WEEKEND/WEEK END

Ein Wochenendtrip der besonderen Art...

Was passiert? Das Ehepaar Corinne und Roland (Mireille Darc und Jean Yanne) machen sich auf, ihre Mutter zu besuchen. Es deutet sich an, daß die beiden durchaus beabsichtigen, die Alte zu ermorden, sollte sie nicht bereit sein, ihnen einen großen Anteil an Corinnes Erbschaft auszuzahlen. Ebenso deutet sich an, daß beide durchaus bereit sind, einander zu ermorden, sobald sie das Geld in den Fingern halten. So machen sie sich am Wochenede auf, Corinnes Elternhaus in der Provinz aufzusuchen. Der Weg führt sie physisch durch Frankreich, geisitg/metaphorisch jedoch in eine immer apokalyptischere Landschaft, die von brennenden, aus Unfällen zurückgebliebenen Autowracks bestimmt wird, in der die Leichen herumliegen, die bevölkert wird von den seltsamsten, weil nichthumanen sondern literarischen Wesen – Saint Just erklärt den beiden (und den Zuschauern) noch einmal, was es so auf sich gehabt hätte, mit dem Rousseau’schen Gesellschaftsvertrag, der der Vernunft der Aufklärung folgt und verpflichtet ist; die Bilder, die Godard uns präsentiert, sprechen eine nachaufklärerische Sprache, erzählen von Vergehen, Untergang, Verschleierung und Tod. Emily Bronte begleitet die beiden, Texte von Lewis Carroll rezitierend und Roland derart enervierend, daß er sie einfach anzündet. Schließlich erreichen sie wirklich das Landhaus von Corinnes Mutter, die sie auch wie gewollt töten. Sie entfernen sich – Zeit und Raum haben sich zu diesem Zeitpunkt des Films längst aus und von jeder chronologisch-linearen Narration verabschiedet – vom Haus und fallen nach weiteren seltsamen Erlebnissen einer Befreiungsfront aus Anarchisten und Hippies in die Hände, denen auch ein offenbar recht guter Koch angehört. In einem „Septembermassaker“ werden ein Schwein, ein Huhn und Sonstiges geschlachtet. Als Corinne sich ein ordentliches Stück Fleisch gönnt, stellt sie fest, daß das gut schmeckt. Der Chef der Befreiungsarmee erwidert, man hätte das Schwein mit gefangenen Touristen gemischt, „Teile von deinem Mann sind auch noch mit drin.“ Dann, so antwortet Corinne, hätte sie gern noch ein Stück.

Der Film entläßt uns mit der Einblendung „Fin de cinéma“.

Jean-Luc Godard gilt heute Vielen als Intellektueller, der verkopftes, unverständliches und darob meist totlangweiliges Kunstkino produziert hat. Das kann man so stehen lassen. Sollte man jedoch an ihm, seinen Werken und vor allem daran interessiert sein, was er eigentlich gemacht hat, wird man um diesen Film – einen seiner „kompliziertesten“ und „unzugänglichsten“ – nicht herumkommen. Man kann anhand von WEEK END hervorragend ablesen, wie sein Weg von einem (fast) noch konventionellen Kinoerzähler, der das amerikanische Genrekino liebt, hin zu DEM Großmeister des essayistischen Films, zu DEM Dekonstrukteur des Filmbildes an sich, des Mediums an sich, verlief.

Der Film entläßt uns mit der Einblendung „Fin de cinéma“.

Es macht wenig Sinn, den Inhalt eines Films zu schildern, der im Grunde das Experiment eines essayistischen Metafilms darstellt. Godard leistet einen aggressiven und filmisch genialen Angriff auf die Konsumgesellschaft, der alles – das menschliche Leben als allererstes – zur ökonomischen Marke werden läßt. Anders läßt sich die Leidenselegie eines jungen Mädchens, dessen Cabrio, von ihrem schönen jungen Freund gesteuert, in einen Traktor gerast ist, nicht deuten, denn minutenlang kreischt sie, er sei „jung gewesen und schön und reich und deshalb mehr wert als ihr!“ – wobei dieses „ihr“ sich auf den Traktorfahrer ebenso bezieht, wie auf die die Szene beobachtenden Bewohner des provinziellen Dorfes. Erst als beide Parteien – der Bauer und das Mädchen – Corinne und Roland, die alles gesehen haben sollen, sich aber weigern, dies zu Protokoll zu geben, als feindlich Gesinnte ausgemacht haben, sind sie vereint in ihrem Hass auf die Aussenseiter, die sich entziehen.

Fängt alles noch mit einem recht herkömmlichen Streit auf einem Parkplatz an, gekennzeichnet (durch ein Inlet) als „Szenen aus dem Pariser Leben“, wird es schon seltsam, wenn das Paar die Stadt verläßt, wo wir folgerichtig Zeugen der „Szenen aus der Provinz“ werden. Allerdings stellen sich sowohl die Stadt, als auch die Provinz dann doch anders dar, als Balzac das gewohnt war. In einer der berühmtesten Kamerafahrten der Filmgeschichte (und einer der gelungensten Metaphern selbiger) beobachten wir – während eine Kakophonie aus Hupen und Geschrei uns begleitet -, wie Roland den Coupé des Paares an einem Stau (auf der Landstraße) entlang manövriert, wobei die Fahrer und Insassen der anderen Wagen ihn beschimpfen, nicht wieder einscheren lassen etc. Wer die Gesellschaft einmal verläßt, sich „außerhalb“ stellt, oder als Außenseiter erkannt wird, der findet nicht so schnell wieder Einlaß – und niemand in diesem Stau macht den Eindruck, unbedingt vorwärts kommen zu wollen, nein, es geht darum, daß niemand seinen gewohnten und angestammten Platz zu verlassen hat! Der französische Bourgeois wie er leibt und lebt…

Wollte man den Film wirklich analysieren, müsste man nun jede der Episoden hernehmen, die der Film in ca. 100 Minuten Spielzeit bietet. Es ist im Grunde – und daran merkt man dann eben doch noch Godards tiefe Verehrung des klassischen Hollywoodkinos – ein Roadmovie, ebenso, wie es auch ein Science-Fiction-Film ist. Denn auf der rein narrativen Ebene fährt das schlechtgelaunte Paar Corinne/Roland in eine apokalyptische Zukunftslandschaft, die bevölkert wird von einer dystopischen Gesellschaft, die die Zivilisation zugunsten der Barbarei aufgegeben hat, die – ein gesprochenes Referat erklärt dies genau und historisch – jener eh überlegen sei. Kannibalismus als letzter Schrei, aber auch als letztmöglicher Fluchtpunkt eines Raubtierkapitalismus, der diejenigen, die sich ihm angeblich entgegenstellen – Anarchisten, Hippies, die subkulturellen Gegenbewegungen der 60er Jahre – befällt und anfällt, wie den Spießer, den Großkapitalisten und den Kleinbürger. An diesen Stellen wird Godards Analyse fast deckungsgleich mit der des großen Italieners Pier Paolo Pasolini, der zu ähnlichen Schlußfolgerungen kam, die ihn allerdings weitaus mehr verbittert zu haben scheinen.

Dem (damaligen) Marxisten Godard gelingt eine Abrechnung mit dem Konsumverhalten ebenso, wie mit der zeitgenössischen Linken, die Linkssein zum Chic erhoben hat. Und dennoch lugen an allen Ecken und Enden noch utopisch-aufklärerisch „linke“ Ideen und Analysen hervor. Neben der oben erwähnten Kamerafahrt, konfrontiert uns Godard an anderer Stelle mit zwei ewig langen Zitaten zur Dritten Welt, bzw. den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Unseren beiden „Helden“ kommt schließlich der Wagen abhanden und sie lassen sich von einem Müllwagen mitnehmen zu der Bedingung, daß SIE den Müll einsammeln und im Wagen ausschütten. Währenddessen halten ein Kongolese und ein Algerier, die „Müllmänner“ eben, Brotzeit und haben somit Zeit, über den Status des Schwarzafrikaners und des „Osmanen“ in den Ländern der westlichen Welt zu sinnieren. Wenn man sich heute ein Kino im Jahre 1967/68 vorstellt (als ein Godardfilm ein Ereignis war), vollbesetzt, und dann diese Szene abläuft, die auch für die vermeintlich Linken im Publikum schmerzhaft gewesen sein dürfte, kann man ermessen, wie weit sich das Kino heute davon entfernt hat, sich selbst das Recht auf gesellschaftliche Relevanz zu nehmen.

Doch gibt es in diesem Film – und dem Rezensenten ist er gerade deshalb einer der liebsten Filme generell – eine ganz andere und vielleicht wesentlich wichtigere Ebene, als die ganze Gesellschaftskritik (die natürlich heute nicht mehr greifen kann, haben sich die Verhältnisse im Westen und in der sogenannten 3. Welt doch grundlegend verändert; zudem ist es heute auch weitaus schwieriger, eine relevante Gesellschaftskritik zu liefern). Das ist die Metaebene des Films selbst. Was Jean-Luc Godard später in Filmen wie SAUVE QUI PEUT (LA VIE) [1980] oder PRÉNOM CARMEN [1983] zu wirklichen Dekonstruktionen des Mediums nutzt, all die Experimente mit schriftlichen Zwischentiteln, die darauf hinweisen, daß man es mit „Rot“ zu tun habe, seine „freie Kamera“, die sich ihre Objekte selbst sucht und nicht den Anweisungen des Regisseurs (Autors) Folge leisten will, oder auch die Ideen zur A-Synchronizität von Bild- und Tonspur (die ihn viele zugeneigte Zuschauer gekostet haben) – all diese Experimente, mit denen er den Film als „Wahrheit, 24 mal in der Sekunde“ zu erforschen begann, sind hier bereits angelegt. Vor allem das Spiel von Bild und Ton hat hier eine ganz eigene Aussagekraft.

In Bezug auf den kakophonischen Stau schon angedeutet, spielt Godard in einer der ersten Szenen des Films damit, daß der Ton die Filmspur okkupiert und zu beherrschen beginnt. Corinne erzählt – allerdings im Ton einer Bestattungsrede – ihrem Geliebten von einem Experiment in Gruppensex, dessen „geile“ Teile wir allerdings nicht verstehen können, da die Musik des Films sich jedesmal, wenn es „interessant“ wird, bedrohlich dräuend über die Dialogspur legt. So wird unser voyeuristisches Sichergötzen an den von Corinne beschriebenen Stellungen (die in den Momenten, die wir verstehen, an de Sade und dessen technokratische Anordnungen des körperlichen Gelüstes erinnern) permanent unterlaufen. Auf der Handlungsebene deutet Godard hier an, daß allein schon der Erzählvorgang mit den „verbotenen“ Inhalten gefährlich werden könne für die bürgerliche Klasse, denn mit der Zersetzung der monogamen Ehe beginnt die Auflösung der bürgerlichen Sicherheit – selten wurden Doppelmoral, Verlogenheit und Bigotterie bei gleichzeitiger Gier auf und Lust am Verbotenen derart einfach und doch prägnant eingefangen. Auf der formalen Ebene jedoch haben wir es hier mit einem Moment in der Filmgeschichte zu tun, der nachhaltig verstört. Denn Godard untergräbt den heimlichen Pakt des Kinos, des Films mit dem Zuschauer. Wo Hitchcock einige Jahre zuvor in REAR WINDOW (1954) den Pakt noch einmal – sozusagen an der Oberfläche“ – bekräftigte, indem er ihn deutlich zeigte: Den Voyeurismus des Publikums, dessen Lust am verbotenen Schauen, und das Versprechen des Films, dieses folgenlos zu bedienen, kündigt Godard den Pakt in diesem Moment auf. Er läßt uns nicht teilhaben und verdeutlicht uns auch, daß man es in der Differenz von Bild und Ton möglicherweise mit einer Un-Einheit zu tun hat.

Sowohl diese Bild/Ton-Differenzen als auch die Schrifttafeln, die uns immer wieder auf Einzelheiten hinweisen, verwirren und den Erzählfluß nachhaltig stören, untergraben unsere Sehgewohnheiten, sie unterminieren sie geradezu. Godard macht den Film kaputt – so in etwa könnte man das beschreiben. Denn wer WEEK END gesehen hat, wird sich schwer tun, NICHT anzufangen, Filme mit anderen Augen zu sehen…fin de cinéma…

Und was hat uns das alles heute noch zu sagen? Ganz sicher hat man es bei diesem Film ersteinmal mit einem Schlüsselwerk der 60er Jahre zu tun. Dann hat man es mit einem Schlüsselwerk der Linken zu tun und zudem mit einem Experimentalfilm allererster Güte, der uns etwas über das Schauen lehrt. Und außerdem kann man an diesem Klassiker beobachten, daß der vermeintlich so intellektuelle Jean-Luc Godard vor allem auch eines besitzt: Humor. Denn zumindest die erste Hälfte des Films ist in ihrer Beobachtung der französischen Spießerseele einfach urkomisch. Es ist eine Farce statt eines Dramas, wie in diesem Film die Welt nach und nach untergeht. Daß das dann irgendwann schon anfängt zu kippen und uns ernsthaft ratlos zurückläßt mit unseren Gedanken zu den ebenso großartigen wie bedrohlichen Bildern einer komplett aus den Fugen geratenen Welt, genau das macht das Genie dieses Meisterregisseurs aus.

Und auch sei zu bedenken gegeben, daß man hier die Einflüsse sehen kann, die dieses Kunstkino dann auch auf den Mainstream hatte. Die Absurdität, die sich Quentin Tarantino aneignete, der Einfluß auf David Lynch und – da ist sich der Rezensent sicher – Fime wie George A. Romeros DAWN OF THE DEAD (1978), dessen Zombies erstaunlich an die Leichen erinnern, die diesen Film schmücken. Auf philosophischer Ebene (und Godard ist m.E. genau das – ein Philosoph mit der Kamera, anstatt mit der Feder) lassen sich die Verwandtschaften v.a. mit den Denkern der „Postmoderne“, namentlich Jacques Derrida und dessen Auflösung binärer, supplementierter Systeme/Strukturen/Hierarchien beobachten. Der massive Einsatz von Schrifttafeln läßt den Film (und uns) immer wieder über das Nebeneinander von Wort und Bild nachdenken, wie über die hierarchische Struktur der beiden. Daß dann auch noch der Ton dieses Films „verrücktspielt“, gibt dem Ganzen eine weitere Ebene – überall sind Zeichen, die einander bedingen, die einander erst hervorbringen können, doch wer beherrscht hier wen? Oder gibt es diese Art von „natürlicher Beherrschung“, „natürlicher Hierarchie“ gar nicht (mehr)[1]? Fast ist man versucht, diese philosophischen Ebenen, Gedanken und Vexierspiele des Films zu seinem „eigentlichen“ Thema zu erklären…auch wenn es das „Eigentliche“ ja sowieso nicht mehr gibt…

Selbst wenn man mit Experimental- und sogenanntem „Kunstkino“ nicht viel anfangen kann: Diese 100 Minuten „Anstrengung“ sollte sich jeder wirklich Filminteressierte wenigstens einmal antun.

Großartig!

[1]Man bedenke – Derridas erste „große“ Texte – zu deutsch DIE SCHRIFT UND DIE DIFFERENZ, DIE STIMME UND DAS PHÄNOMEN sowie sein „Hauptwerk“ GRAMMATOLOGIE – erschienen ebenfalls alle 1967.

2 thoughts on “WEEKEND/WEEK END

  1. sehr gute und interessante Besprechung !
    Merci!
    mit freundlichen Grüßen
    Michael Schackwitz

    1. Gavin sagt:

      Hallo Herr Schackwitz,

      vielen Dank für das Lob. Tut gut!

      Grüße,
      Gavin Armour

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