EDIPO RE – BETT DER GEWALT/EDIPO RE

Vom Mythos zur Literatur, zur Psychologie, zur Gesellschaft, zum Film, zur Literatur, zum Mythos...

Ödipus rasend, verzweifelt, anrennend gegen ein Schicksal, welches die Götter ihm zudachten, das er mitnichten selbst gewählt hat. Ödipus als Symbol des Ausbruchs des Individuums aus einem (sich seiner selbst unbewußten) Kollektiv. Werdung des Subjekts. Ödipus als Wegbereiter der Moderne, jenes Zustands, in dem sich ein jeder mit der eigenen Schuld, dem eigenen Untergang wird beschäftigen müssen. Da, wo Ödipus den Menschen hinführt – heraus aus dem Mythos – gibt es keine Deckung mehr durch die Götter, das Schicksal oder das Orakel, dessen Sprüche dem Einzelnen versichern, niemals Herr des eigenen Schicksals zu sein.

Der antike Mythos nach Sophokles, selbstredend die symbolische Um-Ordnung durch Freud und schließlich Jungs kollektives Unterbewußtsein sind die Eckdaten, zwischen denen Pier Paolo Pasolini sein Meisterwerk EDIPO RE (1967) verortet. Nachdem er mit UCCELLACI E UCCELLINI (1966) eine filmische Fabel fabriziert hatte, die ebenso als Komödie, wie als fröhliche Philosophie funktionierte und bevor er mit TEOREMA (1968) den vielleicht wesentlichen Beitrag zum zur Chiffre avancierten Jahr 1968 vorlegte, begab sich der Meister nach Marokko, um erstmals in der Dritten Welt zu arbeiten. Darauf wird noch einzugehen sein. In EDIPO RE steckt Pasolini sowohl inhaltlich als auch formal sein filmisches Programm ab, das immer mehr war, als rein filmisches Schaffen. Der Marxist und gläubige Katholik Pasolini, der sich durch die Politik des Italiens der 60er Jahre zutiefst in seiner Annahme, Europa nach dem Krieg sei auf dem Weg eine Utopie zu verwirklichen, getäuscht sah, geht in die Dritte Welt, in deren Massen er noch einmal die marxistische Hoffnung auf eine echte Erhebung des Proletariats erkennen wollte. Hier findet er die Gesichter und Körper, die es ihm erlauben, seine „mythischen Filme“ so zu verwirklichen, wie es ihm vorschwebte und wie er in IL VANGELO SECONDO MATTEO (1964) bereits in Süditalien zu gestalten suchte. Und er findet hier neben den Gesichtern und Körpern auch die Landschaften und darin befindlichen Zeugnisse menschlichen Daseins, die sein „Kino der Poesie“ oder seine „poetische Kinematographie“ ebenso hervorbringt, wie sie durch ebene genau diese Objekte des Interesses hervorgebracht wird.

Warum aber der Mythos? Neben seinem Christusfilm IL VANGELO SECONDO MATTEO, der die christliche Mythologie mit einer marxistischen Botschaft kurzschließt, griff der Regisseur 1969 in MEDEA erneut auf ein antikes Drama zurück, erneut sucht er sich dem Mythos anzunähern. Anders als sein Zeitgenosse Jean-Luc Godard, den Pasolini zutiefst bewunderte, sah der Italiener das Medium Film nicht zwingend als ein selbstreferenzielles System, als philosophische Diskursmaschine an sich oder aus sich selbst heraus. Pasolini wollte immer ein Mehr erreichen, er wollte, wie ein bildender Künstler, wie ein Poet oder Schriftsteller sowohl etwas über die Conditio Humana aussagen als auch – da spricht der Marxist, der Ideologe, der zutiefst durch seine Zeit Politisierte – Einfluß nehmen auf seine Zeit und seine Zeitgenossen. Gefragt, wieso er immer wieder Grausamkeiten und Sexualität darstellen wolle, antwortete Pasolini, daß es seiner Meinung nach nur zwei Themen gäbe: Eros und Thanatos und das die Kamera, das Medium Film sich exakt zur Darstellung dieser beiden Pole perfekt eigne. Beides – Eros und Thanatos – braucht zwingend die Bewegung, der Tod vor allem als gewalttätiger. Und nichts kann Bewegung so widergeben, wie es die Kamera kann. 24 Mal Wahrheit pro Minute, um Godard zu zitieren. Wo aber sind diese Themen zutiefst verankert? Wo finden wir die Narrationen, die uns etwas über uns selbst berichten im Spannungsfeld dieser Pole? Im Mythos, im antiken wie christlichen Mythos. Eros und Thanatos.

Wie aber den Mythos darstellen? Pasolini hegte tiefe Verachtung für das Hollywoodkino, ein Kino des „Als-Ob“, wie er es nannte (und wie Deleuze es übernahm). Die Darstellungen gerade der 50er und frühen 60er Jahre – THE ROBE (1953; Henry Koster), THE TEN COMMANDMENTS (1956; Cecil B. DeMille) oder LA BIBBIA (1966; John Huston) wären Beispiele, aber auch die Massen italienischer Sandalenfilme – religiöser/biblischer/antiker Mythen durch Hollywood oder Hollywood verwandter Produzenten wie Dino De Laurentiis, verdeutlichen, was ein Künstler wie Pasolini so abstieß am amerikanischen Kino. Er wollte ein Art Film schaffen, die bei der Begründung des Mythos direkt anwesend ist und dem Entstehen mythischer Narration beiwohnt. Nicht wollte er die Pappmaschee-Version, die beschönigte, bereinigte und ent-sexualisierte Fassung, die Hollywood den Menschen bot. Dafür suchte Pasolini Landschaften, die denen entsprachen, in denen die antiken Geschichten spielten oder hätten spielen können, er suchte Gesichter und Körper, denen das Leben eingeschrieben war, die in den Furchen ihrer Falten, in der Krümmung ihrer Rücken, in ihren schiefen Beinen oder verkrüppelten Händen exakt jenes Leben eingeschrieben trugen, das authentisch von der Zeit, vom Abrieb des Lebens künden konnte. Das ewige Leben, das mythische Leben der Bauern, Vagabunden und Wanderer einer ent-zeitlichten Antike.

Der Mythos zeichnet sich durch seine Zeitlosigkeit aus. Er geschieht in einem (geistigen, kulturellen, zeitlichen) Bereich, der immer ist und niemals vergeht, einem Bereich, der alle Ebenen der Zeit in sich vereint, die er zugleich durchlaufen und negieren kann. Im Mythos ist die Zeit immer und immer zugleich. In den Gesteinssedimenten der Berge und Hügel, die die marokkanische Wüste durchziehen, kann man die Zeit gleichsam sehen: Schicht für Schicht aufeinander gedrängt, ist sie immer da, immer gleichzeitig und scheinbar nie vergehend. Die Wüste Marokkos, die hier wie nie zuvor und selten danach zum Recht eigener Schönheit, ja, zur Poesie kommt, steht symbolisch für diesen mythischen Raum. Horizontal, weit, schier unendlich, lebensfeindlich steht sie für das unerwachte Bewußtsein, für das kollektive Unterbewußtsein, wie Jung es erfasst, darlegt, ausschmückt. Darin: Die Archetypen, die uns funktional etwas zu berichten wissen über uns selbst. Durch die Archetypen werden wir immer wieder mit uns selbst konfrontiert, in ihnen reicht der Mythos über sich selbst hinaus und greift auf uns zu, wird zu einer Narration, die uns mit uns selbst verbindet, als Einzelnen, aber auch, was wesentlicher ist, als Gesellschaft, als Wertegemeinschaft.

Ödipus – von seinem Vater Laios, König von Theben, nach einem Spruch des Orakels, das verkündet, der Sohn werde den Vater erschlagen und die Mutter begatten, ausgesetzt, vom König von Korinth aufgezogen – durchstreift dies´ Land auf der Flucht vor eben jener Prophezeiung. Doch alle Wege der Ödnis führen nach Theben. Das Schicksal ist bestimmt. Ödipus trifft auf einen Edelmann, der ihn auffordert, den Weg freizugeben. Ödipus gerät in Wut und begehrt auf. Er erschlägt die Leibwache des Edlen und dann diesen selbst. Ödipus erreicht Theben, wo die Bevölkerung die Stadt flieht, da die Sphinx sie bedroht. Wer das Ungeheuer besiegt, wird neuer König der Stadt und die Königswitwe Iokaste ehelichen. Ödipus erschlägt die Sphinx, ohne deren Rätsel auch nur anzuhören und nimmt seinen Platz an der Seite Iokastes ein. Schließlich hat die Pest Theben fest in ihrer Gewalt und es ist der blinde Seher Teiresias, der der Stadt den Weg aus dem Elend weist: Ödipus muß erkennen, wer er ist und welche Schuld er auf sich genommen hat. Kreon, Iokastes Bruder, deckt nach und nach auf, daß der neue König eben jener Sproß Laios´ sei, den der einst aussetzen ließ, wissend, daß ihm das Orakel den Tod durch die Hand des Sohnes vorhersagte. Iokaste, die erkennt, mit wem sie das Bett geteilt hat, richtet sich selbst. Ödipus, nun erkennend, daß der Spruch des Orakels sich so oder so erfüllt und er unschuldig (nicht wissend/unbewußt) schuldig wurde, blendet sich, indem er sich die Augen aussticht. Er verläßt die Stadt als Bettler, der von einem Diener geleitet durch die Einöde irren wird.

Soweit die Kernhandlung, wobei Pasolini an entscheidenden Stellen von der Vorlage abweicht. So läßt er Ödipus kein „Rätsel der Sphinx“ lösen, sondern seinen Helden mit der gleichen Wut auf das rätselhafte Ungeheuer losstürmen, wie sie ihn schon beim Mord an Laios befeuerte. Die Sphinx ist mit ihren Rätseln ein Wesen der Vernunft. Einer (rationalen) Vernunft, gegen die Ödipus zunächst aufbegehrt. In seiner Irrationalität, seinem Begehren, das noch ein kommendes Werden ist, ein Werden, das die Vernunft einzubeziehen erst lernen muß, rennt er wie wahnsinnig gegen das Schicksal in all seinen Erscheinungen und Manifestationen an. Dies sei sein persönlichster Film, sagte Pasolini einst, es sei ihm dabei mehr um den Vatermord, denn um den Inzest zu tun gewesen. Was er persönlich auf die schwierige Beziehung zu seinem Vater zurückführte, während die Beziehung zu seiner Mutter – die zwar keine inzestuösen Merkmale, dennoch aber eine über das „normale“ Maß hinausgehende Innigkeit aufwies – von einer gleichbleibenden Liebe geprägt gewesen sei. Doch geht EDIPO RE weit über eine eigentherapeutische Nabelschau hinaus. Neben den bereits oben beschriebenen formalen Aspekten, wie man den Mythos neu definieren und beschreiben, wie man den Mythos erzählen kann, ohne in den Kitsch und das Illusorische Hollywoods zu verfallen, hatte Pasolini natürlich auch ein inhaltliches Programm. Wie befeuert der Mythos den modernen Menschen und dessen (Selbst)Wahrnehmung?

Umklammert ist die Erzählung des antiken Mythos von zwei kurzen Episoden: In einer etwa zehnminütigen Eingangssequenz begegnet uns ein moderner Ödipus als zu stillendes Kind am Ausgang der Belle Époque, vielleicht am Vorabend des Ersten Weltkrieges, dessen Vater ihm prophezeit, daß er, der Sohn, ihm, dem Vater, die Liebe der Mutter streitig machen und ihn schließlich als Mann, Vater, Held überflüssig machen wird. Er, so der Vater, hasse das Kind, den Sohn – und er beweist dies, indem er es an den Füßen packt und symbolisch schüttelt. Die Uniform, die der Vater trägt, deutet darauf hin, daß sein Leben möglicherweise schon verwirkt ist. Freuds „ödipale Phase“ wird so in den Film eingeführt. Pasolini beginnt bei der Analyse, der Psychoanalyse, also dort, wo der Begriff „Ödipus“ uns heute am ehesten begegnet (außerhalb der gymnasialen Oberstufe). Und Pasolini setzt diesen Anfang (seines Films) nicht umsonst in die Belle Époque, also zeitlich nah an den Begründer der modernen Psychologie und seinen Ausflügen in die Atike und deren Mythen. Nach dem Hauptteil werden wir am Ende des Films in ein damals zeitgenössisches Bologna geführt, wo Ödipus, auch hier dargestellt von Franco Citti, welcher ihn auch in der antiken Episode spielt, vor der Kathedrale Flöte spielt. Ein Freund – jener Diener, der ihn aus dem antiken Theben führte – führt ihn auf eine Wiese, die wir als jene wieder erkennen, auf der zu Beginn des Films das Kleinkind so liebevoll von der Mutter versorgt und gesäugt wurde. Ödipus erkennt, daß er in einer langen Kreisbewegung erneut am Ausgangspunkt seiner Reise angelangt ist. Er findet Frieden. Mythische Zeit ist sich wiederholende Zeit, Zeit des Vergehens und der Erneuerung, der Kreis ist das Zeichen des Mythos, die Linearität das Symbol geschichtlicher Entwicklung. Im Ende seines Films läßt Pasolini den Mythos unbeschadet walten, nicht aber, ohne ihn in Bezug zu uns und unserer Realität zu setzen. Dazu nutzt er unter anderem die Grausamkeit der Bilder: So brutal der Vater zu Beginn des Films zu seinem Sohn spricht, so brutal sind die Bilder, mit denen die antike Episode beginnt: Ein Mann trägt einen an einen Stock gebundenen, schreienden Säugling durch die gewaltige, massive Geröllwüste und setzt ihn dort der sengenden Sonne aus. Das Kind soll sterben.

Es ist der Blinde, der schließlich gut genug sieht, um „die Wahrheit“ zu ent-decken. Es ist Teiresias, der blinde Seher, der die Zukunft erahnt, der die Wahrheit über die Vergangenheit kennt. Es ist der blinde Ödipus der Gegenwart, der auf einer Wiese, wieder am Beginn seiner Reise, also zurück im „Schoß der Natur“, aber auch zurück am Anfang des Films, seinen Frieden findet, zur inneren Ruhe kommen kann. Es ist der Ödipus, den Pasolini uns als Rasenden gezeigt hat, solange er lebte. Der Mord an Laios, die Tötung der Sphinx, seine Ansprache an sein Volk während der Pest – der sehende Ödipus ist ein Getriebener, der nie in der Lage ist, das zu erkennen, was ihn treibt. Er schaut nach vorn und kann nicht sehen, was ihn verfolgt. Es ist der Blinde, der Seher, der ihm die Wahrheit zu erkennen gibt, dem Ödipus jedoch nicht glauben mag, nicht glauben kann. Er braucht – als Sehender – den handfesten Beweis, weshalb jener, der ihn einst aussetzte und töten sollte und jener, der ihn fand und zum König Korinths brachte, Zeugnis ihrer Verfehlungen ablegen müssen, damit Ödipus bereit ist, zu begreifen, wie er „unschuldig“/“unbewußt“ Schuld auf sich laden konnte. Der sehende Ödipus braucht Evidenz, die Geschichte braucht Evidenz und sie stellt Evidenz her.

Wenn Jung das Unbewußte beschreibt, das bevölkert wird von den Archetypen, den Ideen und Visionen, den Symbolen und Figuren, beschreibt Freud mit ähnlicher Symbolik Individualisierungsprozesse. Pasolini birgt aus dem Mythos, was er benötigt, seine eigene Interpretation zu liefern, er bringt die Pole zusammen, indem er das individuelle Bewußtsein beim Erwachen beobachtet. Den Geburtsschmerz. Ödipus´ Raserei gegen seine Umwelt ist auch genährt von der Panik, das Eigene nicht erringen zu können. Ein Aufbegehren gegen eine vorgefertigte Existenz, wider ein vorherbestimmtes Schicksal. Es bricht aus, das Individuum, aus der selbstgewählten Unmündigkeit. Ein Emanzipationsprozeß, den Pasolini fast kausal mit dem Vatermord als symbolischen Akt in Verbindung setzt. Doch sehen, die eigentliche Wahrheit erblicken, kann nur der Blinde, also jener, der gelernt hat, die sichtbare Welt, die Täuschung, hinter sich zu lassen. Das reife, gereifte Individuum.

Aus dem Unterbewußtsein, aus jenen Regionen aufsteigend in den Bereich der Individualisation, wird Ödipus zu einem Subjekt, das dennoch in der Annahme seines Schicksals und in der Überwindung des Aufgebehrens dagegen nicht nur seinen Frieden findet, sondern sogar die Vollendung als Individuum. Der reine, beim Entstehen beobachtete Mythos, derart gekreuzt mit Freuds symbolischem Zugriff auf die Narration und gemessen an Jungs Thesen, wird sowohl zur zeitgenössischen Aussage darüber, woher wir kommen und was es ist, das uns immer noch treibt, als auch darüber, wie die moderne Betrachtung des Mythos diesen bestimmt. Er habe die Psychoanalyse in den Mythos rückprojiziert, sagt Pasolini, anstatt den Mythos in die Analyse hinein zu projizieren. Er will dem Mythos mindestens so gerecht werden, wie er der Analyse und seinen eigenen Befindlichkeiten gerecht werden will. Wenn wir uns die scheinbaren Fantasiekostüme betrachten, die Blechhelme und seltsam anmutenden Kopfbedeckungen der Edlen wie Kleriker, die einfachen Gewänder der Menschen in den Massenszenen, dann sind wir uns zwar sicher, daß dies keinesfalls „echt“ ist im Sinne von „wahrheitsgetreu“, aber dennoch wirkt es „authentisch“. Pasolinis Kamera – sehr beweglich, mit weit ausholenden Schwenks, Ranfahrten und Sprüngen – fängt Landschaft und die Artefakte, die Paläste, Häuser, die Lehmhütten und erdfarbenen Gebäude als organischen Teil seiner Erzählung ein. Pasolini gelingt hier, was er in MEDEA zur Perfektion bringen wird: Er findet einen Ausdruck, man wollte sagen: einen mytho-poetischen Ausdruck, den Zuschauer unmittelbar in einen Zustand der Gegenwart dessen zu versetzen, was vor der Kamera geschieht. Wir betrachten den Akt der Entstehung eines/des Mythos. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit.

Dazu sollte man ein Wort zu den manchmal enervierenden Klängen der genutzten Musik verlieren: Zwischen – vor allem in der Eingangs- und Schlußsequenz genutzten – Mozart-Klängen wird der Film tonal von Flötenmelodien begleitet, die an die Musik afrikanischer Stämme und Ethnien angelehnt ist. Für Europäer manchmal schwer zu ertragen, tragen diese Töne allerdings essenziell zur Wirkung des Films bei, weil sie den Entfremdungsprozeß, der uns in die mythische Nicht-Zeit des Films zu ziehen droht, unterstützen. So gelingt Pasolini, dem die Auswahl der musikalischen Unterstützung seiner Filme enorm wichtig war (gerade in IL VANGELO SECONDO MATTEO spielt die Musik eine wesentliche Rolle und war auch wesentlich für den Skandal um den Film mit verantwortlich), auch hier ein Kurzschluß der Moderne mit dem Archetypus mythischer Zeit und Welt.

Aber wo in all dem bleibt die Ideologie? Wo sieht Pasolini in diesem Konglomerat äußerst abstrakter und äußerst persönlicher und ausgesprochen komplexer analytischer Zusammenhänge das politische Moment? In der formalen Umsetzung: Nach Marokko zu gehen, dort in der Wüste zu drehen und das überwiegend mit Laiendarstellern, entspricht Pasolinis persönlichem Programm. Er bindet diese Menschen in den Rahmen einer antiken mythologischen Erzählung; doch gibt dieser Rahmen genug Raum, damit die Kamera, das Auge, das hier sich anschickt, durch Raum und Zeit zu blicken, die Bewegung der Menschen einfangen kann. Dieses formale Programm wird Pasolini in der ‚Trilogie des Lebens‘ weiter treiben, er wird die Kamera , wie er es zuvor auch im EVANGELIUM und auch in ACCATTONE (1961) getan hatte, fast dokumentarisch auf die Menschen richten, die sie da vorfindet, wo Pasolini sie aufstellt. Diese Menschen sieht Pasolini als elementar. Sie sind an sich, sie sind „eigentlich“. Und somit sind sie auch näher am Mythos, näher an – gar in – einer Realität, die das Mythische als Moment noch in sich trägt. Der Intellektuelle, der Semiotiker, der Poet, Autor und der politisch in der Welt stehende Regisseur Pasolini sucht mit der Kamera all das hinter sich zu lassen, hinter das Zeichen, hinter die Symbolik, an das Eigentliche dessen heran zu reichen, was der Mythos in uns ausmacht, den Mythos in uns ausmacht, wo wir mit dieser „Ur“-Ebene europäischer Kultur und Geschichte fundamental verwoben sind.

Pasolini wird immer einen singulären Status in der Filmgeschichte einnehmen und dieser Status wird viele davor schützen, sich mit seinen Thesen auseinander setzen zu müssen. Diese Thesen sind leicht anzugreifen, weil Pasolini grundsätzlich Stellung bezieht, und dies grundsätzlich als Subjekt. Dadurch macht er sich und sein Denken angreifbar. Doch wenn es gelingt, sich dieser Bildsprache, dieser Spezifik, die man immer sofort zu erkennen glaubt, zu öffnen, wird man ebenso auf ein emotionales wie intellektuelles Diskursgewebe stoßen, welches in der uns gegenwärtigen Situation des Jahres 2015 vielleicht so relevant ist, wie schon lange nicht mehr. Vielleicht gerade weil Pasolini mit seinem ganzen Wesen, also auch der gerade bei ihm so ausgeprägten Widersprüchlichkeit, dafür einsteht, utopisch denken zu dürfen, ja, utopisch denken zu müssen, ohne sich der Geschichte und der daraus hervortretenden seelischen Verletzung (von der physischen ganz zu schweigen) zu entledigen. Und weiterhin künstlerisch(en) Ausdruck dafür zu finden, diesen Prozeß zu transzendieren in eine Aussage über das Geschehen eines geschichtlichen Prozesses an sich.

Nur wenigen gelingt dies, wie es diesem Künstler gelungen ist.

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