UND ES SCHMILZT/HET SMELT

Ein Ausflug in die Höllenkreise der Pubertät

Die Provinz gebiert Monster. Und mehr noch gebiert die Langeweile Monster. Lize Spit lässt in ihrem Debut-Roman UND ES SCHMILZT (Original: HET SMELT; 2016) die junge Eva von einigen der grausigsten berichten.

Auf drei Ebenen erzählt sie aus ihrer Perspektive vom Heranwachsen in einem kleinen belgischen Dorf in den 1990er und den frühen Jahren des neuen Jahrtausends. Sie erzählt episodenhaft, wie sie mit ihren Freunden Pim und Laurens im Sommer 2002 allerhand dummes Zeug anstellt – Streiche, hätte man früher gesagt – was sich am Ende dieser heißen Tage zur Katastrophe entwickelt; davon, wie einzelne Ereignisse und Begebenheiten die Freundschaft dieser zwei Jungs und des Mädchens geprägt und zerstört haben, aber auch von ihrem Familienleben; und sie erzählt, wie sie in der Gegenwart in das Dorf zurückkehrt, das sie einst verlassen hatte. Jahre sind vergangen. Jahre, in denen Eva weder das Dorf, noch ihre Eltern oder die alten Freunde gesehen hat.

Zunächst wird der Tod von Pims Bruder Jan um die Jahreswende 2001/02 als Kulminationspunkt all dessen ausgemacht, was im Sommer geschehen sollte, doch die extrem genaue Beobachterin Eva lässt in ihrem Bericht immer wieder das Grauen aufblitzen, das das elterliche Heim ausmachte – Alkoholismus der Mutter, wahrscheinlicher Mißbrauch durch den Vater – und u.a. dazu führte, daß die jüngere Schwester Tesje eine ganze Reihe von Zwangsstörungen ausbildet und zudem dünner und dünner wird. Und zunehmend entfaltet sich vor dem Leser ein Panorama jugendlich-adoleszenter Übersexualisierung, Die Streiche, die Eva, der Bauernsohn Pim und der Schlachtersohn Laurens sich ausdenken, drehen sich in den meisten Fällen um die Möglichkeit, andere Mädchen nackt zu sehen, wobei Eva in eine vollkommen neutrale Rolle schlüpft, um ihren Freunden – sie nennen sich die drei Musketiere – zu gefallen und einen Exklusivitätsanspruch gelten machend zu können. Zumindest so lange, bis eines ihrer Opfer den Spieß umdreht.

Die Eva der Gegenwart kehrt, ihren Wagen beladen mit einem sehr langsam schmelzenden Eisblock, in das winterliche Dorf im flämischen Teil Belgiens zurück, weil Pim zu einem Fest für seinen nun lange schon verstorbenen Bruder lädt und sie, Eva de Wolf, noch eine letzte, eine finale Rechnung mit ihm zu begleichen hat. Die Mischung aus der eiskalten Gegenwart des flämischen Winters, der die ganze Tristesse des kleinen, nichtssagenden Kaffs verdeutlicht und dem Roman seinen Grundton distanzierter Traurigkeit gibt, den Erinnerungen an jene heißen Sommertage, die mit exakten Datumsangaben versehen sind, und die schlaglichtartigen Begebenheiten, die zwischen den Sprüngen der beiden Zeitebenen eingestreut sind und assoziativ wesentliche Ereignisse aus den Jahren zuvor wiedergeben, malen ein ebenso düsteres wie genaues Bild einer Landjugend.

Das Dorf ist ein öder Ort, wo der Tratsch für soziale Kontrolle sorgt, wo keine Familie ihre miesen Geheimnisse wahren kann und doch alle so tun, als ob, die Jahrgänge in der Schule sind zu klein, als daß es lohnte, sie in einzelnen Klassen unterzubringen, Pornohefte sind die heimliche Lektüre, die Ankunft eines jungen Mädchens, dessen Familie für ein paar Jahre eine Heimat im Dorf findet, ist eine Sensation. Evas Kopfkino ist der einzige Ort, an den das Mädchen sich zurückziehen kann. Aber schön ist die Welt auch dort nicht. Sie verfügt über eine schmerzhaft genaue Beobachtungsgabe, die sie sich unter anderem bei der steten Fixierung auf ihre Schwester angeeignet hat. Eva scheint die einzige zu sein, die deren zunehmenden Ticks und Anwandlungen wahrnimmt. Die Mutter versinkt im Alkoholdunst, der Vater ist ein innerlich abwesender Mann, der seiner Tochter, anstatt sich mit ihr auseinander zu setzen, lieber die Schlinge zeigt und vorführt, die er – warum auch immer, zur Anwendung kommt sie nicht – im Schuppen angebracht hat. Die Ausflüge mit ihren Freunden sind für Eva überlebenswichtig, scheinen sie doch lange Zeit das einzig Normale dieser Jahre zu sein. Dafür nimmt sie in Kauf, in den zunehmend sexualisierten Spielen der Jungs eine Art geschlechtsloser Schiedsrichter zu sein.

Ohne es explizit darauf anzulegen, wird UND ES SCHMILZT damit auch zu einer sehr genauen Beobachtung der Pubertät, der Ängste, die damit einhergehen, der Unsicherheiten, die sie mit sich bringt, und die Jungs und Mädchen sehr unterschiedlich zu kaschieren suchen. Natürlich führt das in den allermeisten Fällen nicht zu handfesten Katastrophen, aber daß diese Jahre des inneren Umbruchs als katastrophales Ereignis en gros wahrnehmbar sind, wird wohl jeder bezeugen können, der sich ihrer noch erinnert. Man kann also nur hoffen, daß Lize Spit hier zwar anschaulich von sich erzählt, nicht aber von wahren Begebenheiten.

Im Ton wird das alles eher distanziert, emotionslos, fast unbeteiligt erzählt. Manche Schrecken werden gerade mal in einem Nebensatz angedeutet. Doch gerade diese Distanz macht es für den Leser umso unerträglicher. Mehr als einmal will man in das Buch hinein brüllen, sie sollten doch alle endlich wach werden, endlich sehen, was da vor sich geht. Sollten erkennen, daß Tesjes Verhalten an sich schon eine still sich vollziehende Katastrophe ist, diese Eltern sollen wahrnehmen, daß sich da etwas zusammenbraut, Laurens Mutter ihre mütterlichen Gefühle so ausweiten, daß sie erkennen kann, wozu ihr Sohnemann imstande ist. Doch wie ein Uhrwerk läuft der Sommer auf jenen einen Punkt zu, der die Freundschaft Evas zu Pim und Laurens beenden, Tesje für immer aus der Familie entfernen, das Leben so grundlegend ändern wird, daß sich die erwachsene Eva, lange schon in Brüssel lebend, nie von den Eindrücke der damaligen Ereignisse wird befreien können. Das erfahren wir durch die wenigen und eher vagen Angaben zu ihrem Leben in der belgischen Hauptstadt.

Vieles bleibt beiläufig, Skizze, angerissen und in seiner ganzen Tragweite der Empathie und der Phantasie des Lesers überlassen.  Der muß bereit sein, den ganzen Weg, die gesamte Passion der Eva de Wolf mitzugehen. Kaum etwas auf den 510 Seiten, das den Trübsinn verjagt, Hoffnung gibt, uns glauben lässt, das alles könne anders ausgehen, als wir befürchten. Das hat allerdings zur Folge, daß das Lesen an sich ebenfalls etwas von einem Martyrium an sich hat. Denn weder ist das sonderlich spannend, in seinen Wiederholungen, gerade was die Streiche mit den Jungs angeht, schon am Rande der Langeweile, noch sonderlich erbauend. Alles geht seinen Gang, so, wie es der Grundton der ersten Seiten bereits vorgibt, und wird damit im Laufe der Lektüre vorhersehbar. Irgendwann fragt sich der Leser nur noch, wie das alles an jenen Punkt kommen wird, wo es so oder so enden muß.

Deshalb ist UND ES SCHMILZT aber kein schlechtes Buch. Es ist allerdings hartes Brot. Literatur hat natürlich eine Menge Funktionen, und zwangsläufig muß Unterhaltung nicht die erste sein, mehr noch: Literatur muß im Grunde gar nicht unterhalten. Sie erzählt uns etwas über die Conditio Humana und in den allermeisten Fällen ist diese weder schön, noch unterhaltsam. Aber vielleicht wäre Variation ein Mittel, noch die grausigsten Aspekte des Daseins so zu erzählen, daß der Leser sich nicht alle fünfzig Seiten fragt, ob er das wirklich weiter ertragen will. So bleibt der einzige Spannungsbogen des Buches, daß es auf den drei unterschiedlichen Ebenen erzählt wird, die nach und nach ein wenn auch nicht komplettes Bild der Zusammenhänge geben, die – vielleicht – dazu geführt haben, wie sich einzelne hier verhalten und warum andere, vor allem Erwachsene, wegschauen, desinteressiert sind am Treiben der Kinder, sich ausschließlich um sich selbst kümmern.

Gewarnt sei also, wer gehobene Unterhaltung sucht, in diesem Werk wird er sie nicht finden. Eher findet er die Höllenkreise der Jugend, der Langeweile, ländlicher Käffer und der Ignoranz. Die, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren.

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