DIE TOTEN FRAUEN VON JUÁREZ/THE DEAD WOMEN OF JUÁREZ

Eine Anklage im Gewand eines hard-boiled Noirthrillers

Aufgeteilt in vier Abschnitte, wird uns zunächst vom Leben des amerikanischen Boxers Kelly berichtet, den eine dunkle Geschichte in seiner Vergangenheit dazu zwang, nach Mexiko zu gehen, um amerikanischen Ermittlungsbehörden zu entgehen. In Mexiko verdingt er sich bei unangemeldeten Faustkämpfen, bei denen er das Fallobst für junge, hungrige Mexikaner geben soll. Mit seinem Kumpel Estéban vertickt Kelly Marihuana an die amerikanischen Touristen, selbst allerdings ist er heroinabhängig. Mit Estébans Schwester Paloma unterhält Kelly eine komplizierte, nicht wirklich gefestigte Beziehung. Paloma arbeitet für die Organisation ‚Mujeres Sin Voces‘, die sich um die Hinterbliebenen verschwundener Frauen kümmert und dafür sorgt, daß die verschwundenen Töchter der Stadt nicht in Vergessenheit geraten. Als Paloma selbst verschwindet, geraten Estéban und Kelly in den Fokus der Polizei, der es weniger um Aufklärung als vielmehr darum zu gehen scheint, einen Täter – irgendeinen Täter – zu präsentieren. Kommissar Sevilla, seit dreißig Jahren beim Drogendezernat, selber Vater einer verschwundenen Tochter und Opa einer verschwundenen Enkelin, beobachtet Kelly schon seit längerem, in der Hoffnung, über diesen an die Hintermänner des lokalen Heroinhandels zu gelangen. Nun kann er nicht verhindern, daß Kelly in die Fänge des brutalen Garcia gelangt, eines Polizisten, der statt zu ermitteln per Folter Geständnisse am Laufband produziert. Als Kelly schließlich ins Koma fällt, Estéban bei einem der Verhöre derart zugerichtet wurde, daß der Tod ihm letztlich eine Gnade ist, nimmt Sevilla die Ermittlungen auf eigene Faust auf, korrumpiert den jungen Enrique, der für Garcia arbeitet und diesen verachtet, und versucht, Licht ins Dunkel um die verschwundenen, getöteten, gefolterten und vergewaltigten Frauen zu bringen. Allerdings muß er begreifen, daß er es mit einer Macht zu tun hat, die weitaus größer, stärker, mächtiger ist, als ein kleiner Drogenpolizist mit Alkoholproblemen, der sowieso am Ende seiner Laufbahn angelangt ist.

Sam Hawken spinnt in seinem Debutroman mit feinem Faden eine klassische Noir-Story um Verlierer dies-, wie jenseits des Gesetzes, um abgehalfterte Boxer, Drogensüchtige und Huren, um mächtige Männer, denen Recht und Gesetz vollkommen gleichgültig sind und das alles vor dem realen Hintergrund der fürchterlichen Serie an Frauenmorden, die in Ciudad Juárez, der Zwillingsstadt von El Paso im Süden Texas´, seit den frühen 1990er Jahren wütet und der mindestens 400, vielleicht weit über 1000 Frauen zum Opfer gefallen sind. Es wurde immer wieder in den Medien darüber berichtet, doch seit vor nunmehr fast zehn Jahren der Krieg gegen die Drogenkartelle, die sogenannten ‚Narcos‘, begonnen hat, sind diese Gräueltaten in den Hintergrund gerückt. Umso verdienstvoller, daß ein Autor wie Hawken sich dieser Fälle annimmt und in seinem nominellen Kriminalroman THE DEAD WOMEN OF JUÁREZ, der im Original 2011 erschienen ist, an sie erinnert.

Hawken bietet seinen Lesern am Ende dieses gewalttätigen und blutigen Buches, das momentweise nur schwer zu ertragen ist, ein wenig Hoffnung, wenn auch kein Happy-End. Die Hoffnung aber hat man auch bitter nötig. Mord und Totschlag, Vergewaltigungen und vor allem die Folter, der Kelly und Estéban im Gefängnis unterzogen werden, haben es in Hawkens Beschreibungen in sich. Der, darin seinen Kollegen der Hard-boiled-Fraktion nah verwandt, erspart dem Leser nichts, lässt wenig aus und überlässt auch nur selten die Arbeit der Phantasie des Lesers. Dafür bekommt man einen atmosphärisch dichten, wahrscheinlich im Vergleich zur Realität immer noch geschönten Bericht aus den Knästen Mexikos, wo ein Menschenleben vergleichsweise wenig wert zu sein scheint.

Die erste Hälfte des Buches, also die ersten zwei Teile, die sich fast ausschließlich auf Kelly und dessen Leben, auch seinen Alltag in Ciudad Juárez konzentrieren, ist gespickt mit solch blutigen Details. Denn auch in Kellys Profession, dem Boxen, das in Mexiko den Charakter eines Volkssports hat, erspart uns Hawken kaum die Einzelheiten. Das Binden der Hände, das Einsetzen des Mundschutzes (wenn es denn einen gibt) wird uns ebenso minutiös geschildert, wie das Geräusch, wenn Fäuste oder harte Handschuhe auf nacktes Fleisch klatschen und dieses aufreißen. Es sind dies manchmal doch eher auch das Lesen erschwerende Beschreibungen von Tätigkeiten, die vielleicht nicht so sehr interessieren, gepaart mit fast banalen Alltagsbeschreibungen uns eher unsympathischer Menschen. Auf den ersten hundert Seiten vermag – außer man interessiert sich für ausgesprochen genaue Beschreibungen des Boxsports – wenig zu faszinieren, abgesehen von Paloma, ihrer Arbeit und ihrer Beziehung zu Kelly und auch zu ihrem Bruder, Estéban.

Hawken versteht es also nahezu perfekt, dem Leser einen wirklichen Schock zu versetzen, wenn er diese mutige Frau aus der Handlung nimmt. Daß uns dann auch der nur schwer als Identitätsfigur zu akzeptierende Kelly abhandenkommt, verunsichert, allerdings ist man sich hier weniger sicher, daß das ein vom Autor gewünschter Effekt gewesen ist. Ein wenig hilflos wirkt dieser literarische Kniff dann doch, mitten im Buch Tonart, Perspektive und Personal nahezu komplett zu wechseln. Dennoch entsteht im zweiten Teil mit Sevillas Suche nach den wahren Zusammenhängen um die verschwundenen Frauen ein weitaus größerer Sog, dieser Erzählung folgen zu wollen. Denn mit der Figur Sevilla, die sich uns nach anfänglicher Skepsis, wissen wir doch nicht so recht, wie sich dieser Mann zu Folter und Gewalt verhält, mehr und mehr entblättert, immer mehr Schichten freilegt, ihre Tragik geradezu entpuppt, tritt eine weitaus interessante Gestalt in den Vordergrund, als es Kelly oder gar Estéban je waren.

Daß sich dieser Mann, Sevilla, schließlich mehr als eine reine Aufklärung eines Verbrechens wünscht, daß er Erlösung sucht und bereit ist, dafür das eigene Leben zu geben, daß er sich mit Kelly nahezu in einer Symbiose wähnt und in Anbetracht all der Schlechtigkeit dieser sich ihm darstellenden Welt zumindest dieses eine menschliche Leben retten und beschützen will, macht ihn als Figur interessant, macht aber auch das Buch halbwegs erträglich für den Leser. Daß sich Hawken schließlich darauf einlässt, uns nicht vollkommen desillusioniert aus der Lektüre zu entlassen, mag man kritisieren, denn die Wirklichkeit hält solche Wendungen selten parat. Doch wäre ein düsteres – noch düstereres – Ende dann wahrscheinlich nur noch ein Klischee. Das versteht Hawken zu vermeiden.

Leider gerinnen ihm die Beschreibungen und Schilderungen der ersten Kapitel eben doch arg wie aus einem Setzbaukasten des Noir-Stils, sie wirken konstruiert, die Figuren erinnern uns hier doch eher an Vorbilder aus Romanen und vor allem Filmen der 50er Jahre, ebenso die Handlungen und Taten, als daß sie der Realität entliehen wirkten. Drogen, Boxer, Halbwelt. Es bedarf schon eines gewaltigen Sprachvermögens oder einer immensen Phantasie, um solch einem Setting noch etwas Originelles abzugewinnen oder gar hinzuzufügen. Das können Leute wie Pete Dexter oder Donald Ray Pollock, vielleicht noch ein Tony O´Neill, um einen Vertreter der jüngeren Generation zu nennen, Hawken kann es nicht. Umso erstaunlicher, weil ungewöhnlich, daß sein Text Seite um Seite ansprechender und glaubwürdiger wird, je weiter er voranschreitet. Also sollte man vielleicht sagen: Er kann es noch nicht.

Hier spürt man bald die Dringlichkeit, die ihn beseelt, dieses Thema aufzubereiten und seinen Lesern nahezubringen. Ein wichtiges Thema, das nicht vergessen werden sollte. Denn literarisch mag Roberto Bolaño in seinem Beitrag zur Weltliteratur 2666 (2004) den toten und verschwundenen Frauen von Ciudad Juárez das bedeutendere Mahnmal gesetzt haben, Hawken bringt die Thematik hingegen einem gänzlich anderen Publikum nah und scheut sich nicht, die gesellschaftlichen Kreise zu benennen, die für Entwicklungen wie die in Mexiko verantwortlich zeichnen. Das ist gerade heraus, grundlegend spannend, direkt und klar erzählt und erreicht rechtzeitig die Fallhöhe, die uns auch emotional bangen lässt.

THE DEAD WOMEN OF JUÁREZ ist ein Stück „Kriminalliteratur“, das weit über sein ureigenes Metier hinausweist. Sowas ist immer bewundernswert, vor allem, wenn ein Anliegen hinter dem Text zu spüren ist. Ein Stück Kriminalliteratur, das sehr bewusst gegen die Dekadenz und den herrschenden Zynismus anschreibt und dabei bereit ist, weh zu tun. Man sollte diesen jungen Autoren im Auge behalten und genau schauen, was er uns weiteres zu bieten hat. Denn es könnte wesentlich sein.

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