DIE UNBEHAUSTEN/UNSHELTERED
Ein mittlerweile schon wieder leicht veralteter Roman aus der ersten Amtszeit des amerikanischen Horrorclowns
Bald ohne Obdach wird in Barbara Kingsolvers Roman DIE UNBEHAUSTEN (UNSHELTERED, Original erschienen 2018; Dt.2025) die Familie Knox sein – und zwar in doppelter Hinsicht, wie sich im Folgenden herausstellt. Denn langsam aber sicher bricht über der Akademikerfamilie, die in nach New Jersey gezogen ist, damit Vater Iano eine, einmal mehr befristete, Stelle an der Universität antreten kann, das Haus zusammen, in welches sie gezogen ist. Und je mehr die Familie sich in das Innere, in die Kernräume zurückzieht, desto mehr spürt Willa, die Mutter, eine ehemalige Journalistin, die schon lange keine Festanstellung mehr hat und nichts mehr zum Familienunterhalt beitragen kann, dass da auch noch etwas anderes ins Rutschen gerät, ebenso, wie die Schindeln auf dem Dach: Je mehr sich ein ordinärer Schreihals, genannt „das Megafon“, anschickt, die Präsidentschaftskandidatur der Republikanischen Partei zu übernehmen, desto weniger sind Wahrheit, Fakten und genaue Analyse etwas wert, desto mehr aber sind es hässliche Gefühle, Meinungen und Lügen. Für Willas Generation – im Grunde jene, die heute gern als „Boomer“ abgekanzelt wird – eine schreckliche Erkenntnis. Und so ist die Familie Knox nicht nur ganz konkret unbehaust, sondern auch geistig bröckelt ihre Behausung, bröckeln die Sicherheiten der vergangenen Dekaden langsam hinfort.
Kingsolver schrieb ihren Roman vier Jahre vor ihrem großen internationalen Erfolg mit der Dickens-Adaption DEMON COPPERHEAD, erst jetzt wurde das Buch in Deutschland verlegt. Es ist ganz offensichtlich unter dem Eindruck der ersten beiden Jahre unter dem 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump, verfasst worden und dementsprechend birst es geradezu vor Empörung darüber, dass ein Mensch wie Trump es in dieser angeblichen Vorzeigedemokratie bis an die Spitze nicht nur der Grand Ol´ Party, sondern bis an die Spitze des Staates bringen konnte. Dennoch werden der während der Handlung noch andauernde Wahlkampf und die Unverschämtheiten des Kandidaten hier nicht in den Vordergrund gestellt, gespiegelt werden sie durch Willas mit dem Tod ringenden Schwiegervater Nick, ein alter griechischer Patriarch, in dessen Familie sie eingeheiratet hat und der sich durch den Kandidaten in all seinen konservativen bis reaktionären Ansichten bestätigt fühlt. Ansichten, die er auf ausgesprochen ordinäre Art und Weise seiner Umgebung mitzuteilen pflegt.
Kingsolver – wer DEMON COPPERHEAD gelesen hat, weiß das bereits – versteht sich als liberale, wenn nicht gar links-liberale Autorin. Geboren Mitte der 50er Jahre, war sie unmittelbar an den Nach-68er-Kämpfen ihrer Generation beteiligt, gehört also zu eben jener Boomer-Generation, von der auch ihr Buch handelt. So gerät ihre Literatur oftmals zu einer etwas überdeutlichen Selbstvergewisserung, eigentlich doch auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Das macht sie anstrengend, weil manchmal ein wenig zu beflissen. Glücklicherweise versteht Kingsolver es aber auch, warmherzige Geschichten zu erzählen, Geschichten, deren Protagonisten die Leser*innen ansprechen, an deren Leben wir gern teilhaben und deren Entwicklung wir gern folgen. Sogar ein gewisser Grundhumor schwingt meist in diesen Geschichten mit, was sie bei all den Schrecknissen, von denen berichtet wird, auch erträglich macht.
Nun sind die Schrecknisse hier vor allem persönlicher Natur. Willas Kinder, die nahezu kleinwüchsige Tig, die vollkommen unangepasst ein Leben führt, das man wohl getrost als „alternativ“ bezeichnen darf, kehrt nach einem Jahr zur Familie zurück, in dem niemand etwas von ihr gehört hatte. Zugleich kommt auch Zeke, der Sohn, nachhause. Und zwar mit seinem kleinen Sohn, genannt Dusty. Dessen Mutter, Zekes Frau, hat sich das Leben genommen und der junge Vater kommt mit dieser Erfahrung zunächst überhaupt nicht zurecht. Kingsolver erzählt nun über den Zeitraum etwa eines Jahres von den Entwicklungen in der Familie Knox, davon, wie Willa sich bemüht, Mittel und Wege zu finden, die Renovierung des Hauses zu finanzieren, sich um Dusty zu kümmern, zwischen ihren dauerhaft im Clinch liegenden Kindern zu vermitteln und sich zudem um ihren sterbenskranken Schwiegervater zu kümmern. All das, während ihr Gemahl an der Uni seiner Lehrtätigkeit nachgeht und auf der gesamten Länge des Romans – immerhin über 600 Seiten – seltsam abwesend bleibt.
Doch dafür ist eine Dame namens Mary Treat sehr anwesend. Die hat im nicht mehr existenten Haus gegenüber jenem, das Willa zu retten versucht, gelebt, allerdings in den Jahren unmittelbar nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Sie war eine ausgesprochen unabhängige Dame, die ihrer Zeit in mancherlei Hinsicht weit voraus gewesen ist, Korrespondenz mit Geistesgrößen ihrer Zeit – allen voran Charles Darwin – unterhielt und selbst forschend tätig war. In dem Haus, das auf dem Grundstück der Knox´ stand, lebte damals Thatcher Greenwood, ein Lehrer mit ebenfalls fortschrittlichen Ansichten, der jedoch in der von einem Baulöwen mit Sendungsbewusstsein gegründeten Siedlung namens Vineland mit seinem Vorgesetzten aneinandergeriet, da dieser es für nahezu frevlerisch hielt, Darwins – oder ähnliche – Lehren an die Schüler weiterzugeben, anstatt den Herrn zu loben und zu preisen für die Vollkommenheit seiner Schöpfung.
Mary Treat und auch die von Charles K. Landis gegründete Siedlung Vineland hat es tatsächlich gegeben. Landis gehörte der Temperenzbewegung an und hatte seine Siedlung ganz im Geiste derer Philosophie gegründet. Allerdings schaltete und waltete er wie ein König über sein Land und seine Siedlung. Die Treats waren einst hierhergezogen, da Marys Gemahl dies befürwortete, bevor er dann einer neuen Bewegung – der Freigeister und Transzendentalisten – wegen nach New York ging und dort in wilder Ehe mit diversen Damen lebte. Seine Frau Mary blieb zurück, gedemütigt, als schrullige Alte belächelt und doch – zumindest stellt Kingsolver es so dar – auch befreit, da sie nun ihren eigentlichen Bestimmungen, der Botanik und der Entomologie, frönen konnte. Mit ihr freundet sich im Roman eben jener Thatcher Greenwood an, findet in ihr eine wahre Freundin und Fürsprecherin in seiner beständigen Auseinandersetzung mit Cutler, seinem Vorgesetzten an der Schule. Als es in Vineland zu einem Mord kommt, in den Landis verwickelt ist und Thatcher gegen den Herrn und Meister der Siedlung auszusagen bereit ist, muss er die Siedlung verlassen, ebenso, wie seine Frau ihn verlässt.
Durch diese doppelte Erzählstruktur kann Barbara Kingsolver geschickt die Kämpfe zwischen Fortschritt und reaktionärem Denken aufzeigen, die die USA schon immer beherrscht haben. Ein Kampf, der durch Donald Trump, der ein ganz eigenes Verhältnis zur Wahrheit pflegt, ein, freundlich gesagt, exzentrisches, erneut ausgetragen wird und zunehmend die Form eines echten Kulturkampfs annimmt, wobei es diesmal nicht um die Frage evolutionärer Entwicklung des Menschen geht, sondern eher darum, ob es die Sklaverei oder den Genozid an den Indigenen wirklich gegeben hat. Und ob, sollten diese Ereignisse so, wie die Geschichtswissenschaft sie uns darstellt, tatsächlich stattgefunden haben, diese wirklich so schrecklich gewesen sind, wie oft behauptet. Man mag das nicht glauben, aber tatsächlich sind dies aktuelle Fragen im Diskurs, der in den USA geführt wird. Kingsolvers Buch reflektiert diese Kulturkämpfe, wenn auch noch anhand anderer Themen, bspw. der Frage, ob der Klimawandel menschgemacht ist und was man dagegen tun kann, Stichwort Nachhaltigkeit.
Ein wenig erinnert Thatcher Greenwoods Auseinandersetzung um die Lehren Darwins an Stanley Kramers Gerichtsdrama INHERIT THE WIND (1960), in welchem der damals schon deutlich gealterte Spencer Tracy als Strafverteidiger Henry Drummond einen jungen Lehrer vertreten muss, der eben jenen Konflikt an seiner Schule austrägt, der auch Thatcher umtreibt. Überdeutlich allerdings ist Kingsolvers Anliegen ausgebreitet, uns zu warnen, dass aufklärerisches Denken, dass progressives Denken, dass die Errungenschaften der Moderne und auch die der Postmoderne immer und nun einmal mehr Gefahr laufen, von den Kräften der Reaktion untergraben und vernichtet zu werden. Und natürlich hat sie recht damit – nur weiß das mittlerweile jeder, der sich mit der Gegenwart beschäftigt, erst recht der politischen Gegenwart, aber im Grunde weiß es auch jeder, der sich ein wenig in der Geschichte auskennt. So sind Kingsolvers Thesen denn doch etwas wohlfeil, denn sie rennt bei dem Publikum, das ihre Bücher liest, natürlich offene Türen ein.
Und so sehr wir diese Figuren – Tig und den kleinen Dusty, zu dessen Ersatzmutter sie mehr und mehr wird; Willa und Mary Treat und Thatcher; aber auch Iona, diesen liebenswürdigen Nerd, ein wahres Abziehbild all der etwas zerstreuten Akademiker, die uns in etlichen Romanen schon begegnet sind; selbst der reaktionäre Nick in seinem Rollstuhl – zu schätzen lernen, sie uns teils sogar ans Herz wachsen mögen, es bleiben Figuren. Andes in vielen ihrer anderen Romane gelingt es Barbara Kingsolver hier nicht wirklich – am ehesten noch bei Willa, aus deren Perspektive der zeitgenössische Teil des Romans erzählt wird und deren Reflektionen, Ängste und Erinnerungen wir also unmittelbar, oft ungefiltert geboten bekommen – ihre Protagonisten zum Leben zu erwecken. Sie bleiben seltsam fern, eindimensional, funktional. Anhand von Tig und Zeke, der irgendwas mit IT macht und in Boston das große Geld verdienen will, werden die modernen Auseinandersetzungen um Umwelt, Kapitalismus und die Verzichtsdebatte geführt; zwischen Tig und Willa der Generationenstreit, bei dem dann eben auch eine Frau wie Willa – progressiv, liberal und vermeintlich frei denkend – erkennen muss, bei Weitem nicht alles richtig gemacht zu haben, eher im Gegenteil; zwischen Willa und Iona werden Geschlechterrollen durchgespielt und die Figur des sterbenden Nick scheint vor allem die Funktion zu erfüllen, die ihm eingangs dieser Zeilen schon zugedacht wurde: Er steht für den politischen Hintergrund, das weiße Rauschen des „Megafons“, für die Grundierung.
Es scheint, als käme der ganze Roman auf Seite 470 schließlich zu sich selbst, als Willa, über die Entwicklung ihrer Ehe reflektierend, zu dem Schluss kommt: Keine originelle Geschichte. Stimmt. So sehr man sich der Empörung der Hauptfigur und der Autorin anschließen, so sehr man sich der Verzweiflung, die Thatcher Greenwood in Anbetracht des verknöcherten Konservatismus seiner Umgebung befällt, hingeben möchte – all das ist weder neu noch ist es sonderlich originell verpackt. Es beschleicht die Leser*innen während der Lektüre der Eindruck, dies sei vor allem eine Momentaufnahme aus einem Amerika, das eine rasante Veränderung unterläuft und von dem die Reisenden noch lange nicht wissen, wo die Fahrt enden wird. Nun sind wir aber mittlerweile fast acht Jahre weiter, befinden uns in der bereits zweiten Amtszeit des Horrorclowns namens Donald Trump und erleben Dinge, die man sich 2016 dann so vielleicht noch gar nicht vorstellen konnte. Oder wollte. Insofern wirkt Vieles hier bereits überholt.
Man kann, man sollte DIE UNBEHAUSTEN also vor allem als Momentaufnahme im Leben der amerikanischen Mittelschicht lesen, in welchem ihr langsam aber sicher der Boden unter den Füßen weggezogen wird und darob das Dach über dem Kopf zusammenzubrechen droht. Man kann sich ein wenig unterhalten lassen im Strom des alltäglichen Wahnsinns. Man kann diese Figuren irgendwie liebhaben, eingedenk der Tatsache, dass man sich nicht wirklich um sie sorgen muss, da sie immer nur Figuren bleiben. So gesehen, schreibt Barbara Kingsolver eine gewisse Art von liberaler Beschwichtigungsliteratur, die den Leser*innen nicht allzu weh tut, zugleich aber auch die Wirklichkeit nicht ausblendet. Ein schmaler Grat und ein weites Feld. Und eine kommerziell enorm erfolgreiche Nische. Aber so betrachtet eben auch ein eminent politischer Roman.