DER HERR DER RINGE/THE LORD OF THE RINGS (ROMAN)

Überlegungen zu einem gewaltigen Werk

In den Jahren 1954 und 1955 erschienen, stellt DER HERR DER RINGE (ab nun: THE LORD OF THE RINGS) das zentrale Werk des englischen Schriftsellers und Professors für englische Sprache John Ronald Reuel Tolkien, kurz: J.R.R. Tolkien, dar. Fast zwanzig Jahre nach seinem Kinderbucherfolg DER (im Deutschen zunächst: KLEINE) HOBBIT (THE HOBBIT OR THERE AND BACK AGAIN), das einige Figuren einführte, die der Autor für sein Großwerk erneut aufgriff – allen voran den Zauberer Gandalf – war dies eindeutig für eine erwachsene Leserschaft ausgelegt. So verspielt, manchmal geradezu humoristisch die Abenteuer um Bilbo Beutlin anmuteten, die 1937 erschienen waren, so ernsthaft, humorlos und tief pessimistisch wirken die ca. 1000 Seiten des Nachfolgers.

In drei Teilen – THE FELLOWSHIP OF THE RING, THE TWO TOWERS und THE RETURN OF THE KING – erzählt der episch angelegte Großroman davon, wie der Zauberer Gandalf im Auenland, der Heimat der Hobbits, seinen alten Freund Bilbo Beutlin an dessen 111. Geburtstag besucht und von diesem den Ring einfordert, den Bilbo einst dem Mischwesen Gollum abgenommen hatte. Dieser Ring, so lernen wir, ist der Ring der Ringe, der in der Lage ist, ganz Mittelerde zu knechten. Einst geschmiedet von Sauron, dem Abscheulichen, besitzt dieser Ring eine Macht wie kein anderer. Und – so weiß es Gandalf der Graue – die Zeit ist gekommen, da Sauron sich erneut erhebt und die Entscheidung herbeiführen will, wer über Mittelerde herrscht. Wird er sich des Ringes bemächtigen, so wird ihn keine Kraft des Guten mehr bezwingen können. Also muß der Ring vernichtet werden in den Feuern des Schicksalsberges, in denen er einst geschmiedet wurde. Gandalf bestimmt schließlich Bilbos Neffen Frodo zum neuen Träger des Rings, der ihn ins Land Mordor – Saurons Reich – bringen und dort den Feuern überantworten soll. Eine ‚Gemeinschaft des Rings‘ (Fellowship…) wird ihm dabei zur Seite stehen. Sie setzt sich aus Menschen (Aragorn und Boromir), einem Elb (Legolas), einem Zwerg (Gimli), den Hobbits Frodo, Samweis Gamdschie, Merry und Pippin und Gandalf selbst zusammen. Und während sich die Gemeinschaft gen Mordor aufmacht, schmiedet der Zauberer Saruman in seinem Reiche Isengard seine eigenen Ränke, sieht er doch die Möglichkeit gekommen, seine Pläne gegenüber einer träge gewordenen Menschheit zu verwirklichen. So spitzt sich die Lage über die Weite des Textes zu, die Gemeinschaft des Rings wird gesprengt, Aragorn, Legolas und Gimli folgen der Fährte der Uruk-Hai, einem von Saruman gezüchteten Kriegergeschlecht der Orks, und Frodo und Samweis sind mit Hilfe Gollums, den sie in den Bergen aufstöbern, auf eigene Faust unterwegs, Mordor zu erreichen. Im zweiten Teil schon und auch im dritten stehen sich schließlich an verschiedenen Stellen riesige Heere gegenüber und es kommt zur Entscheidungsschlacht zwischen den Mächten des Guten und Hellen um Gandalf und den Mächten des Bösen, die Sauron um sich schart. Doch entscheidend ist die Frage, ob es Frodo, der zusehends der dunklen Macht des Rings verfällt, gelingt, den Ring in den Feuern des Schicksalsberges zu vernichten.

Ein gewaltiges Epos, angelehnt an die mythischen Geschichten der Antike und die Legenden und Erzählungen der nordischen Sagen. Ein gewaltiges Ringen, welches da beschrieben wird. Das ewige Ringen des Guten mit dem Bösen, hier angelegt wie eine Offenbarung, die uns von Armageddon erzählt, von den ‚letzten Tagen‘. In seiner Ernsthaftigkeit manchmal bis an die Grenze zur Lächerlichkeit pathetisch und dennoch tief durchdrungen von einem forschenden, einem wissenden, einem schöpfenden Geist, einem gottähnlichen Geist, dem seines Autors. Und in all dem funktioniert dies‘ Simulakrum hervorragend als Sedativum gegen eine Wirklichkeit der Moderne, die in ihrer Überkomplexität nur mehr schwer zu ertragen scheint.

Nur als Literatur, als Literatur in einem Sinne von Reflexion und Ermittlung, Wandel und Möglichkeit, funktioniert THE LORD OF THE RINGS nicht.

Nimmt man Tolkiens Werk zur Hand, dann macht man sich natürlich sehr unbeliebt, wenn man ihm die literarische Klasse abspricht. Dennoch bleibt es von einem literarischen Standpunkt aus so, daß THE LORD OF THE RINGS ein zwar spannendes (obwohl auch darüber zu streiten wäre), episches, manchmal vielschichtiges Werk ist, nicht jedoch ein literarisch besonders anspruchsvolles. Da sind das als Kinderbuch definierte DER KLEINE HOBBIT oder auch das nie beendete DAS SILMARILLION wahrscheinlich gelungener, was Aufbau, Entwicklung und Fülle der Figuren betrifft. Das, wovon Tolkien in THE LORD OF THE RINGS erzählt, ist zu bekannt, auch Mitte des 20. Jahrhunderts schon zu eindeutig als Aneignung zu erkennen, als daß die Welt, die Tolkien sich erfand, wirklich Neues zu bieten gehabt hätte[1]. Er bedient sich der Versatzstücke so ziemlich jedes Mythos‘ der letzten 2000 Jahre, dazu noch einiger älterer; er nutzt Legenden und deren Verarbeitung wie Thomas Mallorys Niederschrift der Sage von König Artus‘; Anspielungen auf die christliche Mythologie, auf die nordischen und antiken Sagen finden sich zuhauf. So hat man es bei THE LORD OF THE RINGS im Grunde mit einem frühen Werk der Postmoderne zu tun: Ein Potpourri aus Sagen und Legenden, aus Mythen und mythologischen Narrationen, das immer gerade das passende Stück aus dem Hut zaubert, ein Zitatenschatz, ein Puzzle, ein Pastiche.

Dementsprechend klischeehaft sind auch die Figuren: Vollkommen klar, wer gut, wer böse ist. In dieser Welt gibt es selten grau, fast nur schwarz-weiß. Wenn man also der Meinung ist, Literatur hat etwas damit zu tun, wie er funktioniert, der Mensch, wie er reagiert auf eine Umwelt, die sein Dasein definiert, wer meint, daß Literatur uns vom Einzelnen berichtet und seiner Interaktion mit dieser Welt, von der Entwicklung, den Ängsten und den Freuden ddes Menschen, muß man leider eingestehen, daß Tolkiens Werk von all diesen Fragen und Raffinessen weitestgehend befreit ist. Eine einfache Welt, die einfachen Mustern folgt: Es gibt eine Vorhersehung, ein Schicksal, das stellt einen jeden an den Ort, an welchem er gebraucht wird, ein jeder eine Figur in einem großen Spiel, purer Determinismus. Die klügeren der Figuren haben das natürlich verstanden – also die Zauberer, die Elben, die Zwerge, auch wenn sie murren, die Helden natürlich und auch einige Könige – , die anderen, namentlich die Hobbits, akzeptieren ihre Stellung und Position in der „natürlichen“ Hierarchie einfach und sind damit glücklich. Die, die diese Hierarchie nicht mehr akzeptieren, werden schnell auf der Seite des „Bösen“ verortet und sind also zu bekämpfen, bis die natürliche Ordnung wieder hergestellt sei. Ein an sich merkwürdiges Weltbild, das sich da abzeichnet.

So ganz stimmt auch nicht, was eben behauptet wurde. Es GIBT zwei wirklich literarische Figuren in dieser Geschichte: Gollum/Smeagol und Tom Bombadil.

Erstere ist schnell zu entschlüsseln: Dieses Mischwesen, das einst ein Hobbit war und durch den Ring zwar langes Leben – 500 Jahre befand sich der Ring in seinem Besitz – erlangte, zugleich aber auch zusehends dem Bösen verfiel, beherbergt in seiner Brust die berühmten zwei Seelen: Denn irgendwo in der stinkenden Kreatur namens Gollum existiert eben auch noch Smeagol, ein verängstigter Kerl, der seinen „Schaaatz“ (den Ring) zwar haben, zugleich aber nicht sein will, was der Ring aus ihm macht. So kann Tolkien anhand dieser Figur die Macht des Rings exemplarisch durchspielen, kann aber ebenso das klassische Drama eines Wesens aufzeigen, daß hin und hergerissen ist zwischen seinem Ich und seinem Es. Als habe der Verehrer der alten Mythen, Tolkien, nicht ganz auskommen wollen ohne die Zeichen SEINER Zeit.

Tom Bombadil hingegen ist ein anderes Kaliber. Man fragt sich unmittelbar während der Lektüre, was es mit dieser Figur eigentlich auf sich hat? Sie führt innerhalb der Handlung nirgends hin und scheint nur eine Funktion zu haben: Dem Leser zu beweisen, daß es auch aus DIESER Welt – Mittelerde – eine Verbindung mit der unsrigen gibt. Laut der Wikipedia hat Tolkien diese Figur als „Prinzip der reinen Naturwissenschaft“ beschrieben, frei von Machtstreben, am reinen Wissen selbst interessiert. Eine Figur, die wohl nicht originär der Mittelerde-Mythologie entstammt, sondern übernommen wurde aus anderen Bereichen der Tolkien’schen Fantasie. Allerdings könnte man auch behaupten, daß der dem Christentum ebenso skeptisch wie fromm verbundende Katholik Tolkien GOTT in seine Erzählung einbaut, womit das Potpourri einerseits perfekt ist, andererseits die Metaphysik in die Handlung Einzug hält. In ein Werk übrigens, das bei aller Behauptung des Mystischen wie Mythischen erstaunlich frei von Metaebenen bleibt und gleich gar nichts wirklich Metaphysisches berührt. Bombadil ist „das älteste Wesen“, ein Wesen, das bereits da war, bevor es Alles gab. Zudem ist er dem Ring gegenüber indifferent, dieser hat keine Macht über ihn. Bombadil ist auch erstaunlich desinteressiert an den Hobbits (die er allerdings anfangs des ersten Teils rettet), dem Ring und den Vorkommnissen. Man fragt sich, wozu diese Figur gut sei und kommt zu dem Schluß, daß sie über das Buch hinaus und aus dem Buch heraus auf uns, den Leser, verweist.

Hat sich Tolkien, für alle Fälle, rückversichern wollen? Eine Art Pascal’sche Wette? Fühlte er sich allzu blasphemisch, wenn er eine Welt imaginiert, die gar keine Götter zu kennen scheint, lediglich Fetische und Götzen? Eine Welt, die nicht nur von unterschiedlichen Rassen, sondern unterschiedlichen Arten bevölkert wird, die der liebe Gott in SEINER Schöpfung so nicht vorgesehen hatte? Man kann einem Autoren wie Tolkien ja wahrlich Hybris unterstellen, macht er sich doch wahr und wahrhaftig daran, eine Welt zu schaffen, eine Betätigung, die natürlich dem Menschen so oder so nicht zusteht (was aber jeder Autor letztlich betreibt – das Welterschaffen). So wissen wir als Leser, daß bei allem, was da kommen mag auf den folgenden (etwa) 1000 Seiten immer ein Etwas, ein Wesen, bleibt, das unzerstörbar ist. Tom Bombadil, das älteste Wesen, ist natürlich auch – was einer sehr postmodernen Betrachtungsweise entspricht – einfach der Leser. Schlage ich das Buch zu, ist die Geschichte aus. So kann ich als Leser letztendlich natürlich immer – wie Tom Bombadil, wie Gott – gegenüber DEM WERK, DER SCHÖPFUNG – ob dem eigenen oder fremden – gleichgültig bleiben. Das Buch mag geschlossen bleiben, ich überdaure. Herr des Verfahrens bleibe letztlich ich, der Leser. Eine strukturalistische Sicht, die der Sprachwissenschaftler Tolkien möglicherweise wahrnahm bei Kollegen wie Beardsley oder Wimsatt („Intentionaler Fehlschluß“). Aber auch beim Großmeister moderner Linguistik und Zeitgenossen des Autors, Ferdinand de Saussure.

Verharrt man einen Moment bei der zeitgenössischen Realität des Autors, kann man sich gleich an die Frage des Bezugs zu eben dieser Realität annehmen. Es wurde immer gern und viel darüber spekuliert, daß Tolkien seinen Weltenbrand sehr direkt in Bezug auf jenen Weltenbrand entworfen habe, den die reale Welt nur mal gerade eine Dekade, bevor das Buch erschien, zu durchleiden hatte – den Zweiten Weltkrieg. Er selber hat das immer bestritten und dem Buch jedwede allegorische Eigenschaft abgesprochen. Er habe einfach eine vorchristliche, vorgöttliche Welt erschaffen wollen und vor allem habe er ausprobieren wollen, ob nicht nur Mythen- sondern (seine ureigene Profession) auch Sprachsysteme, basierend auf jenen nordischen, die er als Professor der englischen Linguistik untersuchte, zu erschaffen möglich sei. Man mag ihm das abnehmen oder nicht – unter den Tolkienologen gibt es einige, die eine Menge Zeit und Kraft darauf verwendet haben, darzulegen, daß man die großen Schlachten des Buches nahezu deckungsgleich auf jene des Krieges gegen Hitlerdeutschland legen könne, zudem war er es selbst, der das erst entstehende Genre der Fantasy dagegen verteidigte, reine Weltflucht zu sein – definitiv ist seine Geschichte derart beschaffen in ihrer Archaik, Mythenbesessenheit und Epik – was die Sprache mit einschließt – daß man jedwede irdische Auseinandersetzung hineinlesen kann, wenn man das denn unbedingt will. Das spricht dafür, daß ihm offensichtlich ein Zugriff auf die urmenschlichen Bedürfnisse und Erzählungen geglückt ist, allerdings spricht es eben genauso dafür, daß es eine banale und letztlich triviale Geschichte ist, die andere Autoren eben nicht auf ihre nackten Fakten herunterbrechen, sondern noch mit allerhand Subtext auszustatten verstehen. Tolkien, so könnte man despektierlich sagen, legt mit LORD OF THE RINGS eine gigantische Abenteuergeschichte vor, die sich nicht an reale Begebenheiten des Mittelalters ausrichten will und deshalb nach Mittelerde verlegt wird, in eine Welt, die der mittelalterlichen erstaunlich ähnelt.

Es ist schwierig, über gewisse Werke noch ein Urteil zu bilden, zu sehr sind sie Bestandteil allgemeinen Wissens oder Konsens`. Also kann man sie nur so nüchtern wie möglich analysieren. Und dabei wirft THE LORD OF THE RINGS allerhand Fragen auf, auch kritische. Denn so unterhaltsam das alles daherkommt, es wird hier eine Ideologie vertreten, die freundlich formuliert nicht unbedingt mit demokratischen und liberalen Werten in Einklang zu bringen ist. Vielmehr stellt sich sogar die Frage, ob das Buch selbst nicht sogar eine Ideologie ist? Zumindest Teil einer Ideologie? Wie schon erwähnt stellt Tolkien eine Welt dar, die in recht einfache Werte unterteilt ist: Solange ein jedes „Volk“ (wobei man in der herkömmlichen Wissenschaft wohl eher von „Arten“ spräche) sich an seinem Platz artig wohl verhält, solange geschieht in dieser Welt nichts. Sobald ein Volk aus der Reihe tanzt, seinen Platz nicht akzeptieren will oder den allgemeinen Konsens in Frage stellt, wird es zum Paria. Unterteilt ist diese Welt in „Gut“ und „Böse“. Wobei die Menschen – hier noch am ehesten fände man Hinweise auf jene Welt, die gerade selbst einen gewaltigen Kampf um die Werte der Freiheit gekämpft hatte – sowohl auf der Seite des Guten zu finden sind, wie sie auch bereit sind, für Sauron zu kämpfen, jenes Wesen, das in sich das Böse verkörpert und zwar derart, daß es dabei keine Körperlichkeit gewinnt, sondern entmaterialisiert, nur ein riesigen Auge nutzend, nahezu ganz Mittelerde überblickt. Dem Leser wird nie näher erklärt, was Sauron nun eigentlich so böse macht, er steht für das, was die katholische Kirche den Leibhaftigen nennen würde. Ob es an Saurons Tafel möglicherweise netter, zumindest lustiger zugeht, als am Hofe der Elben oder in Gandalfs strenger Zucht, wird uns vorenthalten. Tolkien und sein Hauptwerk verlassen sich – vielleicht ist das Buch weitaus katholischer, als daß es zeitgenössisch ist – darauf, daß dieser Dualismus beim Leser funktioniert. Damit er funktioniert, muß das Angebot an den Leser möglichst einfach sein. Wir lernen – abgesehen von Saruman, der sich als Zauberer erschreckend politisch verhält – wenig über Beweggründe und Ausmaß dessen, was Sauron anstrebt. Er ist schlicht die „dunkle Macht“ und will die Erde beherrschen. Die Elben – von allen Völkern Mittelerdes uneingeschränkt als „oberste Wesen“ akzeptiert – beherrschen die Welt im Prinzip (auch wenn sie, wie alle „guten“ Wesen dieser Welt, akzeptieren, daß ihre Zeit zuende geht und die der Menschen aufzieht), deren Weltherrschaft wird allerdings niemals in Frage gestellt. Tolkien mag sich noch so sehr gesträubt haben, sein Werk habe nicht mit der jüngeren Geschichte zu tun, definitiv verläßt er sich darauf, daß seine Leser knapp zehn Jahre nach dem Krieg eine klare Vorstellung vom „Bösen“ haben.

Es entsteht schon ein fragwürdiges Welt- und Menschenbild (wobei die Menschen hier ja nur eine Art unter vielen sind), in dem für demokratische Ideen, die ja auch immer Wandlung und Kompromiß bedeuten, kein Platz ist. Und die, für die hier kein Platz ist, dürfen vernichtet werden, ja, sie müssen sogar vernichtet werden. Nun wird dem Leser ununterbrochen vermittelt, daß seine Helden des Buches auf der richtigen Seite stünden, weshalb er vielleicht bereit ist, genau diesen Vernichtungswillen als eine Art Selbstverteidigung zu akzeptieren. Denn in Mordor, dem Land des Bösen, rotten sich ja die dunklen Mächte zusammen. THE LORD OF THE RINGS funktioniert auch deshalb so gut, weil das Buch seine Sprache, seine Anliegen und die der Handlung zugrunde liegenden Prämissen nie in Frage stellt und in seiner Hermetik auch nicht in Frage stellen lässt. Um diesem Konvolut von 1000 Seiten zu folgen, um im Dickicht der Namen und Bezeichnungen mithalten zu können, um den, gerade in Teil II doch massiven Parallelhandlungen folgen zu können, muß man bei THE LORD OF THE RINGS das Kunststück fertigbringen, das, was Lesen angeblich so fördert, das Denken nämlich, weitestgehend einzustellen. Die Humorlosigkeit dieses Werkes ist ganz sicher seinem Inhalt geschuldet, doch auf der Subebene kann sich ein Werk wie dieses Ironie und also ein Infragestellen seines ureigenen Movens nicht leisten. Zu schnell würde es sich an sich selbst verschlucken. Die bebende Ernsthaftigkeit, die hier zum Ausdruck gebracht wird, kratzt an sich ja schon immer an der Parodie.

Womit man bei der Frage wäre, ob das Buch selbst Teil einer Ideologie ist? Um Mißverständnissen vorzubeugen: Der Rezensent will dem Autor – trotz einiger Hinweise in dessen Vita – nicht unterstellen, selbst faschistoidem Gedankengut angehangen zu haben. Wahrscheinlich war Tolkien, der ein wenig den verschrobenen Professor gab, eher ein unpolitischer Mensch, was das aktuelle Geschehen anging. Doch er war geprägt durch seine Zeit und die englische Gesellschaft des späten 19. Und frühen 20. Jahrhunderts war beispielsweise von einem tiefen Rassismus durchzogen – die Einteilung der Völker Mittelerdes wirkt problemlos wie ein „positiver Rassismus“. Und in der Akzeptanz der Rassen untereinander zeigt sich sogar so etwas wie ein „positiver Faschismus“. Ein Faschismus, der nicht einfach als politische Ideologie auftritt, sondern zugleich für sich in Anspruch nimmt – was ihn auf „natürliche“ Art und Weise rassistisch sein ließe – eine „natürliche“ Ordnung zu repräsentieren, die idealiter von allen „Untertanen“ wie selbstverständlich hingenommen würde. Das ungeheure Textkonvolut selbst unterstützt diese Haltung. Wie schon angedeutet, läßt THE LORD OF THE RINGS erstaunlich wenig Raum zur Eigeninterpretation, es ist ein auffällig geschwätziges Buch, das meint, auch noch die letzte Handlung, Bewegung und Motivation seiner „guten“ Protagonisten ausleuchten zu müssen. Diese Wesen sind nicht nur alle frei von wirklichen Regungen der Seele, sondern ununterbrochen nur auf die Lösung ihrer Aufgaben oder die Erfüllung dessen erpicht, was ihnen „bestimmt“ ist. Sie sind funktional. Und sie nehmen diese Funktionalität an. Mag sein, daß das ein Merkmal der Menschen des Mittelalters war, in der Neuzeit ist es ein faschistisch-totalitärer Feuchttraum. Nicht umsonst schlägt so mancher den Faschismus ja einer absolutistischen Herrschaftsform zu. Gehen die Funktionsträger dabei drauf, tun sie dies nahezu glücklich, weil in Erfüllung eines höheren Ziels, einer signifikanten Aufgabe. Eine Haltung, die wir Heutigen eher mit den uns wenig „gut“ erscheinenden Damen und Herren diverser islamistischer Bewegungen assoziieren. Als Leser des Buches muß ich dies aber hinnehmen.

Tolkien schafft nicht nur eine hermetische Welt, die er vollkommen beherrschen kann (Mythen, Geschichte, Sprachen, Ordnung – also Klassifikationssysteme, die hier ausgesprochen wichtig sind, man sehe einfach nur die umfangreichen Anhänge durch), Tolkien erschafft sich auch das dazu passende hermetische Personal, auf das er allein Zugriff zu haben trachtet. Wenige Autoren nur, die ihre Welt, ihre Schöpfung, so furchtsam und eigenbrötlerisch versuchen gegen den Zugriff sogar des Lesers abzuschirmen. Tolkien als Mastermind agiert hinter seinem Text wie ein eifersüchtiger Gott. So stellt THE LORD OF THE RINGS nicht nur eine totalitäre Welt als erstrebenswert dar, in der Abweichung erstaunlich schnell sanktioniert und geächtet wird, sondern das Werk selber wird zu einem totalitären Ausdruck, einer totalitären Geste, das Lesen dieses Konvoluts zu einem Akt der Unterwerfung. Für eine Tiefenanalyse reicht an einer Stelle wie dieser der Raum nicht aus, doch könnte man nachweisen, wie hermetisch sich der Text der Interpretation zu entziehen versucht, wie Handlungsaufbau und Timing dem Leser kaum Zeit und Raum geben, reflektierend das Gelesene zu verarbeiten. Natürlich ist das alles spannend geschrieben und natürlich fesselt es den Leser derart, daß der auch gar nicht nachdenken will. Das (kritische) Denken im Buch und das Denken des Lesers übernehmen „höhere“ Kräfte, die das, so die Suggestion, einfach besser können – der Zauberer, der Autor. Der Zauberautor.

Tolkien wird gern als Begründer der literarischen Fantasy dargestellt. Darüber wäre zu streiten. Aber nicht von der Hand zu weisen ist, daß es Legionen an Nachahmern gab, die ebenfalls versuchten, ganze Welten, ach was, Weltensysteme zu erschaffen. Den meisten fehlte dazu nicht nur das intellektuelle Rüstzeug, sondern auch die Fantasie, man möge das Wortspielchen verzeihen. Den meisten Produkten aus dem Bereich Fantasy merkt man nur zu deutlich an, daß ihre Autoren sich keinesfalls aus dieser Welt verabschieden können, weshalb „Fantasy“ meist wie Mittelalter mit Monstern wirkt. Tolkien hatte, davon ist auszugehen, anderes im Sinn. Daß es ihm in erster Linie darum ging, Sprachsysteme zu erschaffen und mehr noch, sich in eine Welt hinein zu denken, die zeitlich vor dem Mythos, vor der Geschichte, ja, vor den Göttern selbst lag. Eine Welt, in der all die alten Sagen, Legenden und Mythen erst im Entstehen begriffen sind. Und die dennoch von einer noch älteren Zeit zu berichten weiß. Daß diese Welt eine im Grunde mittelalterliche Welt ist, die bevölkert wird von all den Fabelwesen, die man sich so ausdenken kann, mag vor allem Tolkiens Beschäftigung mit keltischen Schriftsystemen und den damit einhergehenden Studien der Mediävistik zu tun gehabt haben.

Es wäre Tolkien gegenüber sicher gerechter, man ordnete sein Werk nicht unter ‚Fantasy‘ ein, sondern betrachtete es als den Versuch, den alten Mythen, Sagen und Legenden eine gleichwertige Narration zur Seite zu stellen. Vielleicht ist sein einziger großer Denkfehler der, das Wesen der „echten“ Mythen dahingehend zu verkennen, daß sie eben auch mediale Funktion hatten zu einer Zeit, als es keine Medien außer der Erzählung gab. Greift man in unserer Zeit auf das Rüstzeug eben dieser Mythen und Legenden zurück, muß es zwangsläufig wie eine Weltflucht anmuten, der Versuch, dich den Unbilden der Gegenwart zu entziehen und in Welten zu entfliehen, die zunächst einfache Regeln und klare Werte kennen und beherzigen. Eine Realität wird da geboten, die leicht zu erfassen ist und der man in ihrer überschaubaren Komplexität auch auf Augenhöhe begegnen kann. Tolkiens Verdienst ist es, einen recht hohen Maßstab gelegt zu haben, so daß das Fach in seinen besseren Momenten immer wieder auch ernsthafte Literatur hervorgebracht hat und keinesfalls nur als Trivia betrachtet werden kann. Doch müsste, wer sich ernsthaft auch mit Fantasyliteratur auseinander setzen will, zugeben, daß gerade Tolkiens Werk auch durchaus fragwürdige Ebenen aufweist, die in sich schon die Problematik tragen, mit der sich das Genre „Fantasy“ Zeit seines Bestehens konfrontiert sieht und die (jedes Genre, jedes spezifische Fach bringt seine eigenen Problematiken mit sich) einem kritischen Leser auch immer sperrig bleiben werden.

[1]Die Sprach- und Mythensysteme seien davon natürlich ausgenommen. Sie wurden teils extra für das Buch entworfen, doch war beides ohnehin sein Thema, die Idee, künstliche Sprachsysteme zu entwerfen, war keineswegs in Hinblick auf THE LORD OF THE RINGS entstanden. Es war eine Art Forschung eigener Art. Tolkien dichtete in seinen Sprachen, er schuf die Mythenerzählungen auch, um damit zu spielen, was erzählbar war. Unabhängig vom Buch, ging es ihm dabei auch um das akademische Experiment.

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