UNTERLEUTEN

Juli Zeh führt uns ins Berliner Umland

Jahr für Jahr wartet das deutsche Literaturestablishment auf den großen deutschen Einheitsroman. Große OSTdeutsche Romane hat es mittlerweile den ein oder anderen gegeben – DER TURM von Uwe Tellkamp oder Eugen Ruges IN ZEITEN DES ABNEHMENEN LICHTS seien stellvertretend genannt – doch so richtig mag da auch literarisch nicht zusammenwachsen, was angeblich zusammen gehört. Und gerade in Zeiten, da Teile der ostdeutschen Bevölkerung scheinbar ernsthaft die Demokratie als Staatsmodell aufzugeben bereit sind, scheint sich die Kluft zwischen Ost und West, Ossis und Wessis, wieder zu verbreitern. Eine Kluft übrigens, von der man eigentlich hätte meinen wollen, daß sie nur noch als Phantomschmerz existiert. Da kommt Juli Zeh mit UNTERLEUTEN vielleicht gerade recht, um dem Volke, zumindest dem literalen Teil, ein wenig den Spiegel vorzuhalten. Und anstatt sich auf tiefschürfende Konflikte wie Rechtsradikalismus oder Langzeitarbeitslosigkeit, den Verlust der Sicherheit, die mit dem Verlust der Heimat einhergeht oder ähnlich hochkomplexe und vielleicht auch nur schwer vermittelbare Themen zu stürzen, nutzt Zeh den nahezu banal-alltäglichen Konflikt um Besitz- und Wertschöpfungsrechte an Weide- und Bauland, ein Konflikt, den es ebenso am Niederrhein, in Mecklenburg-Vorpommern, im Allgäu oder bei Freiburg geben könnte. Man könnte ihr das vorwerfen – gerade den Verzicht auf die Problematik von Rechtsruck und Demokratiefeindlichkeit – , geht sie gewissen Themen doch augenscheinlich aus dem Weg, Themen, die für die beschriebene Provinz aber wesentlich sind. Doch könnte man ihr auch attestieren, daß genau dieser Verzicht ein genialer Zug ist, um die Befindlichkeiten um das übergeordnete Thema des Verhältnisses von Ost und West einmal anders, frei von Klischees und Vorurteilen zu untersuchen. Und auch wenn es Zeh nicht ganz gelingt, Klischees rundweg zu vermeiden, so gelingen ihr eben andere, genauere Bilder dieser Befindlichkeiten, gerade weil sie das Ost-West-Schema zwar nicht auslässt, aber zugunsten ganz anderer Oppositionen zurückstellt.

Denis Scheck („Druckfrisch“) nannte Zehs Roman einen „Immobilienporno“. Man mag das so sehen, „Porno“ ist immer ein gewagter Begriff, aber es ist definitiv ein geschickter Zug der Autorin, genau diesen Konflikt zu wählen. Immobilien sind einerseits etwas, das fast ein jeder kennt, auch den Umgang damit, sei es durch Erbschaft, sei es dadurch, daß man sich bereits mit dem Kauf einer Eigentumswohnung oder eines Hauses beschäftigt hat, zugleich sind Immobilienkonflikte – man denke an den berühmten Streit um Nachbars Kirschbaum, der in den eigenen Garten ragt – immer auch banal genug, daß nicht immer gleich die allergrößten Dramen darum entstehen müssen. Denn Zeh betrachtet ihr dörfliches Panoptikum mit viel Zuneigung und dementsprechend auch Humor. Was nicht bedeutet, das am Grunde dessen, was sich in UNTERLEUTEN abspielt, nicht eben doch Dramen, ja, wahre Tragödien lauern.

Da gibt es die alteingesessenen wie Gombrowksi, dessen Vater vor dem Krieg der lokale Landjunker war, der als Jugendlicher erleben musste, wie die Kommunisten das Haus und den Hof abfackelten, der dann in die LPG eintrat, um zu retten, was zu retten ist und nun seit der Wende versucht, dem Dorf die Agrarwirtschaft und damit die entsprechenden Arbeitsplätze zu erhalten. Und der sich mit seiner patriarchalen Art kaum einen Freund in Unterleuten gemacht hat. Da ist Kron, Gombrowskis Widersacher, immer noch, auch im Jahr 2010, ein überzeugter Kommunist, war er an dem Ungemach, das auf Gombrowskis Familie herniederkam nicht ganz unschuldig. Diese beiden stellen in etwa die Pole dar, um die sich die Handlung, die nicht nur dunkle Familiengeheimnisse aus den letzten Tagen des Krieges, sondern auch einen kriminellen Akt von vor 20 Jahren, von ca. 1991, birgt und deren Verästelungen sich aus genau diesen alten, ständig dräuenden Taten speisen.

Und auch eine ganze Riege unterschiedlicher Charaktere wird um diese beiden Pole herum angesammelt: Schaller, der nach einem Unfall das Gedächtnis verloren hat und sich kaum wundert, warum Gombrowski bereit ist, sich rührend um ihn zu kümmern; da ist Kathrin, Krons Tochter, die eigentlich das Dorf hatte fliehen wollen und aus Gründen, die sie erst im Verlauf des Romans versteht, doch nie gegangen ist; da sind Fließ und seine Frau, Berlin-Flüchtlinge, Vogelschützer, Aussteiger, er einer stagnierenden akademischen Karriere entflohen, sie dem Driften des studentischen Berliner Großsstadtlebens, beide Eltern einer kleinen Tochter; da sind Linda Franzen und ihr Freund Frederick, sie aus Oldenburg, er aus Berlin, sie mit dem dringenden Wunsch, Weideland für ihren Hengst zu erwerben und darob im Widerstreit mit dem Vogelschützer Fließ; da ist Meiler, ein bayrischer Investor, der eher aus einer Laune heraus Land in Unterleuten gekauft hat – und da sind etliche mehr. An einem Punkt lässt Zeh einen der Protagonisten sich über einen Dostojewski-Roman beschweren, man käme bei der Fülle der Figuren kaum mehr nach. Es muß der Autorin aufgefallen sein, daß es ihr in ihrem eigenen Roman nicht wesentlich anders zugeht.

All diese Figuren werden erst wirklich aufgescheucht, als der Vertreter eines Windparks dem Dorf eine Windkraftanlage in Aussicht stellt, die demjenigen, auf dessen Land sie steht, enorme Pachtsummen, der Gemeinde aber vor allem Grundsteuererträge einbringen würde. Und so entsteht ein Gewirr aus Interessen, alten Schulden und sowohl eigensinnigen als auch altruistisch an der Gemeinde ausgerichteten Interessen, in welchen schließlich nicht nur Ost-West-, sowie die Konflikte zwischen Städtern und dem Landvolk aufgehoben werden, sondern auch uralte Geschichten endlich ihren Abschluß finden. Am Ende des Romans wird wenig in Unterleuten noch sein, wie es zu Beginn dieses ca. 640 Seitenstarken Romans war, einige hier werden ihren Frieden gefunden, andere ihr Ende beschlossen haben; es wird Streit und Versöhnung gegeben haben, Tote auch und es wird ein Gefühl von Bitternis bleiben dort, wo wir erleben müssen, wie wenig von all der Hybris, die manche(r) sich anmaßt, bleibt, wenn das Schicksal – ob in Natur- oder Menschengestalt – zuschlägt.

Zehs Könnerschaft besteht darin, unter einem Personal von nahezu 40 wesentlich zur Handlung beitragenden Figuren, wirkliche Charaktere zu schaffen. Dadurch, daß das gesamte Geschehen in Einzelkapitel untergliedert ist, die trotz beibehaltenem auktorialen Erzählstil jeweils die Perspektive eines der Protagonisten einnehmen, werden uns Situationen und eben auch die Figuren aus den unterschiedlichsten – subjektiven – Blickwinkeln beschrieben. Zeh nutzt diesen Perspektivwechsel für teils erschütternde, teils makaber lustige Einsichten über all diese Menschen, die sich da in diesem kleinen Dorf, Unterleuten, zusammen gefunden haben. Manches spielt sie aus, vor allem der Vogelschützer Fließ ist dann doch immer wieder Abziehbild seiner selbst, symbolisiert eher eine gewisse Sicht auf eine gewisse westlich geprägte Elite, die zwar nicht unberechtigt ist, sich aber durchaus auch einmal differenzierter und eben weniger klischeehaft geben könnte. Zeh gibt ihrem akademischen Aussteiger schließlich eine immerhin ansatzweise dämonische Szene, wenn er sich gegen die dauernden Belästigungen des Nachbarn, den er in paranoiden Anflügen aber auch gleich einer ganzen Reihe unterschiedlicher Vergehen der jüngeren und älteren Vergangenheit verdächtigt, zur Wehr zu setzen beginnt. Das allerdings ist eine der wenigen Entwicklungen, die man ihr nicht so richtig abnehmen will.

Dies fällt auch deshalb auf, weil ihr ansonsten vielschichtige Persönlichkeiten gelungen sind, an die man glaubt, deren Verhalten man nachvollziehen kann. In ihrem Verständnis für ein menschliches Leben und die darin vergangene Zeit, gelingt es der Autorin, nicht zu urteilen, wodurch wir selbst solches Verhalten, das wir verurteilen mögen, zumindest verstehen können. Sogar verstehen müssen, vielleicht sogar gegen unser eigenes Begehren. Anders als noch Dörte Hansen in ihrem vielgepriesenen Buch ALTES LAND, schlägt Zeh sich auch nicht auf eine Seite, im Gegenteil, sie löst „Seiten“ auf, was man dem Roman als Roman – also als Anteil an einer kulturellen Entwicklung, als Diskurs- und Debattenbeitrag – sehr hoch anrechnen sollte. Indem sie den Ost-West-Konflikt nicht ignoriert und dadurch etwas schönfärbt, ihm aber auch keine explizite Stellung einräumt im Geflecht der Konflikte und Beziehungen, trägt Juli Zeh ganz maßgeblich dazu bei, diesen Konflikt generell zurück zu stellen. Und das tut bitter Not, gerade in Zeiten, da er wieder aufzubrechen droht. So kommt UNTERLEUTEN also auch auf dieser Ebene eine wirkliche Bedeutung zu. Man möchte dem Roman viele Leser wünschen.

Juli Zeh – und auch das ist ein Verdienst, zeugt es von wenig Eitelkeit, weiß man doch, sie kann auch anders – bemächtigt sich für diese Geschichte einer vergleichsweise einfachen Sprache. Die Abgründe lauern nicht in den Worten oder der Syntax, eher in den Lücken zwischen den Worten. In den Auslassungen und Andeutungen. Da das Gerüst – da ist Zeh sich auch nicht zu schade, tief in die Mottenkiste des Trivialen zu greifen – des Ganzen durchaus melodramatische Züge hat: Geheimnisse in Gewitternächten; dunkle Machenschaften der Vergangenheit, deren Konsequenzen ins Jetzt hineinreichen; geheime Türen und versteckte Hinweise, kann man das recht schnell lesen, sobald man sich in der Figurenfülle einmal zurecht gefunden und den Sound der einzelnen Stimmen erkannt hat. Dann aber betritt man die Köpfe und Seelen einer Gruppe von Menschen, derer einige erschreckend, andere bemitleidenswert, keiner unschuldig, wenige wirklich schuldig und alle miteinander bemüht sind, den Kopf über Wasser zu halten, auf die ein oder andere Weise. Das macht all diese Figuren auf ihre Weise menschlich, manche tragisch, einige momentweise lächerlich, im Grunde niemanden sympathisch und erfasst damit doch auf eine sehr unaufdringliche Art und Weise und ohne Überdramatisierung das Leben in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Ein Gesellschaftsroman, wie es ihn so alle paar Jahre einmal gibt, genau in der Beobachtung, präzise in der Sprache und somit in der Lage, eine Menge Leser mitzunehmen.

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