DIE VERZAUBERUNG

Eine frühe Analyse der Entwicklungen in Deutschland unter Hitler, zugleich eine Abhandlung über Religion und Transzendenz

Unter jenen Werken, die sich früh schon mit der – damals vor allem psychologisch betrachteten – Frage beschäftigen, wie „das“, „es“, passieren konnte, wird Thomas Manns DOKTOR FAUSTUS gern und sicherlich nicht zu Unrecht als das beste, treffendste und literarisch anspruchsvollste betrachtet. „Es“ bezeichnet dabei die Verführbarkeit des Menschen – als Einzelner, aber eben auch in der Masse, als Kollektiv. Mann selbst wollte sein Werk nicht gern als Analyse deutscher Befindlichkeiten gedeutet sehen, doch gab er unumwunden zu, daß es unter dem Eindruck der Düsternis des Krieges und der Zukunftsangst im Jahre 1943 begonnen wurde und sich somit die damals gegenwärtige Situation eingeschrieben haben mag. Ein anderer, der sich dieser drückenden Frage angenommen hat, dessen Name allerdings weit weniger Strahlkraft als der Thomas Manns hat, dessen Werk heute außerhalb akademischer Zirkel leider nahezu vergessen ist, der aber durchaus einen ähnlich tiefgreifenden Zugriff auf die Frage hatte, ist der Österreicher Hermann Broch.

Sein Roman DIE VERZAUBERUNG – vormals BERGROMAN oder auch DER VERSUCHER – blickt auf eine verworrene Veröffentlichungsgeschichte zurück, da das Werk nicht nur in 3 Fassungen vorliegt, sondern auch einzelne Kapitel und Passagen im Laufe der Jahre in literarischen Zeitschriften, teils zuerst in englischer Sprache, veröffentlicht wurden. Geplant als erster Band einer Romantrilogie, die sich mit Religion, religiösen Bedürfnissen, dem Verlust des „richtigen“ Glaubens und den sich daraus ergebenden Verwerfungen für den Menschen befassen sollte, erlebte DIE VERZAUBERUNG zu Brochs Lebzeiten keine einheitliche Veröffentlichung mehr. Da jedoch die erste Fassung, begonnen schon in den frühen 30er Jahren, fertig gestellt 1935, die einzige wirklich als abgeschlossenes Typoskript vorliegende darstellt, wurde deren Gliederung und grob auch die Erzählstruktur übernommen. Die maßgeblichen Änderungen bei Namen und auch in den Kapitelnummerierungen wurden in den späteren Veröffentlichungen des Suhrkamp Verlags berücksichtigt.

Diese genaue Editionsnotiz ist daher nötig, weil sie wesentlich begründet, daß Broch sich seinem Gegenstand auf seine spezifische Weise nähern konnte. In den frühen 30er Jahren war der „Hitlerismus“ schon in seiner furchtbaren Ausprägung ersichtlich, wie weit die Anhänger des „Führers“ und seinen Lehren gehen würden, welchen Kulturbruch sie herbeiführen sollten, war nicht absehbar. So erzählt der Roman allegorisch, vielleicht als Parabel, von der Verführbarkeit des Menschen in der Masse, unter den entsprechenden Bedingungen. Darunter fallen u.a. das Vorhandensein eines möglichen Feindes, das Gefühl einer Entfremdung, der Verlust gewisser Sicherheiten und, natürlich, schnöde Gier. Zudem braucht es denjenigen, der die Bedingungen begreift, sie zusammenführen und so anordnen kann, daß in seinen Reden die Magie der Verheißung aufschimmert. Spätestens dann, wenn das Gift der Verzauberung in das Unterbewusste einer gewissen Masse getröpfelt ist, ist ein kritischer Punkt erreicht, ein Punkt, an dem sie form- und lenkbar wird, die Masse.

In Brochs Werk spielt sich diese Entwicklung beispielhaft in einem Bergdorf namens Kruppon ab. Geteilt in ein Ober- und ein Unterdorf, geteilt in Bauern und ehemalige Bergleute, lebt die Gemeinschaft vor sich hin, bis eines Tages ein Wanderarbeiter namens Marius Ratti im Dorf auftaucht. Er wiegelt die einzelnen Bevölkerungsteile gegeneinander auf, hetzt gegen Minderheiten, verbrüdert sich mit der Jugend, die ihm einer Truppe gleich zu folgen beginnt, er verbreitet eine Art antimoderne Bodenmystik als Ersatz für die im Dorf anerkannte Naturreligion der Mutter Gisson und kann schließlich sogar Massenwahn und Ekstasen auslösen, welche Menschenopfer fordern. Nach und nach gelingt es Ratti, immer unter tätiger Mithilfe seines Gefährten Wenzel, die Macht im Dorf zu übernehmen.

Berichtet wird das alles von einem namenlosen Erzähler, der während der ca. neun Monate dauernden Weile der Geschehnisse als Landarzt im Dorf gegenwärtig war, selbst jedoch ein erst vor etwa zehn Jahren aus der Stadt Zugezogener ist. Die Aufzeichnungen, versehen mit Vor- und Nachwort, werden von ihm als Rechtfertigung und Selbstversicherung bezeichnet. So ist er nicht nur Berichterstatter, sondern ab einem frühen Zeitpunkt im Roman auch Beteiligter, der sich zu den Geschehnissen, den Figuren und Situationen, die er erlebt, verhält. Er bezieht Stellung, gegen Ratti und seinen Gehilfen, für Mutter Gisson, der er sich auf untergründige Art verbunden fühlt, auch wenn sie ihm gelegentlich in seine Profession als Arzt hineinpfuscht, gehen doch gerade Frauen mit gewissen Problemen zu ihr und ihrer natürlichen Heilkunde, statt sich den modernen Methoden der Medizin anzuvertrauen. Die Erzählposition, die der Landarzt einnimmt, erlaubt es ihm allerdings nicht, sich zu entziehen und da er sich und den Lesern im Vorwort Offenheit versprach, muß er eigene Beteiligung und eigenes Erliegen gegenüber den Verführungen eingestehen. In jener Szene, in der eine junge Frau Menschenopfer für Rattis düsteren Männlichkeitskult wird, der, durch eine Bodenmystik aufgepeppt, nahezu religiöse Züge annimmt, gerät auch der namenlose Landarzt in Raserei und wird nicht nur Zeuge, sondern ist Beteiligter, vielleicht sogar „Opfer“  der allgemeinen Psychose.

Den Gegenpol zu Ratti bildet vor allem und in allem Mutter Gisson, die, ohne offen Partei gegen diesen zu ergreifen, stillschweigende Opposition übt. Mutter Gisson steht in innere Verbindung mit der Natur, sie spürt das Land, den Boden, aber auch die Umwelt, den Berg, die Jahreszeiten und darin das Vergehen der Zeit. Sie kennt die Kräuter und die Heilpflanzen und wann sie wo zu finden und zu pflücken sind. Ihre Religion ist im Kontext des Buches die „richtige“ Religion, vielleicht besser: der „richtige“ spirituelle Zugriff auf das Wesen der Dinge. Doch einem uralten Zauberer gleich, spürt die Mutter auch, daß ihre Zeit nun zum Ende kommt. Sie spürt sogar eine gewisse Verbindung mit Ratti und seiner von Gewalt und Distanz zum Menschen wie zur Natur geprägten Mystik, die nach heutigen Maßstäben einer Populärbewegung entspräche, scheint sich Ratti doch zusammen zu klauben, was sein dunkles Weltbild bedient und unterstützt. Inneren Zusammenhang gibt es keinen in seinen Ansichten, womit Broch natürlich auch die oft oberflächliche heidnische Pseudoreligiosität der Nationalsozialisten lächerlich macht und als genau das entlarvt, was sie ist: Schein. Irmgard, zu der Mutter Gisson ein besonderes Verhältnis hat, soll von dieser zu einer Art Nachfolgerin ausgebildet werden, sie soll eine Frau werden, die das alte Wissen weiterträgt, ebenfalls die Blumen, Bäume und Kräuter und ihre Wirkungen kennt. Doch bevor sie letztgültig in die Geheimnisse von Mutter Gissons Naturreligion eingeführt werden kann, wird sie als Opfer für Rattis Bodenmystik hingemordet.

Brochs zentrale Analyse läuft darauf hinaus, daß der Verlust der „richtigen“ Religion und der Ersatz durch krude Ideen, mystische und mythologisch verbrämte Heilslehren und einen todbringenden Männlichkeitskult eine Entfremdung zeitigen, die fast zwangsläufig zu jener kollektiven Raserei führen muß, die im Roman dann in eben der Opferung, im Mord an der jungen Frau gipfelt. Die Wirklichkeit – deswegen sei noch einmal auf das Entstehungsdatum des Romans hingeweisen – gipfelte natürlich in ganz anderen Wahnideen und deren Umsetzung. Diese waren so 1935 eben nicht absehbar, daß das, was sich in Deutschland zusammenbraute zumindest fürchterliches Potential hatte, begriff Broch allerdings ganz genau und stellte es in seinem Roman auch dementsprechend aus und bloß. Das Eingeständnis des Erzählers, selber nicht gefeit gewesen zu sein vor der kollektiven Ergriffenheit, die der Verführer Ratti hervorzuzaubern vermochte, ist ehrlich und entspricht der frühen Verzauberung durch eine Führerpersönlichkeit, die Aussichten auf bessere Zeiten verspricht, zugleich aber auch die tiefsitzenden Ängste und Sorgen erspürt, die eine Bevölkerung umtreiben. Die Verführbarkeit durch schöne Worte, Satzgirlanden und überwältigende Wiederholung persifliert Broch zwar in Rattis sich manchmal bis zur Sinnlosigkeit steigernden Wortkaskaden, doch in den eigenen Wortkaskaden, also denen des Landarztes, kommt dann eben auch die Selbstverführung durch die Erfahrung der Transzendenz zum Ausdruck, die eben diesen nur in der Sprache finden kann. Broch macht es sich, macht es seiner Ich-Figur nicht leicht. Die eigene Verführbarkeit zumindest anzudeuten und in den gegebenen Zusammenhängen jedweder – auch ideologischen – Bewegung religiösen Grundcharakter zu verleihen, zeugt von Mut. Der Landarzt nimmt seine Umgebung, nimmt die Natur als etwas Heiliges, Transzendentes wahr, die Naturbeschreibungen, die Broch liefert, sind in ihrer Genauigkeit und gleichzeitiger sprachlichen Überhöhung ins Metaphysische ebenso atemberaubend, wie sie bei der Lektüre auch zeitraubend sind.

Wenn Spiritualität die äußere Bedingung für die Entwicklungen ist, so ist es die Psychologie der Figuren – ebenso allegorisch und exemplarisch gehalten – die die innere Komplexität der Lage erklärt. So wenig Wert er auf die individuelle Charakterisierung zu legen scheint, erspürt Broch doch erstaunlich genau jene Mechanismen des Populismus, die auch heute wieder zu beobachten sind. Die Versprechung, das Ungenaue, das Raunen und die Verheißung, die darin zu liegen scheint, die zumindest viele darin vernehmen wollen. Vor allem dies begreift Broch, ähnlich den Erkenntnissen eines Elias Canetti in seiner Untersuchung zu MASSE UND MACHT: Nicht nur, daß Massen verführbar sind, sondern sie müssen auch verführbar sein wollen, um wirklich ergriffen zu werden und sich einer Führung jedweder Art hinzugeben. Natürlich funktioniert das leichter, wenn die Köder saftig sind: Eine mit verquasten Ideen durchsetzte (Blut &) Boden-Mystik, ein Apell an die Gier und daran, daß die einen den andern angeblich etwas vorenthalten (Gold im Berg) und schließlich, eingebettet in eine antimodernistische Haltung, ein zu bedeutender Feind, der sich schon im Innern der Gemeinschaft eingenistet und damit begonnen hat, sie zu zersetzen, hier der Elektrovertreter Wetchy, Agent dieser gefährlichen Moderne. Es gelingen Broch hier ebenso genaue wie überzeugende Analogien, was die Methoden der Nazis angeht, inklusive des Vertreters Wetchy als Stellvertreter für die Juden, den Ratti mehrfach auch dafür angreift, sein Geld nicht mit „ordentlicher“ Arbeit zu verdienen, sondern mit der Arbeit anderer, womit Broch eines der gängigsten antisemitischen Klischees aufgreift und abwandelt.

Im inneren Zusammenhang des Romans, im Kern seiner Konstruktion, stehen sich möglicherweise die oft dialogisch gestalteten Szenen zwischenmenschlicher Begegnung und die langen, reflexiven, manchmal dem Joyce´schen ‚stream of consciousness‘ verwandten Natur- und Seelenbetrachtungen gegenseitig im Wege. Das eine verhält sich hier und da kontraproduktiv zum andern, gelegentlich auch kontrapunktisch, seltsam entrückt wirken die Geschehnisse, viel näher und intensiver die Selbstbeschau und Spiegelung des Ich im Äußeren. Folgerichtig sinniert der Icherzähler auch über die Verwandlung des Inneren ins Äußere und ebenso die gegenläufige Bewegung. Die Natur erhält also nicht nur allegorischen Spiegelungscharakter, sie erklimmt nicht nur die Höhen metaphysischer Betrachtung, sondern sie wird momentweise zum Chor, entsprechend dem der antiken Tragödie, ein die Entwicklungen kommentierender Chor.

In der Kritik wurde dem Roman gelegentlich vorgeworfen, die Figur des Icherzählers nehme eine derart übergeordnete Position ein, daß dagegen alle anderen Figuren zurückträten oder verblassten. Zudem  habe Broch so oder so wenig Wert auf die Ausarbeitung einzelner Charaktere gelegt. Das stimmt. Beide Vorwürfe stimmen. Es sei denn, man müht sich, den Roman anders zu denken. Beispielsweise als Selbstbefragung. Ein Spiel mit Ich, Es und Über-Ich, beispielsweise. Broch war durchaus mit den Freud´schen Thesen vertraut. Als Mathematiker konstruiert er also den Roman möglicherweise um seine These herum, was ihn mit Musil verbindet und zugleich, als Philosophen, wiederum mit Canetti, dessen Roman DIE BLENDUNG ähnlich theoriebeladen und kalt in der Charakterzeichnung wirkt. Doch ist der Text als subjektiver Bericht gekennzeichnet von allem Anfang an und also stellt er auch so oder so eine Rechtfertigung des Schreibers (Broch/Landarzt/Icherzähler) sich selbst gegenüber dar. Eine Rechtfertigung und eine Selbstvergewisserung, sich in entscheidenden Augenblicken doch entscheidend richtig verhalten zu haben.

Mit den Kenntnissen des 21. Jahrhunderts ist es natürlich schwer, Brochs Analysen noch zu folgen. Auch wirken seine Überlegungen eher versponnen und vom eigentlichen Gegenstand  entfernt, wenn man bspw. einen Roman wie Anna Seghers´ DAS SIEBTE KREUZ – nur wenige Jahre später entstanden und sehr viel näher an der brutalen Wirklichkeit – vergleichend hinzu nähme. Doch als zeitgenössische Lektüre eines aufmerksamen Beobachters, dem es in seiner Prosa darum zu tun war, ähnlich einem Robert Musil, Kunst, Philosophie und die Exaktheit der Mathematik zu erkenntnistheoretischer Deckung zu bringen, funktioniert dies nur allzu gut. Schon möglich, daß sich in Brochs Beschreibung einer „Verzauberung“ mehr Wahrheit versteckt, als wir es auch heute noch wahrhaben wollen. Manchmal erscheint uns der Teufel eben in der Gestalt des Nächsten. Und dann müssen wir genau wissen, wo wir stehen, um seinen Künsten der Verführung zu widerstehen. Dabei helfen die Selbstvergewisserung, die Selbstprüfung und die Kenntnis des eigenen Standortes. Broch glaubt an den Glauben, er glaubt an Transzendenz und daran, daß wir Grenzen überschreiten (werden), wie die letzten Seiten seines Werkes noch einmal beweisen. Ohne all das werden wir nicht dagegen halten können, scheint er uns zuzuraunen. Wann wäre Literatur je wahrhaftiger?

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