EINE VORBILDLICHE TOCHTER/LA HIJA EJEMPLAR
Ein leider viel zu lauer, viel zu flauer Kriminalroman
Kinder, die in Kellern verschwinden, oft jahrelang – ein in den vergangenen Jahren leider zu häufig vorkommendes, immer wiederkehrendes Phänomen in der Kriminalistik. Auf die Idee, das Ganze einmal umzudrehen und eine junge Frau, eher ein Mädchen, Monate in einem Keller einzusperren, um sie zu schützen, auf solch eine Idee muss man erst einmal kommen. Und so bitter ein Spoiler dieser Art ist, man muss diesen Aspekt aus Federico Axats Psychothriller EINE VORBILDLICHE TOCHTER (LA HIJA EJEMPLAR, Original erschienen 2022; Dt. 2025) hervorheben, auch wenn er zentral ist und wesentlich zum Fortgang der Geschichte beiträgt, eigentlich also nicht verraten werden dürfte. Aber es hat schon einen Hautgout, ein wahres Geschmäckle, eine perfide Freiheitsberaubung derart in ihr Gegenteil umzudeuten, wie es in diesem Roman erstaunlich unreflektiert geschieht. Zumal Vieles in diesem Roman nicht gut funktioniert und unmotiviert erscheint. Es drängt sich also irgendwann während der Lektüre der Eindruck auf, hier habe jemand einer mäßig spannenden Story Skandalpotential einschreiben wollen.
Aufgebaut ist Axats Werk auf zwei Ebenen. Eingeführt wird zunächst die prominente Journalistin Camila Jones, lange Jahre Gastgeberin eines beliebten Talk- und Interviewformats in einem der großen amerikanischen Sender. Sie hat sich nun zurückgezogen und lebt auf einer Insel vor der Küste von North Carolina. Wöchentlich spricht sie mit ihrem Sohn per Videochat, ansonsten gibt sie sich der leichten Muse hin. Bis der Lokalreporter Tim Doherty vor ihrer Tür steht und sie bittet, einen Blick auf das Material zu werfen, das er zu einem Fall gesammelt hat, der die Stadt seit Monaten beschäftigt: Die 14jährige Sophia ist verschwunden, die Polizei nimmt an, sie habe sich umgebracht, da man Teile ihres Kleids gefunden hatte. Für Doherty stellt sich nun die Frage, ob Sophia wirklich nicht mehr lebt – und ob ihr Verschwinden, bzw. ihr vermeintlicher Tod etwas mit dem Mord an ihrem Mitschüler Dylan zu tun haben könnte. Der junge Mann wurde einige Wochen nach Sophias Verschwinden mit einem Hammer erschlagen. Camila Jones´ Interesse ist nach anfänglichem Zweifel geweckt – obwohl sie sich eigentlich nicht mehr mit Recherchen dieser Art beschäftigen wollte.
So bekommen die Leser*innen zunächst einen klassischen Plot präsentiert, in welchem anstatt eines Detektivs oder eines Polizisten Journalisten ermitteln. Nicht der originellste Ansatz, aber einer, der eigentlich jede Menge Potential bietet, um mediale Aufmerksamkeit, Sensationsgier und lüsterne Spekulationswut darzustellen, zu analysieren und zu hinterfragen. Doch bietet Axat wenig bis gar nichts derartiges. Vielmehr wechselt er vergleichsweise früh auf eine zweite Erzählebene, auf der er zunächst die Vorgeschichte zu Sophias Verschwinden erzählt und dabei, das muss man ihm zugestehen, eine recht eindringliche Geschichte jugendlicher Emanzipation, jugendlichen Aufbegehrens und entstehender Freundschaften schildert. Dieser Teil seines Romans nimmt aber schließlich weit mehr Raum ein als die Recherchearbeit von Camila und Tim und man fragt sich, weshalb der Autor seine Geschichte nicht gleich geradeaus und direkt erzählt hat? Zumal wir irgendwann der gefangenen Sophia (und hier noch einmal zur Spoilerwarnung: Man ahnt sehr, sehr früh im Roman, dass das Mädchen noch lebt, allein schon, weil sie als hochbegabte Schülerin nicht wie eine potentielle Selbstmörderin charakterisiert wird) in ihrer Zelle in einem Keller begegnen, wo sie zunächst das Essen verweigert, um ihren Entführer, einen mysteriösen Mann namens Mike, unter Druck zu setzen und dann mehr und mehr dem erliegt, was einst als „Stockholm-Syndrom“ bezeichnet wurde und ein inniges Verhältnis von Entführten zu ihren Entführern beschreibt.
Man ist schon irritiert, wie spannungsarm diese Story zwischen Kriminalfall, Coming-of-Age-Story und der Sozialgeschichte eines Schulmobbings mäandert, als klar wird, dass Dylan eine von Sophias Freundinnen animiert hat, in einem Privatporno mitzuwirken. Doch bekommt Axat zunächst die Kurve, wenn zur Mitte des Romans herauskommt, dass hinter all dem etwas ganz anderes steckt, als zunächst angenommen. Etwas, das dann auch rechtfertigen soll, weshalb jemand ein unschuldiges und sehr junges Mädchen monatelang einsperrt und von der Außenwelt isoliert. Doch auch dieser Teil der Handlung bleibt eher mau, was Spannung und Suspense betrifft, es gibt die eine oder andere actiongeladene Szene, doch trifft das zu, was so häufig auf actiongeladene Szenen in der Literatur zutrifft: Gefilmt wirken sie einfach besser. Und zu schnell ahnt das Publikum, worauf das alles hinausläuft. Auf den letzten knapp 100 Seiten arbeitet der Autor dann mehr oder weniger die losen Enden ab, die er auf den 450 Seiten zuvor hat liegen lassen. Das meiste löst sich in Wohlgefallen auf, die Bösen werden bestraft, die Guten belohnt und fast wähnt man sich in einer Feel-Good-Story, so spurlos geht all das, was zuvor wenig dramatisch geschildert wurde, für ein reales Wesen allerdings hoch dramatisch, ja traumatisch wäre, an den Figuren vorbei.
Diese Figuren sind alles in allem zu eindimensional, als dass die Leser*innen ihnen tatsächlich gehobene Aufmerksamkeit entgegenbringen würden. Sophia ist so klug und ansonsten ein moralisch derart einwandfreies Mädchen, dass man ihr in seinen schlimmsten Momenten fast noch wünschen würde, hier und da etwas Dunkles, mindestens etwas Widersprüchliches in sich zu entdecken – wie das ja bei dem einen oder andern Jugendlichen in der Pubertät vorkommen soll. Gleiches gilt für ihre Freundesgruppe. Die setzt sich aus zwei Jungs und zwei Mädchen zusammen und auch diese sind zwar tief betroffen, aber ebenfalls wenig berührt von dem, was geschieht. Für jede schlimme Entwicklung bietet sich glücklicherweise immer irgendeine Lösung oder zumindest ein Ausgleich an. Dass jene, die tatsächlich teils Jahre in Kellern verbracht haben fürs Leben gezeichnet sind und auch ihre Angehörigen meistens bleibende psychische Schäden aufweisen – geschenkt. Hier gehen alle durch ein Purgatorium, um am Ende als bessere Menschen aufzuerstehen.
Die Bösewichter sind ebenfalls eindimensional gezeichnet. Dass sie schon in den Szenen, in welchen sie eingeführt werden, wir aber noch nicht ahnen, wie böse sie nun wirklich sind, bereits extrem unsympathisch wirken – was soll´s? Es ist durchschnittliches Krimihandwerk, Spuren und Fährten zu legen. Nur denkt man, gehobene Krimikunst sei es, einige davon so anzulegen, dass das Publikum in die Irre geführt wird. Doch nichts da – hier bekommt man genau das, was man auf den ersten Blick (wenn man das von einer Lektüre überhaupt so sagen kann) sieht.
Es ist schade, denn Axats Geschichte birgt Potential, wie schon eingangs erwähnt. Dies hätte auf psychologischer Ebene genauso funktionieren und faszinieren können, wie auf einer politischen. Man hätte Großstadthype und Kleinstadtleben zueinander in Bezug setzen können, man hätte die Medienlandschaft beleuchten können, man hätte gar das amerikanische Schulsystem und seine Stärken und Schwächen darstellen können. Man hätte die Praxis, auch noch die letzten Ämter demokratisch zu besetzen, hinterfragen können und nicht zuletzt hätte man sich fragen können, was es mit einem Menschen macht, wenn er merkt, dass in seiner direkten Umgebung etwas fundamental anders ist, als es scheint.
Doch all diese Aspekte werden, wenn überhaupt, kurz angeschnitten, dann wieder fallengelassen oder – was schlimmer wiegt – oberflächlich ausgeschlachtet, um eine möglichst skandalträchtige Geschichte zu spinnen. Das ist dann im Ansatz schon eher reaktionär und ein wenig obszön. Und leider ist es weder packend noch aufwühlend. Man liest das, weil man irgendwie daran interessiert ist, die Auflösung zu erfahren, dann legt man es weg, weil sie praktisch genau so ausfällt wie erwartet. Dann vergisst man das Ganze.