DER ERBE VON BALLANTRAE/THE MASTER OF BALLANTRAE

Ein mitreissendes Familienepos

Berichtet wird uns – ausgebreitet über einen Zeitraum von nahezu 25 Jahren – die Geschichte der Gebrüder Durie, des älteren Bruders James, Junker auf Durrisdeer, genannt Mr. Bally, und seines jüngeren Bruders Henry. Der Verwalter Ephraim Mackellar erzählt davon, wie der draufgängerische, dem Leben mit Hohn, seiner Familie meist mit Verachtung begegnende James in den Wirren nach der Schlacht von Culloden fliehen muß, wie er in Paris, auf See und schließlich in der neuen Welt sein Glück zu machen versucht, zurückkehrt, die Familie terrorisiert, seinen Bruder, der ihm seiner Meinung nach Rang, Stellung und schließlich die Frau genommen hat, derart reizt, bis es schließlich zum Duell der scheinbar so Ungleichen kommt, welches der Jüngere gewinnt. Der für tot Gehaltene kann sich retten, flieht erneut den Ort seiner Schmach, kehrt erneut zurück, diesmal mit einem seltsamen indischen Diener im Gefolge, was die Familie – James, seine Frau Alison sowie die Kinder Katherine und Alexander – dazu veranlasst, Schottland hinter sich zu lassen und nach Amerika, genauer: nach New York zu fliehen. Mackellar berichtet uns von den Wochen, die er gemeinsam mit dem ihm verhassten Mr. Bally auf Durrisdeer verbringt, in der Annahme, mit seinem ihm mittlerweile freundschaftlich verbundenen Dienstherrn, Henry Durie, nun seit geraumer Zeit immerhin Lord Durrisdeer, einen teuflisch guten Plan ausgeheckt zu haben, um den Feind im eigenen Haus in Schach halten zu können. Doch Mr. Bally, seines Zeichens immer noch der ‚Master of Ballantrae‘, ist keineswegs bereit, sich geschlagen zu geben. Und so treten die beiden, gemeinsam mit Mr. Bally ergebenem Diener – Secundra Dass – die Überfahrt in die Kolonien an, um dort die Entscheidung herbeizuführen. In den Wäldern des nördlichen Staates New York schließlich wird die Brüder ihr Schicksal ereilen.

1889 erstmals erschienen, hat man es bei dieser schönen Neuübersetzung und gelungene Ausgabe des MASTER OF BALLANTRAE mit einem hierzulande eher unbekannten Werk des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson zu tun. Wie in seinem Großwerk KIDNAPPED entwickelt sich die Handlung auch hier aus den Wirrnissen des Jahres 1745, als mit Bonnie Prince Charlie noch einmal ein schottischer Monarch des Hauses Stuart versuchte, die Unabhängigkeit von England zu erreichen und den schottischen Thron zu besteigen.

Robert Louis Stevenson gilt heute gemeinhin als Verfasser von Abenteuergeschichten, die sich hauptsächlich an jüngere Leser wenden. Eine fatal falsche Schlußfolgerung. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde diese Literatur zu Kinderliteratur, allem voran die „Schatzinsel“, ebenfalls ein Werk Stevensons. Dabei kann man schon dort das eigentliche Thema seines Werkes, eine Art Grundmotiv, erkennen – die Frage danach, was gut, was böse ist, wodurch sich beides definiert und wie es zueinander in Bezug steht. Ist Long John Silver gut? Ist er böse? Und wie geht man – gerade als Kind – damit um, zu wissen, daß der Mensch, der einem in unsicherer Zeit Schutz bietet, moralisch gesehen vollkommen bankrott ist? Zumindest gegen die gültige zeitgenössische Moral gestellt? Stevensons berühmteste Auseinandersetzung mit dem Thema ist zweifelsohne DR. JEKYLL AND MR. HYDE, wo er – vollkommen unbeeindruckt von moderner Psychoterminologie – das Drama einer gespaltenen Persönlichkeit in Zusammenhang bringt mit der Allegorie auf den Menschen an sich, der sich eben seiner dunklen Seite zu stellen hat. Doch hier, im MASTER OF BALLANTRAE kommt etwas anderes hinzu – nie, so wird Stevenson im Anhang zitiert (aus einem Brief an seinen Verleger), nie sei er dem Teufel so nah gekommen, wie in der Charakterisierung des Masters selbst, Mr. Bally. Und doch gelingt ihm Erstaunliches, indem er uns, den Lesern, diese Figur zunächst fürchten, hassen und abgrundtief verachten läßt, sie zutiefst unsympathisch zeichnet, nur damit wir sie plötzlich, auf den letzten 60 Seiten nicht nur anfangen zu mögen, sondern vor allem beginnenden Respekt empfinden. Ja, sogar die Motive, die hinter der scheinbaren Respektlosigkeit, der Böswilligkeit stehen, mit der er seiner Familie begegnet, erschließen sich uns mehr und mehr. Bis hin zu dem Moment, an dem wir ihm sein zuvor als Anmaßung empfundenes Reden anfangen abzunehmen – „In mir ist etwas Königliches!“ herrscht er Mackellar auf der Überfahrt nach Amerika an. Und obwohl – oder gerade deswegen? – Mackellar sogar versucht, ihn umzubringen, kann er nicht umhin, diesen Mann mehr und mehr zu achten. Immerhin gelingt es dem Junker, aus dem an sich ebenso feigen wie geschwätzigen Mackellar den Mut zu einer gemeinen, ja bösen Tat hervorzukitzeln. Das ist psychologisch großartig und literarisch Weltklasse. Da erreicht Stevenson Höhen, aus denen sonst solche Giganten wie Dostojewski oder Flaubert herunter lugen. Und man begreift, daß so mancher Spätere – namentlich sei hier Joseph Conrad genannt – viel von Stevenson gelernt hat.
Stevenson begreift seine Figuren sehr genau und er verfügt über die Möglichkeiten, ihnen sehr genauen Ausdruck zu verleihen. Die inneren Bewegungen, die Motive werden konsequent ins Außen verlagert, Handlung und Aktion sind ihm wesentlich. Und dennoch mangelt es den Figuren, der Handlung, den Konflikten nicht an Tiefe und der nötigen Reibung. Es sind letztlich moralische Konflikte, die diese Protagonisten umtreiben und sie werden im Ablauf der Handlung, in der Tragik des Scheiterns an den eigenen inneren Widersprüchen gespiegelt und verdeutlicht. Dazu trägt ganz ungemein die Art der Erzählung bei. Stevenson wählt den indirekten Weg, indem er mit Mackellar einen eigentlich Unbeteiligten, einen, der von außen kommt und somit scheinbare Objektivität vorweisen kann, berichten läßt. Doch ändert sich der Ton der Erzählung, fast meint man einem geistigen Wandel beizuwohnen, wenn der Erzähler nach anfänglicher Abscheu und Verachtung beginnt, langsam, gegen seinen Willen, Respekt und schließlich sogar Verständnis für seinen Feind aufzubringen. Dadurch, daß Mackellars Erzählung dreimal – zweimal durch Einschübe aus den Aufzeichnungen eines Oberst Burke, der Mr. Bally nach der Schlacht bei Culloden begleitete und einige Abenteuer mit ihm teilte, einmal durch die Erzählung eines Händlers, der von den Ereignissen im Norden des Staates New York erzählt – unterbrochen wird, erhält sie hohes authentisches Gewicht, wirkt noch mehr, als die Aufzeichnungen Mackellars an sich schon, wie ein für ein erlesenes Publikum zusammengestellter Bericht.

Einzige – vermeintliche – Schwachstelle ist vielleicht das Ende des Romans, wenn die Ereignisse sich anfangen zu überschlagen und alles auf eine ebenso finale wie letale Lösung zudrängen muß. Allerdings findet Stevenson eine Lösung – die hier nicht unbedingt verraten werden soll – die dem Begriff ‚Master‘ ebenso gerecht wird, wie sie diese epische Geschichte zweier in gegenseitigem Hass vertaner Leben zu einem schlüssigen Ende bringt.

THE MASTER OF BALLANTRAE ist ein vielleicht doch wieder- oder neu zu entdeckendes Werk Robert Louis Stevensons, das hier in dieser gelungenen Neuübersetzung in einer sehr schön kommentierten und mit verschiedenen Vorwortfassungen des Autors, sowie einem klaren Nachwort der Übersetzerin Melanie Walz ausgestatteten Ausgabe vorliegt. Es lohnt sich!

[Text bezieht sich spezifisch auf die dtv-Neuausgabe 2012]

2 thoughts on “DER ERBE VON BALLANTRAE/THE MASTER OF BALLANTRAE

  1. Steffi sagt:

    Stammt die Neuübersetzung aus dem Jahr 2012, bzw. von wem ist sie? Eine so neue Ausgabe kann ich im Netz nirgends finden und ich bin mir nun nicht sicher, ob es sich um dieselbe Übersetzung wie in der Artemis & Winkler-Ausgabe von 1988 handelt. Da ist zumindest erstmals von „Erbe“ statt von „Junker“ die Rede.

  2. Gavin sagt:

    Hallo!
    Die Übersetzung stammt von Melanie Waltz und wenn ich es richtig einschätze, erschien die neuübersetzte Erstausgabe bei Mare. Ansonsten dtv. Ist von 2010/12.

    Ich glaube, die Ausgabe ist definitiv neuer.

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