MIT DER FAUST IN DIE WELT SCHLAGEN

Eine Jugend unter spezifisch sächsischen Prämissen

Der 1994  geborene Lukas Rietzschel berichtet in seinem Debut-Roman MIT DER FAUST IN DIE WELT SCHLAGEN vom Erwachsenwerden in der deutschen Provinz unter den besonderen Bedingungen der Nachwendezeit. Das wäre die  einfachste Zusammenfassung für diesen im Herbst 2018 erschienenen und in allen Feuilletons hoch  gelobten Roman. Der Leser nähert sich dem Werk also mit klaren Vorstellungen: Vielleicht erklärt hier mal einer, wieso es gerade in Sachsen vermehrt zu rechtslastigen bis rechtsradikalen Entwicklungen kam, wieso dort eine menschenfeindliche Ideologie bis weit in die Zivilgesellschaft verankert und somit gedeckt scheint. Denn nicht zuletzt unter dieser Prämisse wurde Rietzschels Werk rezipiert.

316 Seiten später steht man ein wenig ratlos vor dem Ergebnis der Lektüre. Hat man zu viel erwartet? Hat man es sich vielleicht gar zu einfach gemacht? Antworten auf die Frage, warum nun ausgerechnet in Sachsen passiert, was dort passiert, findet man hier nämlich gerade nicht. Rietzschel erzählt, durchaus gekonnt, von den Irrungen und Wirrungen der Pubertät. Davon, wie Langeweile, Gruppendruck und sicherlich auch die Spezifika einer ostdeutschen Jugend in den späteren Nachwendejahren – der Roman spielt zwischen den Jahren 2000 und 2015, also keineswegs, wie gelegentlich dargestellt, in den 90er Jahren – zu Radikalisierung einerseits, Abstumpfung andererseits führen. Protagonisten sind die Brüder Tobi und der etwas ältere Philipp, die in Neschwitz, im Dreieck zwischen Dresden, Hoyerswerda und Bautzen gelegen, in den 00er und 10er-Jahren des neuen Jahrtausends aufwachsen. Rietzschel hält – auch das gekonnt – weitestgehend die Perspektive der Jungs ein, was ihm die Möglichkeit gibt, manches, was diesen widerfährt, was sie beobachten, was sie erleben, unkommentiert stehen zu lassen. Oft rein deskriptiv erlebt der Leser die Entfremdung der Eltern, oft ohne Erklärung, man muß sich die fehlenden Stücke selbst erarbeiten, die Lücken füllen, die die Erzählung lässt. Auch vom Rechtsruck an der Schule, dem Auftauchen verbotener Symbole, Übergriffen auf Ausländer, die als „Streiche“ deklariert werden, berichtet Rietzschel mit eher distanziertem Blick. Er urteilt nicht über seine Figuren, noch verdammt er sie, allerdings beschönigt er auch nichts. Manches bleibt, wie gesagt, im Verborgenen oder wird nur angedeutet, in einem Nebensatz vielleicht, und muß vom Leser eigenständig beigefügt werden – bspw. der Verlust jener, die gehen, allein oder mit der Familie. Vieles bleibt vage, manches wird zwar detailliert geschildert und doch unverständlich, weil eben aus der Perspektive von 13- oder 14jährigen erzählt, denen die Erwachsenen nicht alles mitteilen, da sie die Kinder vor allzu viel Wirklichkeit zu schützen versuchen.

Was in den frühen Jahren, geschildert im ersten Teil, in den Jahren 2000 bis 2004 geschieht, scheint noch hoffnungsvoll: Die Eltern bauen ein Haus, die Freunde der Familie ziehen gleich nebenan ein, der Vater hat Arbeit, es scheint nach den schweren Jahren der direkten Nachwendezeit voran zu gehen. Doch auch hier schleicht sich die Vergangenheit – wenn auch nur in Andeutungen – ein, wenn bspw. Uwe, ein Bekannter von Tobis und Philipps Vater, der beim Hausbau hilft, Selbstmord begeht, vordergründig, weil die Frau weg ist, doch wird immer wieder geraunt, dieser Uwe sei eben auch bei der Stasi gewesen und habe ein Paria-Leben geführt. Berühren tut dies das Leben der Jungs allerdings nur marginal. Im zweiten Teil, der die Jahre 2004 bis 2006 umfasst, werden die Entwicklungen konkreter. Hier, so scheint es, kommt Rietzschel auch zu sich selbst, zum Kern dessen, was er erzählen will, hier wird die Beschreibung pubertärer Entwicklung genauer und treffender. Unsicherheit, Verlustangst, erste Rebellion und Bewunderung jener älteren Jungs, die sich „was trauen“ – das ist schon stimmig und in sich konsequent. Wie es kommen kann, daß man sich plötzlich in Gesellschaft von Leuten wiederfindet, die vielleicht gefährlichen EInfluß auf jugendliche Köpfe haben, wie Parolen genutzt werden, um sich als möglichst hart und abgefeimt zu präsentieren, all das erfasst der Autor treffend. Daß dabei oft nachgeplappert wird, was man am Stammtisch des Vaters oder am Abendbrottisch daheim aufgeschnappt hat, daß Ideologie im engeren Sinne im Grunde (noch) keine Rolle spielt – auch dies wird deutlich. Doch dann macht Rietzschel einen Zeitsprung von nahezu sieben Jahren und fährt im dritten Teil ab dem Jahr 2013 fort. Plötzlich haben sich die Rollen des eher unsicheren Tobi und des sich abgehoben gebenden Philipp nahezu verkehrt. Der jüngere hat die Freunde des älteren übernommen, der ältere hat sich mittlerweile zurückgezogen. Und auf einmal sind die Parolen nicht nur Dahergeredetes, sondern ernst gemeint. Todernst.

Psychologisch nachvollziehbar ist das dann allerdings nicht mehr. Zu plötzlich die Wandlungen der Brüder, zu sehr verlässt sich der Autor scheinbar darauf, daß seine Leser „schon wissen“. Die Lücken, die der Text hier bewußt lässt, sind denn doch zu groß. Wir müssen sie mit unserem Zeitungs- und Magazinwissen füllen, wodurch der Autor die Hoheit über seinen Text nicht nur in gewohntem Maße verliert, sondern ihn geradezu hergibt für Interpretation und Pfropfungen. Aber vielleicht wollte Rietzschel eben auch gar nicht erklären, sondern lediglich aufzeigen. Mag sein. Sein Stil – meist kurze Sätze, wenig  Einschübe, deskriptiv und eben distanziert – legt die Annahme nahe. Ob das die Wirkung zeitigt, die möglicherweise erzielt werden sollte, sei einmal dahin gestellt. Allerdings kommen dem Leser die Parolen über Ausländer, linke Zecken und darüber, daß „früher auch nicht alles schlechter war“ dann einerseits so bekannt vor, daß sie keinen literarischen Mehrwert erzeugen, andererseits beschleicht einen aber auch das Gefühl, daß hier letztlich auch nur einer nachplappert. Muß man sich, wie Tobi, zwangsläufig einer Bewegung wie „Pegida“ anschließen? Und bleibt als Alternative wirklich nur die Resignation, der Rückzug in das eigene Innere, wie es bei Philipp eher angedeutet denn auserzählt wird? Findet nicht sogar eine gewisse Apologie statt, wenn der Roman kaum andere Möglichkeiten aufzeigt, allerhöchstens jene des Entkommens, indem man die Gegend verlässt?

Das ist nicht zwingend und erlaubt auch keine Rückschlüsse auf ostdeutsche oder besondere sächsische Befindlichkeiten. Was Rietzschel erzählt, ist eben die Jugend zweier Brüder in Deutschland. Hätte dies nicht genauso auch in Mannheim, Köln, Gelsenkirchen oder Hamburg geschehen können? Doch, hätte es. Vielleicht ist das der eigentliche – ungewollte? – Verdienst des Buches: Aufzuzeigen, daß es, wenn man fünf Jahre nach der Wende geboren wurde, durchaus eine gesamtdeutsche Jugend gegeben haben kann, daß sich Entwicklungen in den ehemals neuen Bundesländern nicht allzu sehr von denen in den ehemals alten Bundesländern unterscheiden müssen. Ehekrach und Auszug eines Elternteils, Verlust des Arbeitsplatzes und die damit einhergehende Unsicherheit, das Andocken an Gruppen, die mit ihrem Auftreten und Gebaren Sicherheit und Stärke versprechen – all diese Merkmale weisen viele Jugenden in den unterschiedlichsten deutschen Gegenden, Städten, Provinzen auf. Sicherlich kommt in Sachsen eine spezifische Vergangenheit hinzu, die zu spezifischen Perspektiven führen kann, aber auch dies ist letztlich exemplarisch, denn ob am Niederrhein, in der bayrischen Provinz oder irgendwo in der Lüneburger Heide wird es ebenfalls eigene, spezifische Bedingungen geben, die zu eigenen, spezifischen Entwicklungen führen.

Lukas Rietzschel hat ein meist kluges Buch über die Pubertät geschrieben, darüber, wie verführbar man ist, wie leicht man falschen Annahmen aufsitzt, wie man sich blenden und einlullen lässt von denen, die großspurig und überzeugt genug auftreten. Er gibt Hinweise darauf, wieso dies in Ostdeutschland unter besonderen Bedingungen zu besonderen Entwicklungen führen kann, doch sollte man in einem Buch wie MIT DER FAUST IN DIE WELT SCHLAGEN keine Antworten auf drängende Fragen der Zeit suchen. Da bleibt ein Werk wie Peter Richters 89/90 immer noch wesentlicher, genauer und auch tiefgreifender. Rietzschel beweist, daß wir mittlerweile auf einer bestimmten Ebene eben doch auch eine gewisse Annäherung vollzogen haben und daß sich einiges mittlerweile auch ähnelt. Im Grunde ist das ein eher beruhigender Befund.

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