UNTERTAUCHEN/SPUSK POD VODU

Ein mal poetischer, mal naturalistischer Blick auf die dunkleren Seiten der sowjetischen Gesellschaft

Wir kennen sie, die Erzählungen aus den Lagern Stalins – Alexander Solschenyzin, Warlam Schalamow und andere haben eindringlich davon berichtet – , wie wir auch die Erzählungen derer kennen, die zurückblieben, oft ohne ein Zeichen, ohne jegliche Kenntnis dessen, was aus ihren Angehörigen, ihren Ehemännern und -frauen, ihren Söhnen, Töchtern oder Eltern geworden ist. Lydia Tschukowskaja hat darüber eines der paradigmatischen Bücher – SOFIA PETROWNA – geschrieben, ebenfalls aus ihrer Feder stammt UNTERTAUCHEN, das die Thematik noch einmal aufnimmt und weitaus poetischer verarbeitet, als es der ältere Text tat. Beide wurden in der Sowjetunion erstmals Ende der 1980er Jahre verlegt, in Westeuropa allerdings schon bedeutend früher.

Besticht SOFIA PETROWNA gerade durch die Kargheit und dadurch die Unmittelbarkeit der Erzählung, die den Leser unmittelbar an der Angst, dem Schmerz und der Verzweiflung dieser Mutter gegenüber dem Schicksal des Sohnes teilhaben, so ist es in dem mehr als zehn Jahre später entstandenen UNTERTAUCHEN die Poesie der textlichen Verwebung von Erinnerung, schriftstellerischer Reflexion, Gegenwartspolitik der frühen 1950er Jahre in der Sowjetunion und der Konfrontation derer, die den Krieg erlebt, erlitten und durchkämpft und jener, die das stalinistische System ausschließlich als unterdrückerisch erlebt haben, und zudem einer außergewöhnlich zarten und stillen Liebensgeschichte.

In einem Sanatorium außerhalb Moskaus – halb Erholungsheim, halb Kurbad – zu Beginn der 1950er Jahre, trifft sich eine illustre Schar Kulturschaffender, meist Schriftsteller, die sich erholen sollen, die aber auch auf Inspiration und Schaffenskraft hoffen. Eine davon ist die Ich-Erzählerin, eine Übersetzerin und Schriftstellerin. Ihre Tage sind von Arbeitsstunden am Vormittag, Spaziergängen mittags und nachmittags und den Abendessen mit den anderen Bewohnern des Hauses geprägt. Sie selber ist emotional wie gelähmt, seit ihr Mann während der großen Säuberungen 1937 abgeholt wurde. Ihrer Kenntnis nach habe er „Zehn Jahre mit Kontaktverbot“ als Urteil erhalten. Als sie eines Nachmittags mit einem anderen Hausgast spazieren geht, stellt sie durch Zufall fest, daß er ebenfalls in einem Lager war und ihr vielleicht helfen kann, indem er ihr nicht nur erklärt, wie es in den Lagern zugeht, sondern auch, was das Urteil zu bedeuten hat. Bilibin, so der Name ihres neugewonnenen Kameraden, sträubt sich zunächst, doch entweder, weil er sich zunehmend zu der Frau hingezogen fühlt oder aus Mitleid, genau werden wir dies nie erfahren, öffnet er sich nach und nach und teilt mit ihr seine teils grausamen Erinnerungen, und auch was das Urteil gegen ihren Mann bedeutet, kann er ihr sagen. Es entspinnt sich eine stille, nahezu leidenschaftslose Liebe zwischen den beiden, eine Liebe, die lediglich in den tauenden Winterlandschaften um das Kurhaus herum Bestand haben kann und in eben jenem Moment enden muß, in dem sie wieder in die Realität der Hauptstadt, in die sowjetische Alltagswirklichkeit zurück kehren…

Es ist vielleicht vor allem die Beschreibung dieser winterlichen, stillen Wälder und Hügel, die UNTERTAUCHEN zu einem solch außergewöhnlichen Text machen. Im Kontrast zwischen der reinen Schönheit dieser Betrachtungen und der grausamen Realität nicht nur der Erinnerungen derer, die die Lager erlitten hatten, sondern in der Figur des jüdischen Schriftstellers und ehemaligen Frontkämpfers Weksler auch der Grausamkeiten, die sich gerade in den Jahren 1948/49 in erneuten Säuberungswellen gerade gegen jüdische Parteimitglieder und jüdische Mitbürger generell richteten, wird der ganz spezielle und spezifische dramatische Bogen dieses Textes – einen Roman sollte man dies vielleicht nicht direkt nennen, zu sehr ist es durch die autobiographischen Details der Autorin geprägt – gespannt. Hinzu kommt eine Reflexion auf das Tun eines Schreibenden, die ebenfalls eine Schönheit eigener Gnaden entwickelt. „Untertauchen“ nennt die Erzählerin den Moment, wenn sie aus ihrer unmittelbaren Umgebung, die dazu allerdings genauestens präpariert sein sollte, in jene inneren, seelischen Gefilde zwischen Erinnern, Erfinden und reinem Empfinden driftet, in denen der Schriftsteller, der Schreibende, der kreativ Schaffende seine Inspiration, die Landschaften seiner Kreation findet und wo er oder sie wandeln kann, allein und doch immer in Gesellschaft all jener, die ihn oder sie begleiten, ein Leben lang.

Es entsteht allerdings ein Reibungsfeld, in welchem der Schaffende auch zerrieben werden kann, dann wenn die innere Spannung zu groß, die Not zu dringlich wird. Die Ich-Erzählerin dieses in der Neuübersetzung von Swetlana Geier 244 Seiten starken Berichts erkennt diesen inneren Bruch eben an ihrer Erstarrung, die sich erstmals zu lösen scheint, als mit Bilibin jemand in ihr Leben tritt, der das Schicksal ihres Mannes scheinbar teilt. Es ist ein – auch in der Übersetzung hervorragend herausgearbeitetes – sprachliches Bravourstück, wie Tschukowskaja ihre Ent-Starrung andeutet, sprachlich geschehen lässt, gekoppelt an die tauenden Schneemassen, die das darunter liegende freigeben und doch auch wieder einfangen und bedecken, wenn es über Nacht erneut schneit und friert. Zart ist diese Sprache, fast zärtlich, und doch Zeuge all des Schmerzes, den das Sowjetvolk von außen wie innen zu erdulden hatte. Und wie nebenbei wird uns nicht nur der Alltag des sich langsam vom Kriege erholenden Landes nüchtern, fast distanziert geschildert, sondern, ebenso nüchtern, ebenso distanziert, jenes Alltagsleben im Kriege, in Leningrad, geprägt von Hunger, Leid und Tod. Allein wenn der Text uns, eingeschoben, der Erzählerin Erlebnisse im Moskau der späten 1930er Jahre, jene Stunden in der Schlange vor dem Gericht, jene Begegnungen mit den Ämtern, die nahezu kafkaesk anmuten, schildert, sind kaum mehr zu ertragen, so kühl wird uns hier die ganze Brutalität eines Systems anhand einiger weniger Sätze vorgeführt.

UNTERTAUCHEN ist – gemessen an seinem historischen Kontext – ein ungemein spannendes und vor allem mutiges Buch, darüber hinaus ist es aber eben auch en Stück große Literatur, wie die Russen und auch die Sowjets sie immer wieder hervor gebracht haben. Man kann dies lesen als historischen Text, man kann es wie ein Tagebuch lesen. Man kann sich aber auch einfach an dieser Sprache und an der Konstruktion dieses Textes erfreuen. Ein stilles, ein großes Buch.

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