SINGT, IHR LEBENDEN UND IHR TOTEN, SINGT/SING, UNBURIED, SING

Jesmyn Wards zweiter Roman füht in ungeahnte literarische Höhen

Wäre man selber kein verwöhnter weißer Mitteleuropäer, klänge es deshalb nicht so herablassend und gönnerhaft, dann würde man allzu gern das ganze Pathos bemühen, das einem zur Verfügung steht, um zum Ausdruck zu bringen, welch eine kraftvolle Stimme sich hier aus der Community des schwarzen Amerika FÜR dieses schwarze Amerika erhebt. Schon Jesmyn Wards Debut SALVAGE THE BONES (dt.: VOR DEM STURM) war mitreißend in seiner erzählerischen Kraft, die sich lakonisch gab und doch tief in die Psyche jener eindrang, deren Bewußtsein durch Unterdrückung, Versklavung und dem an ihnen vollzogenen Rassismus, diesem menschheitsgeschichtlichen Unrecht, geprägt ist. Sie schaffte es, diese Psyche zugleich darzustellen und von ihren Verheerungen zu erzählen und dabei den Peinigern kein Jota Aufmerksamkeit zu schenken, sie gänzlich aus der Erzählung auszuschließen. Mit diesem Zug gab sie ihren Protagonisten Würde und Stolz und etwas Eigenes, eine Stimme, wie sie zuvor eine Toni Morrison oder eine Gloria Naylor erhoben hatten – Sprachrohre eines selbstbewussten, eines reflektierenden schwarzen Amerika.

Nun also der Nachfolger, das berühmte zweite Werk, oft mit der Befürchtung behaftet, die Kraft des Autors könne sich schon in einem großartigen Erstling erschöpft haben, könne aufgebraucht sein und zurück bliebe eine erzählerische Wüste. SING, UNBURIED, SING (dt.: SINGT, IHR LEBENDEN UND IHR TOTEN, SINGT) kann all diese Befürchtungen zerstreuen, wenn auch in einer für den Leser fast qualvollen Art und Weise. Ward erzählt von dem Jungen Jojo, der mit seiner Mutter Leonie von der Küste Louisianas gen Norden fährt, um seinen Vater aus dem Gefängnis abzuholen. Begleitet werden Mutter und Sohn von Jojos kleiner Schwester Kayla und einer Freundin Leonies. Leonie ist eine schwarze Frau, drogenabhängig und mit der Erziehung ihrer Kinder offenkundig überfordert; Michael, der Vater der Kinder, ist Sproß einer weißen Familie, zugleich aber Cousin des Mannes, der Leonies Bruder Given einst erschoß. Während Leonie und ihre Freundin damit beschäftigt sind, Drogen zu nehmen und zu schmuggeln, kümmert sich Jojo um seine Schwester, zugleich kehrt er in seiner Erinnerung immer wieder zu der Geschichte des jungen Richie zurück, die sein Großvater Pop ihm immer wieder erzählt hat – bis zu einem gewissen Punkt. Was hinter diesem Punkt liegt, ist wahrscheinlich nur mit dem Begriff ‚Erlösung‘ zu umschreiben.

Ward bietet dem Leser keine wirkliche Handlungsebene an. Vielmehr entwickelt sie aus dem schmalen Handlungsgerüst, besser: Gerippe, eine allegorische Sicht auf die Geschichte des schwarzen Amerika. Eine Geschichte, die trotz aller Bemühungen, trotz Bürgerrechtsbewegung und nachlassender Segregation, trotz Antidiskriminierungsgesetzen und der Vermischung weißer und schwarzer Bevölkerung nicht von der Stelle zu kommen scheint. Und immer wieder von sich selber eingeholt wird. Wie schon Toni Morrison und wie auch Gloria Naylor in ihrem fantastischen Roman MAMA DAY, spielt auch Ward mit Versatzstücken der Geistergeschichte, um ihren Lesern die Überlappung von Vergangenheit, Gegenwart und – wie zu befürchten steht – auch der Zukunft, zumindest der unmittelbaren, zu veranschaulichen. Wie es die sterbende Großmutter, genannt Mam, an einer Stelle des Textes sagt, geschieht immer alles zugleich, sind immer alle Zeitebenen zugleich da und ineinander verschlungen. Und nur indem wir uns aus den Fesseln der Vergangenheit lösen, indem wir uns ihr stellen – dem Unrecht, das uns widerfahren ist wie jenem, das wir anderen zugefügt haben – ist eine Möglichkeit gegeben, uns aus den Fesseln der Gegenwart und denen des Kommenden zu befreien. Pop hat einst Unrecht an Richie begangen und der wird – wie Given für seine Schwester – zu Jojos ungebetenem Begleiter auf dem Weg zurück an die Küste, nachdem die kleine Reisegesellschaft Michael aus der Haft abgeholt hat. Auch Richie sucht Erlösung, sucht einen Weg aus der Zwischenwelt, die sein immerwährendes Gefängnis wurde, nachdem er Parchman, dem realen Gefängnis der Wirklichkeit der 60er Jahre im Süden der USA, vermeintlich entkommen ist und auf der Flucht getötet wurde.

Es gelingt Ward, ganz unterschiedliche Ebenen miteinander zu vermischen. Der auch heute noch gerade in Louisiana grassierende Rassismus wird hier ebenso verarbeitet, wie die Frage an die black community, wo sie sich eigenen Versäumnissen und eigenem Fehlverhalten stellen soll; es wird der Zerrissenheit eines Landes nachgespürt, in dem auch die vermeintlichen Sieger der Geschichte – weiße Männer jeglichen Alters – sich der Tatsache stellen müssen, Opfer, Gefangene der eigenen Geschichte und der eigenen Sünden zu sein, nicht mit sich ins Reine zu kommen, nicht mit sich in Frieden leben zu können, und wir werden Zeuge einer vollends anderen Geschichtsbetrachtung und -wahrnehmung, als es unsere lineare, christliche Auffassung uns gelehrt hat. So greifen in Wards schwierigem, aufwühlendem und manchmal in seiner Regungslosigkeit nahezu unzugänglichem Text hyperreale Elemente nahtlos mit rein metaphorischen und allegorischen, mit solchen der Fantasy und Geistergeschichte ineinander, durchdringen einander und bilden ein Geflecht aus stimmlichen Ansätzen, manchmal gewisperten Andeutungen, manchmal laut angestimmten Chorälen, schließlich der Hymne, die das Lied der Unbestatteten singen.

Das ist für den Leser kaum erträglich. Doch muß Literatur, gerade wenn sie etwas verhandelt, das kaum mehr verhandelbar ist, erträglich sein? Jesmyn Ward versteht es meisterlich, den Leser die Pein eines Lebens spüren zu lassen, die Pein einer Geschichte, in dem, in der scheinbar nichts sich von der Stelle bewegt, nichts sich verändert und folglich auch nichts besser wird. Der Fortschritt des Buches besteht in der Entwicklung zum Vorgänger. War dort eine schwarze Familie vollkommen unter sich und wurde ihre Geschichte aus sich selbst erklärt, kamen Weiße dort nur als Bedingung des Lebens vor, nicht wirklich zu unterscheiden vom kommenden Sturm, von dem der deutsche Titel zeugt, spielen sie nun eine wesentliche Rolle. Indem Jojo und seine Schwester, die er Kayla nennt, auch wenn Leonie ihr den Namen Michaela gegeben hat und damit jugendlichen Protest einbringt, Kinder einer schwarzen Mutter und eines weißen Vaters sind, sind sie eben auch wesenhaft Produkte eines Landes und der Geschichte dieses Landes, welches sich angemaßt hat, Menschen zu Waren zu minimieren, ihnen ihren humanen Status zu nehmen, und somit sind sie auch Produkte einer Gesellschaft, die dieses Stadium bis heute nicht wirklich überwunden hat. Ward wagt den großen Wurf, indem sie die Geschichte des schwarzen und des weißen Amerika als unlösbar miteinander verwoben skizziert, ineinander verschränkt, nicht trennbar und nicht ohne einander erklärbar. Aus dieser Verwebung, dieser Verwobenheit, kann man nicht entkommen, nicht mit Gewalt, wie es Michaels Vater versucht, nicht mit Drogen, wie es Leonie, Michael und ihre Freunde versuchen, die Crystal Meth konsumieren wie Gebrauchswaren, und auch nicht durch Verschweigen, wie es Pop – wider besseren Wissens – versucht. Die Geister unseres Versagens, die Geister unserer Vergangenheit, werden uns einholen, jetzt und immerdar.

Sprachlich ist auch dies wieder in einem nahezu lakonischen Ton erzählt, ohne Wertung stellt Ward die Stimmen von Jojo, Leonie und die des lange verstorbenen Richie nebeneinander, lässt sie reflektieren, beichten und analysieren, was sich in der äußeren Handlung geschieht (nahezu nichts), und vor allem lässt sie sich ergänzen. So wird dies alles teils unerträglich, weil die Kälte des Meth-Rausches eine Kälte im zwischenmenschlichen Miteinander spiegelt, eine Kälte den eigenen Kindern gegenüber und den eigenen Eltern, die erschreckend ist und einmal mehr bezeugt, wozu eine Geschichte wie des versklavten, schwarzen Amerika führt: Entwurzelung, soziale Zerrissenheit und Entfremdung. Dies auf eine Art, wie Jesmyn Ward dies tut, miteinander zu verbinden und in Bezug zu setzen, zeugt von großer Könnerschaft einer mit 41 Jahren immer noch jungen Autorin, der gelingt, was viele versprachen und wirklich nur wenige hielten: Das Erbe der großen Toni Morrison anzutreten und dem schwarzen Amerika einen Hymnus anzustimmen und zugleich den Finger in die ewig schwärenden Wunden zu legen.

Wäre man kein verwöhnter mitteleuropäischer Weißer, man würde so  gern das Loblied auf diese Autorin anstimmen. Und hält inne und denkt sich: Ich bin aber auch Leser. Und als solcher weiß ich Literatur zu schätzen. Und das hier, das ist – Literatur. Große Literatur. Literatur, die schmerzt, die singt und die sich unmittelbar einbrennt in Hirn und Herz. Und so, genau so soll sie sein, die Literatur – jenseits aller Rassenschranken, jenseits aller Grenzen und sozialen Möglichkeiten. Nur so können wir beginnen, zu verstehen. Und zu lernen.

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