WAS ICH EUCH NICHT ERZÄHLTE/EVERYTHING I NEVER TOLD YOU

Ein auf weiten Strecken kraftvoller, letztlich aber doch zu funktionalistischer Roman über Außenseitertum, familiären Druck und unerfüllte Wünsche

WAS ICH EUCH NICHT ERZÄHLTE (EVERYTHING I NEVER TOLD YOU/2014) – Celeste Ng berichtet in ihrem ersten Roman vom großen Schweigen in einer Familie und von den fürchterlichen Folgen, die dieses Schweigen hat. Wie eine Zwiebel häutet sie das Innenleben der Familie Lee, legt Schicht um Schicht frei, bis hinter der scheinbar so intakten und freundlichen Fassade die ganze Tragik dieser spezifischen Konstellation zum Vorschein kommt.

James Lee ist chinesischer Abstammung, durch einen Zufall verschlägt es ihn in jungen Jahren nach Ohio, wo er seine Jugend als Außenseiter durchlebt. Er setzt sich gegen einige Widerstände durch und bringt es als Student bis nach Harvard, wo er Marilyn kennenlernt, eine Tochter des Südens aber auch Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die sie zu einer perfekten Hausfrau und Mutter erziehen will. Sie ist für James die Möglichkeit, ein Gefühl von Zugehörigkeit und Normalität zu erleben, weil er mit der Ehe vermeintlich in der weißen Mittelklasse anzukommen scheint; er ist für sie hingegen die Möglichkeit, genau dieser Mittelklasse zu entfliehen und etwas eigenes, etwas substanziell anderes zu etablieren. Und doch endet sie als Mutter und Hausfrau, gibt die Träume vom Medizinstudium und der Karriere als Ärztin auf, während James trotz eines Jobs als Hochschuldozent an einer Provinzuniversität, trotz eines „normalen“ amerikanischen Durchschnittslebens, nie das Gefühl verliert, außerhalb der Gemeinschaft zu stehen, nicht dazuzugehören. Das Ehepaar hat drei Kinder – Nath, Lydia und Hannah, die Spätgeborene. Lydia wird aus verschiedenen Gründen zur Lieblingstochter, zu einer Projektionsfläche ihrer Eltern, die nahezu diametral entgegengesetzte Wünsche hinsichtlich der Zukunft des Kindes haben: Die Mutter will in der Tochter die eigenen Träume, der Vater soziale Anerkennung verwirklicht sehen. So dreht sich alles um Lydia. Nath, der eine spezielle Beziehung zu seiner Schwester hat, die nur bei ihm Zuflucht vor dem  elterlichen Druck findet, empfindet sich als unzulänglich und ungeliebt, Hannah wird in dieser Familie so gut wie gar nicht wahrgenommen. Und dann ist Lydia eines Tages verschwunden…

Anhand dieses Verschwindens bricht das gewollte und künstliche Konstrukt, das diese Familie von allem Anfang an darstellte, zunächst auf, dann in sich zusammen. In Sprüngen zwischen der Ebene jener Tage, Wochen und Monate nach Lydias Verschwinden und jener der Erinnerungen der verschiedenen Familienmitglieder wechselnd, entblättert sich das ganze Drama der Enttäuschungen, der Ignoranz, der Verletzungen und Verletztheiten, der Hoffnungen und Wünsche, die diese Menschen in sich tragen, oft niemals äußern, manchmal nicht einmal sich selbst eingestehen. Geschildert wird dies in einer meist nüchternen, oft zum Geschehen und den Figuren distanzierten Sprache. Das ist durchaus packend, es gibt Momente großer Intensität und tiefer Emotionalität, die Ng rein deskriptiv entstehen lässt, dabei auf den Leser und seine Empathie vertrauend. Und lange funktioniert das stilistisch und formal sehr gut. Und doch kippt der Roman, knapp 280 Seiten lang, irgendwo – schwer zu bestimmen, an welcher Stelle dies geschieht – , kippt und offenbart eine Mechanik, die ihn schließlich viel von dem kostet, was ihn zumindest in der ersten Hälfte so fesselnd gemacht hat.

Wie das Häuten einer Zwiebel ein zwar tränentreibender Vorgang für den Häutenden sein kann, so bleibt es im Kern doch ein mechanischer Vorgang und genau darin liegt die entscheidende Schwäche des Buches: Einerseits will Ng schlicht zu viel, andererseits kann sie diesem Zuviel nur gerecht werden, indem sie die Figuren, die sie zunächst so behutsam aufgebaut hat, immer eindimensionaler und formalistischer auftreten lässt. Wie Zahnräder greifen die einzelnen Dysfunktionen dieser Familie ineinander und der Weg in die Katastrophe scheint unausweichlich. Dabei erfüllt jede der Figuren dieser Geschichte genau die ihm zugedachte Funktion. Die erstickenden, sich widersprechenden Anforderungen der Eltern an Lydia, das vollkommende Ausblenden der Bedürfnisse ihrer anderen Kinder, der Mangel an Reflektion, der Mangel an Kommunikation und die Abwesenheit jedweden Widerspruchs bei einem Mädchen, das uns zugleich als jemand geschildert wird, der durchaus zu eigenen Gedanken und Handlungen fähig ist, machen den Ablauf der Handlung irgendwann unglaubwürdig. Zu konstruiert, zu funktionalistisch, zu stereozyp mutet das an. Wieso hat diese Familie solche Schwierigkeiten, miteinander zu sprechen, obwohl sowohl James als auch Marilyn offenbar ausgesprochen kluge und auch mutige Menschen sind? Wieso entfliehen sie nie der Provinz, die ihnen – oder zumindest ihm – mehr und mehr die Luft zum atmen nimmt? Wieso rebelliert Lydia nie offen, dafür aber umso heftiger im Geheimen? Warum spricht Nath die für ihn doch offensichtlichen Probleme in dieser Familie nie offen an?

Ng findet durchaus Bilder, die vieles erklären, die die innere Zerrissenheit all dieser Menschen spürbar machen, doch gelingt es ihr nicht, diese Figuren soweit mit Leben zu füllen, daß ihre inneren Widerstände gegen das Aufbegehren – und jeder hier müsste aufbegehren, sei es die eigene Lebensgeschichte, seien es die Eltern, sei es die Umgebung usw., die dazu animierten – wirklich plausibel würden. So bleibt das Verhalten dieser Menschen schließlich Behauptung. Und das ist schade, da gerade auf den ersten 100 Seiten durchaus liebenswerte, vielschichtige Personen entstehen, die dann aber nicht halten können, was sie zunächst versprachen. Hier und da gerinnen ihre Verhaltensweisen zu reinen Klischees, an einer Stelle werden knapp zehn Jahre in der Erinnerung einfach übersprungen, wodurch Naths Pubertät nahezu ausgespart bleibt und die Autorin nie in Verlegenheit gerät, diesen Jungen genauer zu untersuchen, sein Werden, seine Unterlassungen dem Leser näher zu bringen. Seine Wut auf den Nachbarjungen Jack, der, wir ahnen es früh, in ihn verliebt ist, wirkt aufgesetzt und vor allem – ein weiterer mechanischer Vorgang des Erzählens – folgerichtig nötig, um der Figur Nath nach Lydias Verschwinden weiterhin seine Funktion in dieser Anordnung zuzuweisen. Gleiches gilt für Hannah, die sich exakt so verhält, wie der Leser es von einem weitestgehend unbeachteten Kind erwarten würde. Ewig könnte man so weiter machen.

So bleibt nach der Lektüre ein schales Gefühl von verschenktem Potential. Als sei der Autorin auf halber Strecke der Sprit ausgegangen, als habe sie vergessen, was sie von ihrem Personal ursprünglich einmal wollte, als wüsste sie mit den eigenen Stärken nichts anzufangen, verheddert sie sich und türmt, anstatt tiefer ins Innenleben der einzelnen Protagonisten einzudringen, immer mehr Probleme, Konflikte und innere Krisen auf, packt die Geschichte immer voller, bläht sie immer weiter auf und lässt sie dadurch irgendwann, wenn nicht unglaubwürdig, so doch zumindest wie am Reißbrett entworfen wirken. Kindesverlust, Außenseitertum, gemischtrassige Ehen in einem Amerika – die Geschichte spielt zwischen den späten 50er und den späten 70er Jahren – das gerade erst am Anfang einer liberalen Entwicklung stand, elterlicher Druck, Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, jugendliche Homosexualität – man weiß kaum mehr, worauf man sich hier konzentrieren soll. Und genau das weiß der Text, dahinter die Autorin, ab einem gewissen Punkt ebenfalls nicht mehr. Dann behilft diese sich mit fragwürdigen literarischen Mitteln, Cliffhangern und Anspielungen, erklärt uns, daß das eben Gelesen für alle obsolet werde nach den „Ereignissen des kommenden Tages“ usw.

Dabei lässt sich WAS ICH EUCH NICHT ERZÄHLTE lange gut lesen, kommt dann aber anhand der eigenen Unzulänglichkeiten ins Stolpern, verwickelt sich in den Strippen seiner Ansprüche und verliert dadurch seine Kraft und seine Energie. So hat man hier schließlich ein gutes Beispiel von Könnerschaft, Überfrachtung und Anspruch, dem ein Debütant vielleicht schlicht nicht gewachsen ist und auch nicht gewachsen sein kann. Daß Celeste Ng großes Potential hat und dieser Roman trotz aller Kritik auf weiten Strecken überzeugen kann, lässt dann eben auf zukünftige Werke hoffen.

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