HAUS OHNE HÜTER

Heinrich Böll beschreibt die frühen Jahre der Republik

Siebzig Jahre Bundesrepublik, siebzig Jahre Grundgesetz – dem muß man doch literarisch Rechnung tragen. Eine Erfolgsgeschichte, wird es in den kommenden Monaten lauten. Also streift man am Bücherregal entlang. Wer hat denn damals so geschrieben? In den ersten Jahren der jungen Republik? Grass, natürlich. Andersch, Schmidt, Koeppen. Böll. Böll! Der Chronist der frühen Jahre. Also Heinrich Böll. HAUS OHNE HÜTER, erschienen 1954. Nach UND SAGTE KEIN EINZIGES WORT (1953) der zweite wesentliche Roman des späteren Nobelpreisträgers für Literatur, der sich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit und dem beginnenden „Wirtschaftswunder“ beschäftigte.

Eine Re-Lektüre nach etlichen Jahren, Jahrzehnten. Irgendwie ist Böll aus dem Fokus entschwunden. Wer denkt heute noch „Böll“? Eher verbindet man ihn mit jener pathetisch-schillernden Anklage gegen die BILD-Zeitung, der VERLORENEN EHRE DER KATHARINA BLUM, vielleicht noch mit seinem Engagement für die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, aber wem stehen noch die frühen, die literarisch wahrscheinlich wichtigeren Romane vor Augen? Man hat das alles gelesen, teils als Schullektüre, was den Büchern nicht (nie) gut getan hat, dann als junger Mensch, manchmal eher pflichtschuldig. IRISCHES TAGEBUCH, BILLARD UM HALB ZEHN. Aber HAUS OHNE HÜTER?  Es war einst das Geschenk einer Freundin, die den Namen einer Figur im Roman trug, wenn auch eher einer randständigen, und man las es in seinen frühen Zwanzigern. Ebenfalls eher pflichtschuldig. Also noch einmal, eine Re-Lektüre. Man geht es an, man widmet sich dem. Und plötzlich tut sich da etwas auf, so nach 20, 30 Seiten eröffnet sich dem Leser eine Welt, die nun wahrlich vergessen ist, zu Geschichte wird, hinter jenem Horizont entschwindet, der eine Lebensspanne umschließt, hinter dem gelebtes Leben in das kollektive Gedächtnis eingeht und Gefahr läuft, zum Mythos zu werden.

Bölls Roman ist im Jahr 1953 angesiedelt, die junge Republik befindet sich im Aufbau, die Verhältnisse bessern sich, der Hunger wird langsam vergessen, die Erinnerung daran und an jene Schrecknisse des Krieges wird verdrängt, verblasst. Man will vergessen, man will nach vorn schauen und Neues aufbauen. Und doch gelingt das nie. Die Leerstellen sind zu laut, zu leer – die Abwesenheit der Väter und ihrer Geschichten, die durch die Zeichenhaftigkeit von Fotografien, gelegentlich Gemälden markiert werden, ist  zu offensichtlich. Kinder, die Fotografien von Männern betrachten, die schon tot waren, bevor sie selbst geboren wurden, Kinder, die in zu junge Gesichter starren, Gesichter, die selbst noch etwas Kindhaftes an sich haben. Gesichter von Männern, Jungs, die in Panzern verbrannt sind oder auf Patrouillen geschickt wurden, irgendwo in einem mythischen „Osten“, von denen sie nicht mehr zurückkehrten. Das ist den Vätern der Freunde Heinrich und Martin wiederfahren, deren Perspektive auf diese neue, junge Gesellschaft zentral ist in Bölls Buch. Ihre Geschichten sind exemplarische Geschichten einer Nachkriegszeit, die keinen Schlußstrich kannte, der aber gern postuliert wurde, einer Nachkriegszeit, die die Gesellschaft schnell wieder in Gewinner und Verlierer eingeteilt hatte.

Martin entstammt einer Fabrikantenfamilie, der es offenbar an wenig mangelt, wo die Oma das Fressen als Erinnerungsvernichtung betreibt und den Enkel im Restaurant zum Kotzen bringt. Das Verdrängte macht sich alle paar Wochen als „Blut im Urin“ bemerkbar und lässt die alte Frau erschrecken. Ihr Reichtum – und sie stellt Schecks aus, als sei es ein Hobby – reicht aus jenen Jahren hinüber, die in die Katastrophe geführt haben. Eine Katastrophe, die nicht jeder gleich am eigenen Leibe spürt. Heinrich seinerseits ist Abkömmling einer Arbeiterfamilie, die auch acht Jahre nach dem Krieg kaum etwas besitzt, jeden Pfennig zweimal umdreht und den Jungen ein – Zahlengenie, das einst in den ersten Nachkriegsjahren, schon im Alter von vier, fünf, ein Schwarzmarkttüftler gewesen ist – jede Ausgabe durchrechnen lässt. Die Mutter, Kriegerwitwe mit allzu vielen Männerbekanntschaften – „Onkeln“, die einer ganz eigene Klassifikation unterliegen – benötigt ein neues, nahezu unbezahlbares, Gebiß. Kaum größer könnte der Unterschied sein, wenn Martin der Rechnung seines Freundes ansichtig wird, die für ihn, die Schwester Wilma und die Mutter 28 Mark im Monat vorsieht, und diese vergleicht mit jenen 18.70 Mark, die die Oma im Restaurant für ein einziges Mahl ausgibt. Es ist nicht die einzige Diskrepanz, die Böll diesen Freunden einschreibt. Heinrich, der von jedem der „Onkel“, mit denen die Mutter in den vergangenen Jahren befreundet war, etwas zurückbehalten hat, manchmal ein Andenken, manchmal nur einen Geruch, und Martin wachsen in einem Umfeld auf – angesiedelt ist der Roman irgendwo am Rhein, in einer katholisch geprägten Kleinstadt – wo der Katechismus zählt und Begriffe wie „unmoralisch“ oder „unschamhaft“ eine große Rolle spielen. Vor allem spielen sie eine Rolle in der Bewertung der Frauen und Mütter. Wie Martin feststellt, spielt es eine große Rolle, ob man als Schüler noch einen Vater hat, ob der Vater „im Krieg geblieben ist“ und wie sich die – meist junge – Witwe, die jeweilige Mutter, verhält. Bigott ist diese Gesellschaft, die von der eigenen Schuld nichts wissen will, die die Moral dick aufträgt und dabei vollkommen indifferent ist: Der eine will, daß die Frau das Ungeborene wegmacht, der andere will das exakte Gegenteil – und beide sind weggelaufen, beleidigt, fühlen sich in ihrer Männerehre gekränkt. Einer Ehre, die längst zerschossen auf den Feldern Russlands, in den Wüsten Nordafrikas und unter den Trümmern der Städte begraben liegt.

Böll nutzt personale Perspektiven, um dem Leser Martins, Heinrichs und die Sicht der Mütter nahezubringen; aber auch Martins Onkel Albert erhält eine eigene Stimme im Roman. Gerade sie ist wesentlich, um die Vorgeschichte der nur wenige Tage umfassenden Handlung zu begreifen. Er und Martins Vater Rai, ein Dichter, der von den Nazis vereinnahmt wurde und deshalb das Dichten aufgab, waren enge Freunde, die gemeinsam an der Ostfront dienen mussten. Albert war Zeuge von Rais Tod, den der Vorgesetzte Gäseler billigend in Kauf genommen hatte. Und eben dieser Vorgesetzte taucht nun im Ort auf und versucht, die Bekanntschaft  von Nella, Martins Mutter, zu machen. Die Bekanntschaft des beliebten Dichters, eines Vertreters der modernen Lyrik. Wie also umgehen mit dem Mörder des eigenen Mannes, dessen Tun schließlich gedeckt war durch Krieg, Vorschrift und Militär?

Nichts ist hier vergessen, nichts wird ausgespart. Man entdeckt bei der Lektüre nahezu sinnlich, was man intellektuell lange weiß: Es gab keine „Stunde Null“, keinen Schlußstrich oder „Neuanfang“. Die Narben des Krieges reichten weit in die deutsche Nachkriegsgeschichte hinein und jene, die vor 1975 geboren wurden, konnten diesen speziellen Odem der Nachkriegsjahre noch spüren. Die Wachstuchtischdecken, die weißen Küchenmöbel, die wie eine Reinwaschung des kollektiven Gewissens wirkten, die Begriffe – „im Krieg geblieben“ – letzte Bombenruinen, Mauern mit Einschußlöchern, die Hochbunker (die heute fast die letzten sichtbaren Zeichen jener Jahre in den Großstädten sind). Hier entsteht das alles noch einmal. Die abwesenden, toten Väter, die ihre Häuser verwaist, „ohne Hüter“, zurückließen und in einem fürchterlichen Krieg verloren gegangen waren, oft ohne Grab, manchmal ohne Kenntnis, was eigentlich geschehen war. Da ist der Katholik Böll ganz Patriarch: So sehr er die Doppelmoral jener Jahre aus- und in Frage stellt, ein Haus, in dem der Manne fehlt, ist ein „Haus ohne Hüter“. Solche Perspektiven sind natürlich dem Veröffentlichungsjahr 1954 geschuldet, die darf man schlechterdings nicht mit den Maßstäben des 21. Jahrhunderts bemessen.

Albert und Nella begreifen die Wirklichkeit oft als Film, entschwinden auf die „dritte Ebene“ – das, was hätte sein können, wäre der Gatte nicht gestorben, wäre Albert in England geblieben, wo er vor dem Krieg gelebt hatte und verheiratet gewesen ist – und betrachten sich (und ihre Umwelt) wie durch eine Kamera. Die Haltung der Menschen, der Männer, der Frauen, die Art, wie sie Zigaretten rauchen und die Straße entlang gehen. Fast schon ein postmoderner Blick. Und zugleich eine Rettung. Böll versteht es, die Traumata, die innere Entfremdung und Distanzierung zu verdeutlichen, ohne dabei aufdringlich didaktisch zu werden. Ebenso hält er sich mit Pathos oder gar Sentiment zurück. Nüchtern, sachlich, meist deskriptiv und dennoch reflektierend, baut er seine Figuren auf, die wie Verlorene in einer Zeit wirken, die gnadenlos voranschreitet und die Toten immer weiter hinter sich lässt. Es kommen Gedanken auf an Filme wie Wolfgang Staudtes DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946) oder ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT (1959), ebenfalls von Staute gedreht, die von den zersetzenden Erinnerungen und, im letzteren Fall, den  fetten Jahren des Wirtschaftswunders und dem unbedingten Wunsch berichten, vergessen zu wollen, was da gewesen ist. Das ist den Figuren in Bölls Roman nicht vergönnt. Die Vergangenheit zehrt an ihnen, zieht sie wieder und wieder in ihren Bann und die, die versuchen, sie vergessen zu machen – dafür steht Gäseler – dringen nicht durch, können ihre Schuld nicht vergessen machen, sich nicht reinwaschen und hinter „dem Krieg“ verstecken, wie es Staudtes Staatsanwalt Schramm am Ende der Dekade eben doch gelungen ist. Zumindest oberflächlich.

HAUS OHNE HÜTER packt, es bringt – siebzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und der Einführung des Grundgesetzes – noch einmal auf den Punkt genau jene Jahre in Erinnerung, die dieser Gründung folgten, aber auch jene Zeit und ihre Schrecken, die überhaupt dazu führten, diese Republik gründen zu können, gründen zu müssen. Kritisch zu betrachten bleibt allenfalls die Abwesenheit der wieder in die Gesellschaft integrierten Nazis, die hier schlicht nicht vorkommen. Martin berichtet uns wohl, daß die laut den Lehrern in der Schule „gar nicht so schlimm gewesen seien“, erst recht nicht in Anbetracht „des Russen“. Es bleibt Onkel Albert vorbehalten, seinen jungen Freund in jenen Keller zu führen, wo er und Rai einst drei Tage von der SA geprügelt wurden und wo ein der Familie bekannter Jude totgetrampelt wurde. Böll verschließt die Augen vor dem Grauen nicht. Doch liegt sein Augenmerk auf einem anderen Fokus: Hier ist die Beschreibung derer, die einen Weltenbrand entfacht hatten, besiegt wurden, ebenso total, wie zuvor ihr Furor war, und die nun mit den Verletzungen, den Leerstellen des Lebens, den Verlusten leben und sich in einer gänzlich neuen Realität einfinden müssen. Eine Realität voller Ungleichheit, Doppelmoral und Bigotterie.

Der Start in das neue Deutschland, in das das alte Deutschland weit hineinreicht…

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