EIN MANN WILL NACH OBEN

Hans Falladas Epos über das Berlin zur Kaiserzeit und in der Weimarer Republik

Einige der auch heute noch bekannteren und vor allem wesentlichen Werke im Schaffen Hans Falladas wurden erstaunlicherweise erst posthum veröffentlicht. Darunter der heute zu seinen Hauptwerken gerechnete Roman DER ALPDRUCK (1947), der autobiographisch angehauchte Roman DER TRINKER (1950) und das Berlin-Epos EIN MANN WILL NACH OBEN (zunächst EIN MANN WILL HINAUF. DIE FRAUEN UND DER TRÄUMER; 1953/2011).

Das Manuskript datiert auf das Jahr 1942, doch offenbar hatte Fallada nicht den Eindruck, unter dem Nazi-Regime mit diesem Buch reüssieren zu können, obwohl es, oberflächlich betrachtet, nahezu unpolitisch ist. Das ist aber auch insofern bedenkenswert, weil der Autor einige seiner größten kommerziellen Erfolge in den Jahren der Diktatur feiern konnte und durchaus bereit gewesen ist, sich mit den Anforderungen der Zensur etc. zu arrangieren. Doch muss es eben auch Texte gegeben haben, die er nicht veröffentlicht sehen wollte. Es kann natürlich auch sein, dass er gerade diesen Roman nicht als vollendet betrachtet hat.

Gegenwärtigen Leser*innen, die bereits leicht fortgeschrittenen Alters sind, wird der Titel womöglich durch die 13teilige ZDF-Serie bekannt vorkommen, die Ende der 70er Jahre ein wahrer Straßenfeger war und die Figuren des Karl Siebrecht, der Rieke Busch und des Kalli Flau in Gestalt von Mathieu Carrière, Ursela Monn und Rainer Hunold nachdrücklich im Gedächtnis der Zuschauer*innen verankert haben dürfte. So brillant die Serie gewesen ist – Karl Wittlinger, der die Idee zur Verfilmung hatte und maßgeblich an der Umsetzung beteiligt gewesen ist, sowie Regisseur Herbert Ballmann hatten natürlich eine äußerst dankbare Vorlage für ihr Mammutunternehmen, das seinerzeit die teuerste Fernsehproduktion der deutschen Nachkriegsgeschichte gewesen ist. Denn Fallada konnte auf eine Weise erzählen, die ihresgleichen suchte. Anschaulich, detailreich, prall in den Bildern, voller Lust am Fabulieren, ausgestattet mit diesem speziellen „Sound“, der seine Geschichten fast immer durchzieht. Es „menschelt“ bei ihm, ohne dass er je in den Kitsch abgleiten würde (möglicherweise kratzt er hier und da so eben noch die Kurve, aber was soll´s…). Und seine Figuren sind enorm genau charakterisiert, sie sind authentisch und lebensnah und drängen sich für Verfilmungen geradezu auf.

In diesem nahezu 750 Seiten starken Roman hatte Fallada vor allem der Stadt Berlin als einem ungeheuer vitalen, aufbruchswilligen und zugleich auch unbarmherzigen urbanen Raum ein Denkmal gesetzt. Er lässt seine Hauptfigur, den jungen Karl Siebrecht, im Jahr 1909 aus seinem Heimatdorf in der Uckermark in die Hauptstadt des Reichs kommen, nachdem sein Vater gestorben ist und sich im Dorf – auch aufgrund des schlechten Leumunds des hochverschuldeten Mannes – nur schlecht Anstellung finden lässt. Karl hat aber eh eigene Pläne: Er will Berlin erobern, er will was werden, er will, wie der Titel es sagt, „hinauf“, nach oben. Und Berlin ist eine Stadt, die ihm Aufstiegschancen zu versprechen scheint, ein Ort, an dem ein Mann, der hart zu arbeiten willens ist, Möglichkeiten finden wird, etwas aus sich zu machen. Und mit der Hilfe von Rieke und Kalli – seinen besten, allerdings auch einzigen Freunden – und unter dem Protektionismus des Herrn von Senden, der Gefallen an dem jungen Mann findet, gelingt es Karl tatsächlich, ein Unternehmen aufzubauen, das nach und nach floriert. Er macht in Gepäck, klüngelt neuartige Transportwege zwischen den verschiedenen Berliner Bahnhöfen aus, lässt sich dafür allerdings auch auf teils zwielichtige Gestalten wie den Fuhrunternehmer Wagenseil ein, muss immer wieder gegen Widerstände ankämpfen, verliert mal, gewinnt meistens und wird dann durch den Weltkrieg vollends aus der Bahn geworfen. Als er aus dem Krieg heimkehrt, ist alles anders, ist sein Unternehmen dahin, sind die Freunde verzweifelt, muss er von vorn beginnen – und wird mehr und mehr zu einem harten, kapitalistisch denkenden Mann, der keine Rücksicht mehr nimmt. Er ähnelt auf einer anderen Ebene jenen, mit denen er einst ringen musste, die ihm Steine in den Weg legen, die ihn übers Ohr hauen wollten.

Man kann den Inhalt eines solch umfangreichen und an Geschichten und Geschichte schier überbordenden Romans kaum adäquat wiedergeben. So sollte an dieser Stelle vielleicht angemerkt werden, dass der ursprüngliche Titel mit seinem Zusatz DIE FRAUEN UND DER TRÄUMER in vielerlei Hinsicht der passendere gewesen ist. Denn gerade die Frauen spielen nicht nur im Leben des Karl Siebrecht, sondern auch in diesem Roman eine ungemein wichtige, wenn nicht tatsächlich, neben der Stadt Berlin, die eigentliche Hauptrolle. Der Roman ist in zwei Bücher unterteilt, betitelt Der Jüngling und Der Mann. Der Krieg, dessen Schilderung Fallada bezeichnenderweise komplett auslässt, markiert den Bruch zwischen den Großabschnitten. Die einzelnen Bücher sind wiederum in insgesamt sechs Teile, ein Vorspiel und ein Zwischenspiel unterteilt. Es folgt, als eine Art Epilog, ein Nachspiel von allerdings lediglich 12 Seiten. In insgesamt 124 Kapiteln wird das Epos erzählt. Und interessanterweise sind vier der sechs Bücher mit Frauennamen überschrieben: Rieke Busch, Friederike Siebrecht, Hertha Siebrecht, Ilse Gollmer. Eine jede dieser Frauen (wobei Rieke und Friederike ein und dieselbe Person sind, allerdings sehr unterschiedliche Rollen einnehmen in den unterschiedlichen Abschnitten) spielt eine immens wichtige Rolle bei Karls Aufstieg, in seinem Leben und vor allem in seinem Innenleben, welches er nur ungern erkundet.

Denn Siebrecht, den Fallada mit einem enormen Ausmaß literarischen Könnens charakterisiert, eben lebensecht, authentisch und – ohne jemals aufdringlich oder rein deskriptiv zu werden – wirklichkeitsnah, ist ein Macher, der, als junger Mensch, sein Seelenleben nicht versteht, später, als Erwachsener, dieses Seelenleben lieber verdrängt. Und der auch deshalb emotional scheitern muss in einer Welt, die er zunehmend weniger versteht. Bspw. wenn eine Frau wie Hertha Siebrecht, seine zweite Ehefrau, sich vollkommen emanzipiert gibt, dabei aber auch erratisch, unnahbar und launenhaft, und einen an sich einfachen Jungen und Mann wie Siebrecht vollends überfordert und verwirrt. Und auch Ilse Gollmer, die möglicherweise die eine in diesem Reigen (es gibt noch eine weitere Frau, die im Roman allerdings keine große Rolle spielt, lediglich bei einem halbjährigen Intermezzo, das Karl weit ab von Berlin erlebt, nachdem er bei einem illegalen Waffentransport verletzt wurde) ist, die Karl tatsächlich entspricht, die es wirklich mit ihm hätte aufnehmen und ihm etwas Gleichwertiges entgegensetzen können, macht dem Mann Karl eher Angst, als dass er die Liebe, die sie ihm bietet, einfach annehmen, als ein Geschenk begreifen könnte.

Gesondert erwähnt gehört Rieke Busch, die Karl schon auf seinem Weg nach Berlin – also schon auf den ersten Seiten des Romans – begegnet und mit ihrer unnachahmlichen Berliner Schnauze, die Fallada so wiederzugeben versteht, dass man ihre Klangfarbe, die Stimme geradezu hört während der Lektüre, ungeheuren Eindruck macht. Und zwar nicht nur auf Karl und einige Mitreisende im Zug gen Berlin, sondern auch auf die Leser*innen. Dieses Gör aus dem Wedding, anders kann man es nicht sagen, ist sicherlich eine der nachhaltigsten, beeindruckendsten und eindringlichsten Frauenfiguren, Figuren generell, die die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Ursela Monn hat ihr in der Serie eine ebenso unverwechselbare Verkörperung und Stimme verliehen, doch ist es vielleicht gerade deshalb so dringlich, zunächst den Roman zu lesen. Denn diese Rieke Busch mit ihrem (anfänglich) unbegrenzten, überschäumenden Lebensmut, ja, man sollte es schon Lebenslust nennen, ist ebenso hin- wie mitreißend. Nichts scheint in ihrer Gegenwart unmöglich, kein Hindernis zu schwer, keine Hürde zu hoch. Sie ist es, die Karl Berlin erklärt, ihm diese Stadt überhaupt erst „beibringt“, ihm vermittelt, wie und mit wem man sich zu verhalten hat und welche Situationen und Typen er besser meidet. Und so gelingt es Fallada, anhand dieser unfassbaren Figur Rieke Busch diese Stadt auch seinem Publikum zu vermitteln, zu erklären und beizubringen – auch über einen Zeitraum von 100 Jahren und mehr hinweg.

Fallada gelingen aber eben nicht nur sehr genaue und differenziert ausgearbeitete Figuren, es gelingt ihm auch eine brillante Komposition, in der das öffentliche Leben und das private der Protagonisten nahezu organisch ineinandergreifen. Wie Karl und Kalli sich mit Riekes Unterstützung im kaiserlichen Vorkriegsberlin durchschlagen und schließlich durchsetzen, die Typen, die ihnen begegnen und mit denen sie manches Sträußchen – mal körperlich, mal in Rede, mal juristisch – auszufechten haben, das Lokalkolorit der Arbeiterviertel, die Straßen und Bahnhöfe, die Situationen, denen sie ausgesetzt sind, die Alltäglichkeiten, die hier geboten werden (Trockenmieter: Familien, die in feuchte Neubauten einzogen und sie, wie der Name sagt, „trocken wohnten“, was nicht unbedingt deren körperlicher Gesundheit förderlich war), das schiere, pralle Leben, das hier aus nahezu jeder Seite geradezu trieft: Es ist tatsächlich eine wahre Lust, Fallada durch diese zwei Jahrzehnte deutscher (Hauptstadt)Geschichte zu folgen.

Wobei eben auch auffällt, dass der Autor das Politische auslässt. Zwar wird im brodelnden Nachkriegsberlin hier und da erwähnt, dass die Roten von der Revolution reden, es wird auch auf die Kämpfe der Kommunisten mit den Freikorpsangehörigen verwiesen, doch bleiben all diese in den Geschichtsbüchern so stark herausgehobenen Entwicklungen eher Hintergrundrauschen. Gleich ob Karl Siebrecht, ob die Frauen in seinem Leben, ob Herr von Senden, der sich allerdings nach dem Krieg als ehemaliger Rittmeister in des Kaisers Armee aufmacht, auch in der neu entstehenden Reichswehr eine ihm genehme Rolle zu spielen, oder die vielen, vielen Nebenfiguren in diesem Roman – wirklich berührt scheint niemand von den politischen Entwicklungen. Dafür schildert Fallada die ökonomischen (die sicherlich nur schwer von den politischen zu trennen sind) Entwicklungen umso eindringlicher. Die Inflation und der totale Verfall des Geldes, die Suche nach Essbarem, die Hoffnung auf Besserungen und die Verzweiflung, wie man in einer solchen wirtschaftlichen Gemengelage überhaupt noch einmal Fuß fassen soll, all das versteht Fallada meisterlich zu vermitteln.

Und man sollte dabei bedenken, dass der Autor, literaturwissenschaftlich ja gern als Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“ betrachtet, all dies nicht in unmittelbarer Zeitgenossenschaft geschrieben hat, sondern mit einem Abstand von nahezu 20 Jahren. So ist dies vielleicht auch ein Teil dessen gewesen, was gern „innere Immigration“ genannt wird und Autoren wie Fallada, aber auch Erich Kästner u.a. oft vorgehalten wurde: Eben geblieben, nicht ins Exil gegangen zu sein, sich nicht eindeutig genug vom Regime abgegrenzt zu haben. Vielleicht musste ein Autor wie Hans Fallada sich auch in ein Gestern flüchten, welches ihm bei allem Ungemach, welches zu schildern er hier nicht umhinkonnte, besser erschienen sein muss. Nimmt man seine Lebensdaten und vergleicht sie mit denen des Karl Siebrecht, so ist dieser nur unwesentlich älter als der Autor, als er Berlin zu erobern gedenkt. Mit sechzehn Jahren kommt er in die Metropole und begegnet Rieke Busch und es beginnt sein Kampf mit dieser Stadt, mit der Lebenswirklichkeit, der er einen Platz für sich abzutrotzen gedenkt. So ist er – vielleicht – auch ein Alter Ego des Autors, der aus der Verzweiflung der Kriegsjahre in eine Vergangenheit flüchtete, die zumindest eine gewisse Sicherheit versprach. Denn so liebevoll er sie – bei allem Ungemach, welches er seinen Figuren angedeihen ließ – beschreibt, so sehr muss sie für ihn auch ein Zuhause gewesen sein.

EIN MANN WILL NACH OBEN ist auch nach all der langen Zeit ein großartiges Stück Literatur, in seinem Detailreichtum, der Genauigkeit der Milieustudien, der Exaktheit der Figurenzeichnung ist dies aber auch ein großartiges Stück Zeitgeschichte, Zeitkolorits. So kann man dieses Werk auf vielen Ebenen lesen: Als Roman, der unterhält, als eines jener Werke, in denen man heimisch werden kann, in denen man Freundschaft mit zumindest einigen Figuren schließen kann, aber eben auch als einen Ausschnitt aus einem Stück Zeitgeschichte Deutschlands, das vielleicht nicht direkt zur Erklärung beiträgt, weshalb sich die Dinge in den 20er und den frühen 30er Jahren entwickelten, wie sie es dann taten, indirekt aber eben doch, weil es Fallada gelingt, in seinen Protagonisten etwas anzulegen, das prototypisch gewesen sein muss. Sei es die Verzagtheit, sei es das Desinteresse am Zeitgeschehen, sei es etwas Stürmisches, das sich nur schwer bändigen lässt oder sei es etwas Hinterfotziges, das es immer braucht, um Unrecht in Recht zu wandeln – die Typen, die der Autor hier aufmarschieren lässt, waren eben auch jene, die dann mit den Nationalsozialisten in den Untergang marschiert sind.

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