DIE INTERESSANTEN/THE INTERESTINGS

Ein Zeitpanorama, das wie aus der Zeit gefallen wirkt

Dies ist ein gutes Buch, dem dennoch nicht unwidersprochen bleiben kann. Es verwundert nicht, daß es mit den Werken eines Jeffrey Eugenides oder eines Jonathan Franzen verglichen wird, obwohl es nicht derart gediegen daherkommt, wie das Werk des letzteren und auch nicht so skurril, wie Eugenides streckenweise sein kann. Doch was Meg Wolitzer mit beiden verbindet, ist die Perspektive einer immer dünner werdenden amerikanischen Mittelschicht, ist die Erzählung aus dem amerikanischen Bürgertum. Und es muß schon eine halbwegs gesicherte bürgerliche Existenz sein, damit man so unbeeindruckt von den Zeitläuften über eine Zeitspanne berichten kann, die sich immerhin von der Mitte der 1970er bis in die unmittelbare Gegenwart zwischen Terrorängsten und Finanzkrisen erstreckt.

Im Zentrum der Erzählung steht Julie „Jules“ Jacobson, ein etwas blasses, rothaariges, sich zur Schauspielerei berufen fühlendes Mädchen, das als um seinen gerade gestorbenen Vater trauernder Teenager erstmals in das Sommercamp „Spirit in the Woods“ kommt. Dort – in einem Camp für künstlerisch/kreativ Interessierte Jugendliche – trifft sie auf eine Gruppe anderer Teenager – die Geschwister Goodman und Ash Wolf, die schließlich ihre beste, lebenslange Freundin werden wird;  Ethan Figman, ein außergewöhnlich hässlicher und zeichnerisch außergewöhnlich talentierter Junge, der ein Animationsimperium aufbauen wird; den zarten, schönen und schwulen Jonah Bay, dessen Mutter eine Ikone der Folk- und Hippieszene ist (und verteufelt an eine Mischung aus Joan Baez und Melanie erinnert); Cathy Kipplinger, die ein großes Talent zum Tanzen mitbringt, der aber leider ein allzu weiblicher Körper die erträumte Karriere zunichtemachen wird – mit denen sie in drei aufeinanderfolgenden Jahren immer enger zusammenwächst und die sich schließlich „Die Interessanten“ nennen, in vollem adoleszenten Glauben an die eigene Unfehlbarkeit. In einem keiner Chronologie folgenden, oft assoziativ wirkenden episodischen Erzählstil wird uns teils anekdotisch, oft in ebenso weit ausgreifenden, wie ineinander verschachtelten Erinnerungsketten – meist aus Jules´ Sicht – von den Schicksalen dieser Menschen im Laufe ihres Lebens berichtet.

Wie Ethan versucht, Jules zu erobern und daraus eine lebenslange stille und bewundernde Liebe wird, die sie nicht erwidern kann; wie schließlich Ethan und Ash ein Paar werden, Ethan zudem reich wird mit seinen Animations- und Zeichentrickserien; wie Jonah beinah in der Moon-Sekte verschwindet, wie ein Freund seiner Mutter ihn früh im Leben mit LSD tränkt und damit eine ewig dauernde Hypersensibilisierung auslöst; wie Jules ihre Verletzungen davon trägt, einsehen muß, keine Schauspielerin zu sein, wie sie den depressiven Dennis heiratet und ein „ganz normales Leben“ führt; wie schließlich Cathy behauptet, Goodman habe sie vergewaltigt, ihn anzeigt und der aus den USA flieht, während der Rest der Gruppe Cathy ausschließt – es entsteht ein weites Panorama, ein Panoptikum, ein Kosmos aus in sich verschlungenen Schicksalen und Lebenswegen. Aus diesen Grundkonstellationen entwickelt Wolitzer ein Geflecht von Handlungssträngen und Themenkomplexen um Fragen von Neid, Schuld oder Emotionen und die Erfüllbarkeit von Träumen. Dies zieht sich durch den Roman hindurch und bietet das Korsett, das letztendlich eine homogene, dramatisch strukturierte Handlung ersetzt. Es gelingt Wolitzer streckenweise auf atemberaubende Weise, diese Leben greifbar zu machen. Indem sie sie nicht hermetisch sich aufeinander beziehen läßt, sondern dem Leser glaubhaft vermitteln kann, daß es echte, ausführliche Lebenswege und -stränge auch abseits des im Roman Beschriebenen gibt. Auch dadurch erhalten die Figuren eine dichte Textur, sie werden sehr vielschichtig und wir folgen Worlitzers Erzählung sogar in jenen Momenten, in denen uns das Personal bis auf vielleicht eine Ausnahme – den scheinbar immer guten Ethan Figman, den auch außergwöhnliche Reichtum nicht verbiegt und davon abhält, gut und reinen Herzens zu sein, zumindest recht lange im Leben, bis auch er im Angesicht eines nahezu autistischen Sohnes an die Grenzen der eigenen Toleranz stößt – durchweg unsympathisch ist. Gerade dadurch werden diese Figuren aber auch dreidimensional, bekommt das erzählerische Korsett Fleisch, Muskeln und Sehnen. Weite Strecken des Romans wohnen wir durchaus Menschen bei, deren Konflikte, Krisen und Freude wir meist nachvollziehen können, die uns berühren. In denen wir uns teils wieder erkennen können. Doch behalten sie durch die weit ausgreifende Narration auch etwas Skizzenhaftes. Nicht alle sind ähnlich gelungen wie die vielschichtige Figur der Jules Jacobson. Ethan Figman zumindest weist ähnliche Tiefenschärfe auf, auch Jules´ Mann Dennis, Ash Figman hingegen gerät schon weitaus holzschnittartiger und auch Jonah Bay bleibt mehr Entwurf denn Charakter. Es sind dann Details, die wegen  Ungenauigkeit das Niveau nah an der Soap entlang schrammen lassen. Unterhaltsam ist das natürlich alles dennoch, da Wolitzer literarisch mit einer starken Sprache überzeugt. Das Gewebe des Textes ist fein gesponnen. Der Ansatz, Gedankensplitter als Stolpersteine der Erinnerung zu nutzen, hat natürlich große Vorbilder, ist aber dennoch überzeugend eingesetzt, um die manchmal arg verschachtelten Labyrinthe der sich aufeinander beziehenden Episoden, die manchmal nach 20, 30 Seiten plötzlich wieder an den Ausgangspunkt im momentanen Jetzt des Romans zurückführen, zu betreten und zu durchwandern. Es gelingt Wolitzer immer, auf dem schmalen Grat der Ellipse zu balancieren, ohne ins Chaotische, den Leser vollends Verwirrende zu kippen. Das ist schon die hohe Kunst der Romankomposition.

Da, wo die Figuren holzschnittartig werden, lauert die Gefahr, in die der Roman sich allerdings begibt: Der der Irrelevanz. Irrelevanz, weil das ganze Konstrukt apologetischen Charakter annimmt. Beruhigungsprosa, gewissermaßen. Ash wird uns immer wieder als Regisseurin feministischer Theaterstücke präsentiert, Jonah und Ethan erinnern sich lachend daran, wie sie sich im Camp, Mitte der 70er, ausgemalt haben, was sie mit Nixon machen würden – keine dieser „politischen Haltungen“ wird im Roman je wirklich reflektiert. Im „Fall“ Nixon kann man natürlich von durch Jugendliche übernommene „erwachsene Haltungen“ sprechen. Doch Ash, die als dezidiert feministisch verstanden werden soll, nimmt nie, an keiner Stelle des Romans, Stellung zu feministischen Themen oder Thesen, auch zu einer Regierung wie der Reagan-Administration oder zu jenen Vorgängen der 80er Jahre, die zu massiver Verarmung in den USA geführt haben. Der Niedergang der Mittelschicht, der zumindest Jules entstammt, findet zwar subtil Eingang in der Beschreibung der Lebensverhältnisse einer dreiköpfigen Familie, in der immerhin beide Erwachsenen in Lern- und Studienberufen arbeiten. Die Geldnöte, die Angst vor sozialem Abstieg wird zwar thematisch immer wieder gestreift, doch findet dies nie als politische Überlegung in den Gedankengängen der Protagonisten statt, scheinen diese Krisen immer naturgegeben. Auch der gegenteilige Weg, hinaus aus der Mittelschicht hinauf in die Upper Class, der Ash auf „natürliche“ Art und Weise angehört – den Ethan exemplarisch beschreitet, wenn er in den medialen 80ern mit einer Zeichentrickserie, die man im Geiste mit den SIMPSONS oder SOUTH PARK besetzt, in die Sphäre der Superreichen à la Ted Turner aufsteigt – wird eben nicht mit den neu eröffneten Möglichkeiten am Kapitalmarkt in Verbindung gebracht. Man wollte meinen, Ethans Aufstieg sei eben immer und zu allen Zeiten möglich – in Amerika.

Nein, im Gegenteil: Jede Art potentieller politischer Reflektion wird ins Private verschoben: Jules leidet Jahre unter extremen Neidgefühlen gegenüber Ash und deren in ihren Augen perfektem Leben, hinterfragt jedoch nie die soziale Situation, die herrscht und sie – immerhin Therapeutin mit eigener Praxis – davon abhalten könnte, ebenfalls, zumindest bescheiden, am Wohlstand des Landes teilzuhaben. Ash bringt feministische Gedanken auf die Bühne, will aber Jahrzehnte nicht hinterfragen, ob ihr Bruder sich möglicherweise doch an ihrer früheren Freundin vergangen hat – ein Punkt, den das Buch erfreulicherweise selber hinterfragt. Nun kann man argumentieren, daß diese eher unpolitische und innerliche Haltung die amerikanische Mittelklasse gerade charakterisiert, doch steckt darin auch wieder die Bestätigung genau dieser Haltung: Es bleibt in der Familie. Daß die deutlich der New Yorker Upper Class zuzurechnende Familie Wolf einen möglichen Vergewaltiger jahrzehntelang deckt, da er nun mal der Sohn ist, stellt der Roman zwar in Frage, doch bleibt diese Infragestellung – wie so vieles hier – reine Behauptung, wohlfeil, da ohne Konsequenz. Daß eben dieser mögliche Vergewaltiger sich schließlich als verkommenes Subjekt entpuppt, eine Art Dorian Gray, dem seine Boshaftigkeit schließlich in die Züge gekerbt ist, bestätigt erneut die politisch zurückhaltende Position des Romans – strafen kann das Schicksal, scheint es zu raunen. Interessanterweise sind es solche Momente, in denen der Text unsicher erscheint und der Leser den Eindruck erhält, da hat die Autorin ebenfalls nicht so recht gewußt, wohin. Diese Schickale jedenfalls erscheinen wie in einer Blase. Da sie nie in echten Bezug zur sozialen und politischen Realität gesetzt werden – Jonahs langjähriger Freund, der HIV-positiv getestet wurde, sei als Ausnahme unbedingt erwähnt – scheinen diese Figuren auch vollkommen irrelevant, sie erzählen uns nichts, außer von ihren Befindlichkeiten. Und die wiederum sind alles mögliche, wirklich interessant sind sie eben nicht. So gelungen der Roman als Beziehungsroman, als eine Art von Wahlverwandtschaften funktioniert, so entrückt wirkt er seinen Zeitbezügen. Entpolitisiert und somit letztlich eine bürgerliche Haltung bestätigend, die er nie anprangert, die nie wirklich kritisch betrachtet wird. Man denkt gelegentlich an Romane wie Marilyn Frenchs THE WOMEN´S ROOM (dt.: FRAUEN) und deren Dringlichkeit, die man hier vermisst. Die Entwicklungen dieser Leben wirken zwangsläufig. Und damit zwangsläufig literarisch. Natürlich denkt man an Franzens Gesellschafts- und Familienportraits und merkt, daß es ähnliche ideologische Vorbehalte sind, die einen gegen einen an sich sehr gelungenen Roman einnehmen.

Man fragt sich sehr grundsätzlich, was die Motivation dafür ist, die mehrere Dekaden  umspannenden Lebensgeschichten einer Freundesgruppe aus der amerikanischen Mittelschicht zu erzählen, in der schlicht keine der wesentlichen Konfliktlinien dieser Zeitspanne eine wesentliche Rolle spielen, wenn doch eigentlich die Bedrohung dieser Mittelklasse gerade durch diese Zeitläufte das Interessanteste an deren Geschichte ist. Meg Wolitzer erzählt oft mitreißend, sie erzählt mit Verve, mit Charme und manchmal sogar mit Witz eine an sich unwitzige Geschichte. Fraglos berührt sie und packt den Leser. Doch sobald man sich vom reinen Leseerlebnis erholt hat, fragt man sich schon, welch einem Projekt der inneren Beruhigung, ja Apologie man da eigentlich beigewohnt hat? Ja, Beschwichtigungsliteratur.

 

 

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