon länger so denken, an Kraft verlieren ihre Bücher durch die Kürze, die sie mittlerweile fast alle haben, nicht. Vielleicht kommt auch hinzu, daß man vielleicht immer weniger Worte braucht, um immer mehr zu sagen – eine Fähigkeit, die vielleicht nur den Besten am Ende einer langen Karriere vergönnt ist.

GOD HELP THE CHILD (Original), erschienen 2015, fand geteilte Resonanz bei Kritik und Publikum. War es den einen Beweis für die außergewöhnliche Stellung, die Morrison unter den lebenden Schriftstellern einnimmt, Ausweis ihres Ausnahmetalents, geriet es den andern zu süßlich, wirkten Morrisons oft ebenso einfachen wie treffenden Sätze hier angeblich doch, als wollten sie eher verschleiern als den Finger in die Wunde des Rassismus legen. Wahr ist, daß dieses sicher zu den eher versöhnlichen Werken der Autorin gehört. Und wahr ist auch, daß es sicher nicht der Roman ist, mit dem zukünftige Generationen von Lesern in deren Gesamtwerk einsteigen sollten. Doch sollte man als Leser (und Kritiker) nicht den Fehler machen, hier Altersmilde oder – vereinzelt war das zu lesen – gar Kitsch zu unterstellen, nur weil sich eine Autorin, die deutlich näher am Ende ihrer Karriere steht, denn an deren Beginn, erlaubt, basierend auf dem Sockel von zehn Romanen, etlichen Kurzgeschichten und einigen Sachbüchern, die eine Haltung, eine Fragestellung und eine klare, tiefschürfende Analyse der Historie Amerikas ausgearbeitet haben, eine Variation, eine andere Möglichkeit, einen anderen Ausweg aufzuzeigen.

In einem Gemisch aus unterschiedlichen subjektiven, erzählenden Stimmen und Teilen einer auktorialen Erzählung, berichtet uns Toni Morrison von dem Leben Lula Anns, die so „pechschwarz“ auf die Welt kommt, daß ihr Vater umgehend sie und die Mutter, genannt ‚Sweetness‘, verlässt, glaubt er doch keinesfalls, daß dies sein Kind sein könnte. Sweetness erzieht die Tochter mit äußerster Härte und ohne Liebe, da sie das Kind einerseits selbst ablehnt, andererseits der Auffassung ist, daß ein derart dunkelhäutiges Kind im Leben eh niemals Glück wird haben können, was eine harte Gangart als Vorbereitung auf ein freudloses Dasein nur angemessen erscheinen lässt. Die erwachsene Lula Ann begegnet uns erneut, nun unter dem Namen ‚Bride‘, als ebenso schöne wie erfolgreiche Geschäftsfrau an der Westküste, wo sie in einer Kosmetikfirma Abteilungsleiterin ist. Soeben von ihrem Freund verlassen, versucht sie sich als Helferin für eine Frau, die sie als Kind schwerer Vergehen im Kindergarten beschuldigt und dadurch ins Gefängnis gebracht hatte und die nun entlassen wird. Doch die Wiederbegegnung wird für Bride eine schmerzhafte. Nicht nur schwer verletzt durch einen brutalen Angriff der Frau, sondern auch in ihrer puren Eitelkeit gekränkt, macht sich Bride auf den Weg, Booker, den Mann, der sie verlassen hat, zu suchen und zur Rede zur stellen, denn, so wirft sie ihm schließlich entgegen, man müsse sie nicht lieben, aber respektieren, das müsse man sie. Doch zu diesem Zeitpunkt ist sie innerlich längst durch eine Art Läuterung gegangen, musste sich sowohl der Frage danach stellen, ob die Beurteilung der Realität ausschließlich aus ihrer Warte wirklich überzeugend ist, als auch der Erkenntnis, daß sie sich in ihrem bisherigen Leben selten bis nie ernsthaften Fragen nach ihrem eigenen Hintergrund gestellt hat. Äußerlich manifestiert sich diese Wandlung im wirklichen oder vermeintlichen Verlust der Attribute ihrer Weiblichkeit – Schamhaar, Ohrlöcher und schließlich ihre Brüste verschwinden nach und nach. In der Begegnung mit vollkommen anderen Menschen, weißen wie schwarzen, die ihr Leben in weitaus schlichteren Verhältnissen fristen und dabei weitaus glücklicher wirken, als sie, lernt Bride, sich selbst und ihre Umwelt noch einmal neu zu betrachten und zu beurteilen.

Ein Happy End? Man mag es so  lesen. Das, was wie ein Happy End aussieht, wurde Morrison als Verherrlichung herrschender Umstände, mangelnder Schärfe und Kitsch ausgelegt. Doch sollte man – ohne hier zu viel verraten zu wollen – gerade  die letzten Seiten des Buches einige Male und sehr, sehr genau lesen und sich im Bewußtsein dessen, was da unaufgeregt auf gut 200 Seiten vor dem Leser ausgebreitet wurde, überlegen, ob man es wirklich mit einem Happy End zu tun hat. Das zu beurteilen liegt aber wahrscheinlich im Auge des Betrachters und ist stark von dessen eigenen Lebenserfahrungen abhängig. Fakt ist: In Morrisons oft sehr düsteren Kosmos (und wie sollte er auch anders sein bei ihren Lebensthemen?) kommt es selten vor, daß die Figuren Erlösung  erfahren. Davon kann man hier in zumindest einem Fall allerdings durchaus sprechen. Doch warum sollte man, mit Werken wie THE BLUEST EYE, TAR BABY oder BELOVED als Fundament, in einem fast biblischen Alter am Ende der Karriere, nicht einmal testen, wie es sich anfühlt, diese Figuren an ein anderes Ende gelangen zu lassen, als es die Geschichte vorzusehen scheint. Hinzu kommt, daß uns die Autorin in den allermeisten Fällen – von Bride, ihrer Freundin und einigen Begegnungen einmal abgesehen – fast immer im Dunkeln darüber lässt, ob wir es mit Farbigen oder Weißen zu tun haben. Wie im Werk von Jesmyn Ward und anderen jüngeren schwarzen Autorinnen und Autoren, wird damit die Unbedingtheit der Trennung der Rassen zumindest momentweise aufgehoben, richtet sich diese Literatur zwar immer noch an ein Publikum, daß sich der eigenen Hautfarbe und der Position, die diese dem Leser im Leben zuordnet, schmerzlich bewusst sein muß, das aber durchaus im Bewußtsein liest, selber deutliche Schritte voran gemacht zu haben auf einem Weg, der hoffentlich irgendwann zu einer Aussöhnung eines der größten und gröbsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte führen wird.

Es bleibt, will man denn unbedingt danach suchen, durchaus Kritikwürdiges zu beanstanden. Sicher sind die Figuren in der Tiefe nicht wirklich ausgeleuchtet oder durchdrungen, erscheinen also zu oberflächlich; natürlich sind die Begegnungen, die Morrison ihrer Hauptfigur angedeihen lässt, ausschließlich und deutlich spürbar nur für ihren schriftstellerischen Bedarf gewählt; sicher spart sie Brides Werdegang aus und stellt es wie eine Selbstverständlichkeit hin, wenn diese in vergleichsweise jungen Jahren aus prekären sozialen Verhältnissen zu Reichtum und sozialem Ansehen aufsteigt. Doch warum ist es einer Autorin, die nun selber massiv dazu beigetragen hat, überhaupt erst ein gesellschaftliches Bewußtsein für die Lage der Schwarzen, die Lage nicht-weißer Minderheiten generell zu schaffen, nicht erlaubt, darauf bauend, daß ihre Leser um diese ihre Verdienste wissen, die Schilderung der Härte dieses Aufstiegs auszulassen (was sie keineswegs tut, durchaus deutet der Roman an, was es für schwarze Frauen in Amerika bedeutet, überhaupt auf- und auszubrechen; in gewissem Sinne ist das sogar das eigentliche Thema des Buches) und sich eines anderen, dahinterliegenden und nur auf den ersten Blick privaten Themas anzunehmen? Warum sollte nicht auch Toni Morrison, die große Toni Morrison, ein Buch über eine erfolgreiche junge schwarze Frau aus der Mittelklasse schreiben? Denn die hier verhandelten Themen, Probleme und Krisen sind zwar im Kern immer privat, teils intim, doch die Vermischung auch der intimsten und privatesten Teile des Selbst durch die soziale, historische und eben persönliche Prägung wird hier in keinem Moment vernachlässigt. Im Gegenteil macht Morrison sie gerade dadurch spürbar, indem sie sie nicht vordergründig thematisiert. Gerade deshalb wählt sie sich wohl die Figuren, denen Bride begegnet und die nicht den Rednecks aus dem Süden, bornierten Vorstandschefs in der 32. Etage eines Turms in Manhattan oder sexistisch geifernden Collegeboys aus Neuengland entsprechen, sondern durchschnittlichen weißen Amerikanern, die in dem Moment, wenn sie gefordert sind, menschlich handeln – und ansonsten nicht freundlich und nicht unfreundlich, sondern meist distanziert und mit sich selbst beschäftigt sind. Um diesen Menschen zu begegnen und sie tun zu lassen, was sie dann tun, muß sich Morrison die Begebenheiten und Ereignisse konstruieren, die dann geschehen. Ganz nebenbei schreibt sie dabei auch eine eigene Version eines uramerikanischen literarischen wie filmischen Themas – das Individuum, das sich  aufmacht, ‚on the road‘, um nach einschneidenden Erlebnissen das eigene Ich neu zu ordnen, suchend, doch immer nach sich selbst, nach dem Ort in sich, wo das eigene Ich zur Ruhe kommen könnte. Ein Road-Book, das nicht von ungefähr im Graben landet.

Vielleicht ist Morrisons Anliegen also gar  nicht so sehr eine tiefschürfende Analyse, sondern eher eine Variation, der die Analyse in ihrem Schreiben seit 1970 vorausgegangen ist: Sie variiert einzelne Aspekte, Teile und Teilstrecken ihrer großen Themen, setzt sie zueinander in Bezug, anders, als bisher, kommt aber auch zu anderen Schlüssen, was die Entwicklung, die hier beschrieben wird, schon glaubwürdig, wenn auch vielleicht oberflächlicher wirken lässt. Diese Figuren und ihre Geschichten müssen nicht auf Hunderten von Seiten individuell ausgeleuchtet werden, denn sie stehen für Entwicklungen der letzten 40 Jahre und weisen in diesem Kontext auf andere, ebenfalls drängende Probleme hin. Morrison ist ehrlich zu sich und ihren Leserinnen und Lesern und thematisiert hier nicht von ungefähr, an welchem Punkt man sich seiner selbst stellen muß, wo das ganz persönliche Versagen, die persönliche Feigheit sich hinter wohl vorgeschobenen Erklärungen – welcher Natur auch immer – verbirgt.

So gelesen, birgt GOD HELP THE CHILD schon eine gewisse Sprengkraft.

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