DEMON COPPERHEAD

Barbara Kingsolver nimmt sich Dickens´ Meisterwerk DAVID COPPERFIELD zur Vorlage und berichtet aus den prekären Verhältnissen der amerikanischen Unterschicht

Es stimmt schon – Charles Dickens war sicherlich einer der befähigtsten Autoren der Weltliteratur in der Darstellung sozialer Missstände, von Not, Armut und Ungerechtigkeit. Sein Blick war wach und auch wenn er selbst nicht der Unterschicht entstammte, lebte er in Zeiten – und in einer Stadt, London – die es einem aufmerksamen Beobachter nicht leicht machte, zu übersehen, was sich auf den Straßen und Gassen tat. Hinzu kam allerdings die Befähigung, Szenarien, mehr aber noch Figuren zu erschaffen, die unvergesslich waren, die zumindest in der englischsprachigen Literaturwelt in das kollektive Gedächtnis eingegangen sind und in Großbritannien selbst jenen ein Begriff wurden, die selbst gar nicht lesen. Gleich ob der mörderische Bill Sikes oder sein Opfer, die gütige Dirne Nancy, ob der – leider antisemitisch gezeichnete – Bandenchef Fagin oder dessen bester Schüler, The Artful Dodger, ob Mr. Bumble, ob Miss Havisham oder Pip und erst recht Figuren wie der schmierige Uriah Heep oder die grundgütige Clara Peggotty, die neben vielen, vielen anderen Dickens vermeintliches Hauptwerk DAVID COPPERFIELD (erschienen 1849/50) bevölkern – sie alle gehören zum Kanon der allgemeingültigen Bildung. Unvergessliche literarische Charaktere.

Nun ist es natürlich so: Charles Dickens gehört vielleicht deshalb zum weltliterarischen Kanon, weil er eben in der Lage war, das Talent besaß, solch unvergessliche Charaktere zu erfinden, auszuschmücken, zum Leben zu erwecken. Es wird immer wieder gern über seine tatsächlichen literarischen Qualitäten gestritten, darüber, ob er rein sprachlich oder stilistisch betrachtet mit den ganz großen des Pantheons – Shakespeare, Goethe, Schiller oder Molière, um nur einige zu nennen – vergleichbar sei oder ob sein eigentliches Können eben darin bestand, die genannten Figuren zu erschaffen und anhand ihrer Erlebnisse und Abenteuer oft brutal realistisch die soziale Wirklichkeit seiner Gegenwart zu beschreiben, während er stilistisch deutlich hinter den Granden abfiele. Wie dem auch sei – Dickens wird auch 150 Jahre nach seinem Tod immer noch viel und gern gelesen, nicht nur in England.

Nimmt sich eine moderne Autorin wie Barbara Kingsolver nun einen Weltroman wie DAVID COPPERFIELD zum Vorbild – mehr noch: will sie ihn als Vorlage neu erzählen – dann ist die Fallhöhe eines solchen Werks natürlich beträchtlich. Man kann getrost annehmen, dass die Autorin des mit dem Pulitzer-Preis prämierten Romans DEMON COPPERHEAD (Original 2022; Dt. 2024) sich dessen voll bewusst war, als sie sich entschloss, die Missstände im amerikanischen Hinterland – in diesem Fall des ländlichen, süd-westlichen Virginia – mit all den Problematiken von Armut, Drogen- und Medikamentenmissbrauch oder mangelnder Bildung und sozialer Vernachlässigung bis hin zur reinen Verrohung – anhand einer Nacherzählung von Dickens´ Meisterwerk aufzugreifen und zu beschreiben.

Wie dort tritt auch hier ein noch immer junger Mann auf, der aus seiner Kindheit und Jugend erzählt. Es ist der titelgebende Demon (eigentlich Damon) Copperhead, der früh seine Mutter, ein Junkie, durch Suizid verliert, dessen Vater schon lange tot ist, und der zunächst Bekanntschaft mit dem recht gnadenlosen System amerikanischer Jugendhilfe macht. An diverse Pflegefamilien vermittelt, findet er schon im zarten Alter von zehn Jahren Trost in Ersatzdrogen wie Klebstoff-Schnüffeleien und ähnlichem. Aber auch in seinen Zeichnungen, für die er ein großes Talent besitzt und in denen er seiner Umwelt verschiedene Superkräfte angedeihen lässt. Seine Pflegeeltern nutzen ihn auf verschiedene Art und Weise aus und so werden unterschiedliche Altersgenossen zu seinen Vorbildern. Schließlich findet er durch die Vermittlung seiner Großmutter, die er auf eigene Faust sucht und findet, ein Heim beim Footballtrainer seiner Heimatstadt, der ihn früh zum Spieler auszubilden beginnt. Dieses anfängliche Glück wird durch eine brachiale Verletzung zerstört. Und da weder der Trainer noch die Ärzte an der Highschool, für die Demon aufläuft, eine Operation in Erwägung ziehen, rutscht der mittlerweile Fünfzehnjährige in eine Schmerzmittelabhängigkeit, die sein Leben von nun an bestimmen wird. Glücklicherweise trifft er im Laufe dieses Lebens aber immer wieder auch auf Menschen, die es gut mit ihm meinen und bereit sind, ihn zu unterstützen. Dadurch wird das Schlimmste für ihn verhindert, allerdings gelingt es ihm nicht, das Schlimmste für andere zu verhindern, die ihm nahestehen – darunter seine Freundin Dori und einer seiner besten Freunde, ein Junge namens Hammer, beide kommen durch Überdosis bzw. einen Unfall ums Leben.

Auf nahezu 860 Seiten breitet Barbara Kingsolver dieses dramatische Epos – oder epische Drama, man nehme es, wie man will – vor den Leser*innen aus. Man kann in diesen Text einsteigen und sich mitziehen lassen, wird mit allerlei Schaurigkeiten und Härten des Lebens konfrontiert, zugleich aber auch mit herzerwärmender Menschlichkeit und freundlichen Zufällen. Man wird unterhalten, denn die Autorin versteht es durchaus, den Leser mitzunehmen und reges Interesse an den Schicksalen der Figuren zu wecken, welche sie entwirft. Es ist im klassischen Sinne das, was als „Pageturner“ bezeichnet wird und erinnert – auch in der Epik und nicht zuletzt in Teilen der Thematik – an Bestseller wie DER DISTELFINK (2013) von Donna Tartt, die damit einen ähnlichen Erfolg hatte, wie nun Kingsolver. Allerdings hat Kingsolver auch ähnliche Probleme, wie Tartt sie hatte.

Denn wirklich packen kann das alles nicht. Selten, dass die Autorin Momente kreiert, in denen die Leser*innen wirklich emotional eingefangen werden. Auch berührt einen das Schicksal dieses Jungen nicht, der da aus einem von Beginn an zerstörten Leben erzählt. Aber warum ist das so? Was fehlt? Vielleicht fängt es schon damit an, dass hier eine aus einem wohlsituierten Elternhaus stammende Frau aus der Perspektive eines eindeutig der amerikanischen Unterschicht angehörenden Jungen erzählt. Dabei wird sie stellenweise recht explizit, bspw. wenn sie (bzw. er in der subjektiven Erzählperspektive) von seinen ersten sexuellen Erlebnissen berichtet. Schon das ist vielleicht schwierig, schwieriger aber ist die augenfällige Tatsache, dass Kingsolver das, wovon sie da so intensiv erzählt – Armut, Not, Drogensucht – schlicht nur aus Berichten und Angelesenem kennt. Das mag in einer Ballade von Bruce Springsteen gelingen, der die Menschen und das Schicksal, welches er häufig beschreibt, ebenfalls meist nur aus Anschauung, selten aus selbst Erlebten kennt, einfach, weil es eine Verdichtung darstellt und die Dinge oftmals auf einen scheinbar konkreten, tatsächlich jedoch abstrakten, allgemeingültigen Punkt bringt. In einem Roman von solcher Breite, solcher – vermeintlichen – Wucht wie diesem, merkt das Publikum irgendwann, ob das, was ihm da vorgesetzt wird authentisch ist oder lediglich Behauptung. Und hier ist das meiste Behauptung. Abgemilderte Behauptung zudem.

Das bedeutet nicht, dass dies nicht trotzdem ein guter Roman ist, denn wie bereits beschrieben, zieht das Buch seine Leser*innen durchaus an und ein, entwickelt einen Sog, man will der Geschichte Demons folgen, will wissen, wie es weiter- und schließlich ausgeht. Nur kommt der Roman sich häufig mit seinen offensichtlichen Ansprüchen und Ambitionen selbst in die Quere. Vielleicht ist das der Grund, dass Kingsolver auf Dickens und dessen DAVID COPPERFIELD zurückgegriffen hat. Der Umweg über eines der bewegendsten Bücher über Armut, Waisenschicksale und den Versuch, sich aus einer prekären Lebenslage zu befreien, der Umweg des Uneigentlichen, weil letztlich rein Literarischen, mag zweckdienlich erscheinen, wenn man – vielleicht aus sehr berechtigter Empörung heraus – über eines der drängendsten Probleme der amerikanischen Gegenwart schreiben will, dies aber im Grunde nicht erster Hand beschreiben kann. Es lediglich aus den Sonntagsbeilagen der führenden Ostküsten-Zeitungen, aus Reportagen und Berichten kennt.

Um diesem Umweg dann gerecht zu werden, baut Kingsolver allerhand Bezüge zu Dickens Werk ein, erfindet Figuren, die irgendwie an die Vorbilder erinnern. Auch, wenn Mrs. Peggot hier eine andere Rolle einnimmt, als Die Peggottys bei Dickens, deren Rolle hier stattdessen von June erfüllt wird, einer Erwachsenen, die Demon im Laufe seines jungen Lebens immer wieder zur Seite steht und ihn schließlich vor dem totalen Absturz bewahrt. Aus Uriah Heep wird U-Haul, dessen Rolle im Roman allerdings bei Weitem nicht der des Antagonisten bei Dickens entspricht und der eher indirekt Einfluss auf die Handlung nimmt. So könnte man also Figur für Figur durchgehen und nach Ähnlichkeiten und Verweisen suchen. Sicherlich ein Spaß für echte Dickens-Aficionados; stellt sich allerdings die Frage, weshalb die diesen Schinken lesen sollten, wo ihnen doch das Original zur Verfügung steht, welches sie längst schon für sich entdeckt haben?

Letztlich scheint Kingsolver sogar ähnliche Probleme mit Dramaturgie und Kohärenz zu haben, wie sie Dickens von Kritikern immer mal wieder nachgesagt werden. Denn nach ca. 450 Seiten hat man das Gefühl, als gäbe es einen regelrechten Bruch in der Erzählung, als wisse die Autorin nicht mehr so recht, wohin mit all dem. Nun schrieb Dickens für Geld, soll heißen: In Fortsetzungen für Zeitungen, wodurch seine manchmal etwas abrupten Wendungen und Szenenwechsel erklärt wären und auch, wieso der Zufall bei ihm immer eine wichtige Rolle einnimmt. Kingsolver hingegen ist eine längst anerkannte Schriftstellerin, die sich ganz dem Werk widmen kann, an dem sie gerade arbeitet. So sind die Brüche, die ihrem Buch innewohnen, eher damit zu erklären, dass die Geschichte mäandert und nicht wirklich weiß, wohin sie fließen soll oder will. Denn das Anliegen dieses Buches scheint wirklich vor allem die Beschreibung des Elends zu sein, das weite Teile der amerikanischen Unterschicht, dessen, was abschätzig gern „White Trash“ genannt wird, ergriffen hat und durchaus als Erklärung dienen könnte, weshalb sich diese Menschen mehr und mehr radikalen Figuren wie Donald Trump zuwenden, die zwar unhaltbare Versprechungen machen, aber auf seltsame Art glaubwürdig vermitteln können, dass sie sich für die Belange dieser Menschen interessieren würden. Bei aller Milderung in den Schilderungen, wäre dies eine tatsächlich hintergründige Erkenntnis, die ein Roman wie dieser liefern kann.

Es bleiben hier also eine Story, der man trotz allem gern folgt, immer wieder interessante Überlegungen und Anmerkungen zu amerikanischen Begebenheiten wie bspw. dem Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001. Dass dieses Ereignis für jemanden, der im tiefsten Virginia lebt, möglicherweise ein rein abstraktes Ereignis gewesen ist, ein TV-Spektakel, nur schwer unterscheidbar von den Hollywood-Blockbustern, die auf den Bezahlkanälen laufen, auch, weil man selbst in realitas noch nie einen Wolkenkratzer gesehen hat und diese Dinger reine Erzählung, Behauptung, sind, ist eine fesselnde Erkenntnis, wenn man sich daran erinnert, welche Einfluss jener Tag auf einen selbst gehabt hatte – und den Rest der Welt. Dass die Ereignisse rund um den Anschlag aber eben auch dafür sorgten, die U.S.-Army aufzurüsten, gerade unter den Ärmsten massenweise zu rekrutieren und diese Menschen dann in fernen Ländern wie Afghanistan oder Irak in den Tod zu schicken, das wiederum gelingt Kingsolver dann allerdings herausragend darzustellen. Dass Demon, der ja ein sehr guter Football-Spieler ist, aber auch über jenes herausragende zeichnerische Talent verfügt, sich nicht einspannen lässt, zuhause bleibt und sich fernhält von den Versuchungen, die ein Leben in der Armee scheinbar zu bieten hat, zeugt von der Intelligenz, die die Autorin ihrer Hauptfigur zuschreibt. Macht ihn aber eben auch zu keiner archetypischen Figur in einem solchen Sozialdrama.

Und auch dadurch bleibt der Roman dann eben auch auf der Ebene einer Feelgood-Lektüre. Denn bei allem Unbill, der Demon widerfährt, bei all den Schicksalsschlägen und allem Leid, das er erfahren muss, bei all den Toten und Versehrten, die seinen Weg kreuzen und teils begleiten – letztlich kommt er ganz gut davon. Und daran krankt dann eben das gesamte Konstrukt: Ma freut sich ja für diesen jungen Kerl, aber man ahnt auch auf den ganzen langen 860 Seiten, dass es eben Literatur ist, dass das, womit man es hier zu tun hat, immer nur zwischen den Deckeln eines Romans funktioniert. Dass dies keine Literatur ist, die uns eine wirkliche Wahrheit näherbringt oder Einsichten, die uns einer Lebenswirklichkeit näher bringen. Nein, dies ist eben auch eine Art von Literatur, die beschwichtigt und den Leser*innen das Gefühl gibt, dass auch ein in einer schlimmen Welt alles zum Guten sich wenden wird. Die Wirklichkeit im Westen von Virginia, im Rust Belt oder den ehemaligen Steel States, sieht aber vollkommen anders aus. Die Drogen- und Medikamentenepidemie in den Vereinigten Staaten ist noch lange nicht beendet. Ebenso wenig die Armut. Im Gegenteil. Und wenn man dann an einen Roman wie WINTER´S BONE (2006) von Daniel Woodrell denkt, ein Roman, der aus einem ganz ähnlichen Milieu und von ganz ähnlichen Problemen berichtet wie es DEMON COPPERHEAD tut, dann ahnt man doch, dass es da eine andere Wirklichkeit und mit ihr auch eine andere Wahrheit gibt. Dass das Gute möglicherweise eben doch nicht siegt. Nicht hier und auch nicht anderswo.

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