KLEINER MANN – WAS NUN?
Der Roman, der seinen Autor weltbekannt und (zunächst) reich machte - ungekürzt, unverfälscht ein wahres Zeugnis seiner Zeit
Wird Fallada noch gelesen? Und wenn ja, warum? Einer der Gründe, warum wir lesen, so versichern wir uns selbst, sei die Durchdringung fremder Gefühle, fremden Denkens, fremder Welten und vor allem fremder Zeiten. Letzteres kann der einzelne mittels des sogenannten „Historischen Romans“ – oder, in dem er sich, will er die jüngere Vergangenheit bereisen, zeitgenössischer Literatur bedient. Wollen wir also ein wenig über das Lebensgefühl im Deutschland der ausgehenden Weimarer Republik erfahren, wäre ein Roman der sogenannten ‚Neuen Sachlichkeit‘ zu empfehlen und damit also Hans Falladas KLEINER MANN – WAS NUN?
1932 erschienen, fängt Fallada in seinem für ihn so typischen Stil, dem sogenannten „Fallada-Sound“ – genau in der sozialen Beobachtung, voller Wärme und Mitgefühl für seine Figuren, ausgestattet mit einem phänomenalen Gespür für Zeitströmungen und Zeitläufte, mit dem häufigen Gebrauch des Diminutivs zu einer eher optimistischen, eher beruhigenden Gesamtlage beitragend – die sozialen Bedingungen der „kleinen Leute“ am Vorabend des 3. Reichs ein. Episodenhaft berichtet der Autor von der Erlebnissen des Buchhalters Johannes Pinneberg, der sich in den Jahren 1930 bis ca. Anfang 1932 müht, seine Frau Emma, genannt „Lämmchen“, und den gemeinsamen Sohn, den „Murkel“, durchzubringen. Zunächst in einer norddeutschen Kleinstadt, später im modernistisch wimmelnden, unruhig-nervösen Berlin. Während Emma dem Proletariat entstammt und sich dieses Erbes sehr bewusst ist, darin Halt und Selbstverständnis in schwierigen Momenten findet, steht Pinneberg für den typischen Kleinbürger jener prekären Zwischenkriegsjahre der Weimarer Republik. In Berlin trifft er auf seine Mutter, eine Lebedame und Edelprostituierte, deren Lebensgefährte Pinneberg gelegentlich finanziell zur Hilfe kommt. Pinneberg findet Anstellung bei einem jüdischen Bekleidungshaus, wo er Freundschaft mit einem bekennenden Nudisten und Libertären, Heilbutt, schließt, der ihm künftig öfters hilft. Pinneberg kommt in immer größere Geldschwierigkeiten, Lämmchen müht sich, das ihrige beizutragen, zugleich will sie dem Kind aber auch eine gute Mutter sein. Als Pinneberg aufgrund von Intrigen im Kaufhaus, wo die Verkaufsquoten gnadenlos angezogen werden, arbeitslos wird, bietet Heilbutt ihm seine Gartenlaube als Ausweichquartier an. Hier endet die Reise der Pinnebergs. Lämmchen sorgt dafür, daß ihr Johannes ehrlich bleibt, denn, so ihr Credo, was anderes habe man denn noch als „kleiner Mann“ als die ehrliche Haut, die man sei. Es werde schon weitergehen, es werden schon bessere Zeiten kommen. Und auch wenn Pinneberg fast verzweifelt, erkennt er in der Liebe zu Lämmchen den einzigen Wert, der zählt.
Hans Falladas vierter Roman war ein für ihn bahnbrechender Erfolg, der den selbst in prekären Verhältnissen Lebenden finanziell etwas konsolidierte und ihm vorübergehend ein Leben in all seinen Ausschweifungen – Fallada war Morphinist – ermöglichte. Doch korrumpierte ihn der Erfolg nicht, sein Blick, wie der Nachfolgeband WER EINMAL AUS DEM BLECHNAPF FRISST bewies, in welchem er seine eigenen Gefängniserfahrungen verarbeitete. Aber ist Falladas Roman für den heutigen Leser noch lesbar? Ganz sicher. Der spezielle Fallada-Sound wirkt auch heute noch. Man lässt sich gern umfangen von dieser Erzählung, man lernt die Figuren schnell kennen und lieben, fürchtet und leidet mit ihnen, richtet sich gern und häufig an Lämmchens Stolz und proletarischem Glauben an die Kraft des Guten auf; ebenso teilt man Pinnebergs eher skeptische Sicht auf das große Ganze, das „die da oben“ anrichten und dem der „kleine Mann“, als den er sich selber sieht, ausgeliefert ist, komme was wolle. Eine tiefe Politikverdrossenheit ist dem Roman zu entnehmen, auch wenn sich Fallada – aus persönlicher Vorliebe oder schriftstellerischem Kalkül, konnte man die Erfolge der Nazis doch schon herannahen sehen, sei einmal dahin gestellt – eher zurückhaltend in politischer Be- oder gar Verurteilung gibt. Daß die Nazis kaum wählbar erscheinen für einen, dessen Verlobte aus einem kommunistisch geprägten Haushalt stammt, ist nicht sonders zu erwähnen, dennoch lässt Fallada den Leser auch an gelegentlichen Gedanken seines Johannes Pinneberg in diese Richtung teilhaben. Er scheut sich nicht, die Anfälligkeit gerade dieses Kleinbürgertums für die Parolen und Sprüche der als „Bewegung“ auftretenden Nationalsozialisten anzudeuten. Und entlastet dann auch den einzigen Nazi, der im Buch wirklich vorkommt, indem er auch diesen als einen in den gnadenlosen Mühlen jener Jahre der Weltwirtschaftskrise Zermahlenen, hilflos Strampelnden zeigt. Allerdings macht er die um sich greifende Paranoia auch spürbar, wenn Pinneberg im Kaufhaus nachgesagt wird, er sei ein Nazi und daraufhin eine Abmahnung erhält.
Fallada erfasst wie sonst wenige seiner Zeit die Spezifik dieser Jahre. Und wiegt seinen Leser doch in einer gewissen Sicherheit. Sein Schreiben ist auch therapeutisch für den Leser, der hier ein permanentes Rezept des „es wird schon wieder werden“ mitgeliefert bekommt. Dies mag den ungeheuren Erfolg bei der Leserschaft erklären. Fallada lesen bedeutete eben nicht nur, Verständnis für die eigene Situation, sondern auch, in dieser Situation einen gewissen Trost zu erfahren. Der deskriptiv arbeitende Fallada, der einen Großteil seiner literarischen Wirkung auch aus den lebensnah wiedergegebenen Dialogen bezieht, dem es gelingt, einen gewissen großstädtischen Sound zu erzeugen, seine Protagonisten wie „echte“ Menschen reden zu lassen und damit seinen Lesern das Gefühl vermittelte, ihnen nah zu sein, was er zweifelsohne ja auch war, erschwert die Lektüre nie durch Entfremdung oder sprachlichen Hintersinn, gar Doppeldeutigkeiten. Darin seinen Kollegen Irmgard Keun, Erich Kästner oder auch Vicki Baum nicht unähnlich, maximal entfernt von dem Schreiben eines an Erkenntnis vermittelnden Effekten interessierten Autors wie Alfred Döblin, der die Lebensrealität der „kleinen Leute“ ebenso gut kannte wie Fallada, breitet der Autor seine Geschichten direkt und ohne Umschweife aus.
Abfällig als „Gebrauchsliteratur“ tituliert, wurde Falladas literarisches Wirken allerdings lange unterschätzt, galt er doch als geradezu trivial neben seinen Zeitgenossen wie den Mann-Brüdern, eben Döblin oder aber auch Stefan Zweig, der allerdings zu Lebzeiten mit ähnlich herabwürdigenden Urteilen zu kämpfen hatte. Fallada bietet nicht die ironische Distanz eines Thomas Mann, obwohl sein Schreiben durchaus ironische Untertöne hat, die hier aber eher distanzmildernd wirken, dem Leser das Gelesene abmildernd; er bietet aber auch keine surrealen oder expressionistischen Ausschweifungen wie es Döblin tat, und Remarques tiefe Ernsthaftigkeit wird bei Fallada durch einen scheinbar lapidaren, manchmla leichten Alltagston ersetzt. Geplauder, wenn man ihm bös´ wollte. Doch sollte man die Strategie, die diesem Schreiben zugrunde liegt, nicht unterschätzen. Wir werden in Sicherheit gewogen, doch Fallada weiß zu gut um die Unbilden des Lebens, als daß er seinen Lesern diese vorenthielte. Sein Pärchen muß den ganzen Weg seiner Zeit gehen – Arbeitslosigkeit, Verlust der sozialen Sicherheit, Verlust des Zuhauses, Verlust von Freunden und Verlust der Familie, einem gnadenlosen „Alle gegen Alle“ ausgeliefert. Einzig Falladas Hang, dem Leser wenn schon kein Happy End, so doch zumindest eine Hoffnung in der Erkenntnis, daß die immaterielle Liebe all die materiellen Entbehrungen zu überstrahlen weiß, anzubieten, wäre wirklich zu kritisieren und wirkt auf uns Heutige dann auch eher kitschig. Das mag seine Konzession an den Massengeschmack, an die Unterhaltungsliteratur gewesen sein, die er sicherlich gern bereit war, zuzugestehen. Fallada machte Konzessionen, denn er wollte den Erfolg als Schriftsteller, daran ist nicht zu zweifeln.
Hans Fallada heute zu lesen, ist ein manchmal etwas anstrengendes Unterfangen, doch wie erwähnt, wirkt dieser spezielle Sog, den sein Schreiben zu entfachen vermag, auch heute noch. Und wir lernen auch aus dieser Lektüre, daß Geschichte sich eben nicht wiederholt, daß die heutige Situation, die so oft mit der Weimarer Republik verglichen wird, eben durchaus eine andere ist, wir lernen, daß die deutsche Gesellschaft, die hier doch noch klar von Klassen, Ideologien und „Haltungen“ geprägt wurde, einen wirklich fundamentalen Wandel durchlaufen hat im späten 20. Und frühen 21. Jahrhundert. Allerdings – und da müssen wir dem genauen Hinschauer und Hinhörer Fallada dankbar sein – ist da ein Sprechen, manchmal mehr ein Raunen, immer wieder auf den Seiten des Romans deutet es sich an, bricht es sich Bahn, es ist ein Sprechen der Verachtung. Verachtung gegenüber anderen, Andersdenkenden, Andershandelnden, Verachtung gegenüber den herrschenden Politikern, den Parteien, aber auch, wenn auch nicht wirklich explizit, da dies explizit kein politischer Roman sein will, Verachtung gegenüber dem System. Und dieses Sprechen hören wir heute wieder. Es mag heute lächerlich anmuten, weil es sich in einer Situation wie 1932 wähnt, obwohl alle objektiven Tatsachen, Statistiken und Berichte darauf hinweisen, daß es diesem Land selten bis nie so gut ging wie heute. Die Situation ist eine komplett andere, aber die Wahrnehmung wird in bestimmten Bereichen der Gesellschaft wieder dahingehend geschürt, die Systemfrage zu stellen, früher oder später. Wir, mit der Kenntnis dessen, was dann kam, können die Katastrophe, die sich aus dem, was Fallada noch als sozialen Druck beschreibt, herauskristallisiert, lesen. Fallada scheint sie zumindest antizipiert zu haben. Und diese Erkenntnis schließlich lässt uns auch heute bei der Lektüre – vielleicht aus ganz anderen Gründen, als der Autor sie je sich ausmalte oder gar intendierte – schauern.