MOOSFLÜSTERN

Joachim B. Schmidt begleitet gemeinsam mit seinen Leser*innen einen traurigen Mann auf der Suche nach seiner verlorenen Zeit

Bevor man darüber nachdenkt, was ein Autor wie Joachim B. Schmidt einem mit seiner Prosa eigentlich mitteilen will, sollte man nach der Lektüre eines Romans wie MOOSFLÜSTERN (2017) vor allem erst einmal darauf hinweisen, mit welcher Lust am Erzählen dieser Schweizer Schriftsteller seinem Publikum seine Geschichten darbietet. Das ist mittlerweile fast schon selten in der europäischen Literatur. Hier ist einer, der Figuren erfindet, eigenwillig und originell, Figuren, die überzeugen, die trotz ihrer Macken sympathisch sind, denen man gern folgt, deren Gefühle man versteht und um die man sogar trauert. Und sie erleben Storys, denen man ebenfalls gern folgt, die manchmal hanebüchen erscheinen mögen, geradezu unwahrscheinlich, aber – und das ist das vielleicht höchste Lob, das einem Schriftsteller zugedacht werden kann – dennoch glaubhaft wirken, die überzeugen, einfach, weil sie unterhalten, die zugleich aber etwas in den Leser*innen berühren, anrühren und sie zum Nachdenken animieren. Und wie fast jeder gute Erzähler versteht Schmidt es, die Tragik seiner Figuren und ihrer Geschichten mit leisem Humor zu paaren und diesen seinen Humor immer auch mit dem ihm immer schon innewohnenden Grauen zu mischen. Das Lachen, das sich hier manchmal aufdrängen will, bleibt dann doch meist im Halse stecken.

Heinrich Lieber – ein Bauingenieur, der gerade eine schwere Zeit durchmacht, da aufgrund eines von ihm begangenen Flüchtigkeitsfehlers zwei Menschen beim Einsturz einer von ihm entworfenen Halle ums Leben gekommen sind – erfährt von seinen Eltern, dass seine leibliche Mutter, von der er annahm, sie sei bei seiner Geburt zu Tode gekommen, soeben erst verstorben ist. Und zwar auf Island, wohin sie, wie ca. 200 weitere Frauen, im Jahr 1949 auf dem Dampfer Esja ausgewandert war, als sie das Leben im kriegszerstörten Deutschland und vor allem die Erinnerungen in ihrem Kopf, Erinnerungen an erlittenes Unrecht, nicht mehr aushalten konnte. Lieber wirft die Neuigkeit zwar nicht vollends aus der Bahn, da der Mann doch ein rechter Pedant ist, überkorrekt und sehr kontrolliert scheint, doch ruckelt sie am Fundament seines Selbstverständnisses. So fährt er zunächst nach Paris, wo immer noch die Schwester seiner Mutter lebt, die ihm Einblick in das Leben geben kann, welches seine Mutter auf der fernen Insel geführt hat. Dann reist er weiter nach Island, auf den Spuren seiner, nein, besser der Vergangenheit seiner Mutter. Es wird eine Flucht – vor den Konsequenzen seines beruflichen Handelns ebenso, wie vor einem Leben, welches ihm zu entgleiten droht und stattdessen auf ein Mögliches hin, auf ein Vielleicht zu, ein Was-wäre-wenn, dessen Verheißung und Konsequenzen er allerdings weder versteht noch genauer definieren könnte.

Schmidt lässt seine Leser*innen an Heinrich Liebers Passionsweg in die eigene Geschichte zwar eher distanziert teilhaben, da seine Sprache immer einen gewissen Abstand zwischen den Rezipient*innen und dem Gegenstand der Erzählung einhält, doch zugleich ist man diesem Mann in seiner Hilflosigkeit dem Schicksal gegenüber sehr, sehr nah. Und es ist ein Schicksal, das hier beschrieben wird, daran lässt sich nichts deuteln. Und zwar ein Schicksal bis zur bitteren Neige. Liebers Weg folgt geradezu klassischen Mustern. Nach der verwirrenden Enthüllung, dem Unverständnis dem Vater gegenüber ob dessen Ver-Schweigens der Mutter, auf den folgenden Schmerz über das Verlassenwerden durch diese und ihr offensichtliches Desinteresse an ihrem Sohn, folgt eine Wut und dann der Wille, eine Geschichte, ein Leben zu erkunden, das ohne ihn gelebt wurde, ohne den Sohn, der vielleicht ein Anrecht darauf gehabt hätte. Dann aber entwickelt sich fast schon Euphorie, als er aufbricht und zugleich, wohl wissend, dass dies eher Aufschub denn Aufhub bedeutet, vor seiner unmittelbaren Gegenwart flieht. Diese Euphorie weicht aber zunehmendem Schmerz, als ihm auf Island – und dann in Gegenwart seiner ihm bisher ebenfalls verschwiegenen Halbschwestern – klar wird, dass da ein ganz anders Leben hätte gelebt werden können. Und schließlich, das erspart Schmidt uns nicht, widerfährt einem Mann wie Heinrich Lieber ein Missgeschick, dass sein Schicksal schließlich besiegelt, endgültig. Und es endet mit der Tragik eines zwar nicht lächerlichen, aber doch irgendwie traurigen, eines überkorrekten und nun an der eigenen Korrektheit gescheiterten, eines aus der Bahn geworfenen Mannes, dessen Leben vielleicht eine andere Wendung hätte nehmen, ganz anders hätte verlaufen können, hätte sich seine Mutter seiner erbarmt und ihn mitgenommen in dieses weite und fremde Leben hoch oben im Norden.

Unterbrochen wird diese Erzählung immer wieder in regelmäßigen Abständen durch Einschübe, in denen uns Liebers Mutter von ihrem Schicksal auf Island erzählt, davon, wie sie, innerlich nahezu versteinert, auf der Insel eintraf, wo sie, wie ihre Schicksalsgenossinnen, auf Lastwagen verfrachtet wurde und schließlich auf einem abgelegenen Hof in der Einöde landete, wo sie zukünftig als Dienstmädchen arbeiten sollte. Ein Programm übrigens, das es so tatsächlich gegeben hat. Denn viele Isländerinnen hatten nach dem Krieg das harte Leben auf den Höfen aufgegeben und waren entweder in die Hauptstadt gegangen oder sie waren mit den amerikanischen Soldaten, die hier während des Krieges stationiert waren, in die Staaten ausgewandert. Für deutsche Frauen wie Heinrich Liebers Mutter bot dieses Programm tatsächlich die Möglichkeit eines neuen Anfangs, eine Flucht vor den Schrecknissen, eine Möglichkeit, den Dämonen der Erinnerung zu entkommen – Bombennächte in den Bunkern und Kellern deutscher Großstädte; Vergewaltigungen durch feindliche Soldaten; das Gefühl des vollkommenen Ausgeliefertseins; die Vertreibung aus der Heimat; von den Verlusten geliebter Menschen ganz zu schweigen; aber auch dem Gefühl der Schuld  –, die sich in den Seelen fest eingefräst hatten.

Diese eingeschobene Erzählung ist allein deshalb schon anrührend, ergreifend und tieftraurig, weil Schmidt diese Frau, die zu Beginn der Romanhandlung ja bereits tot ist, mit eben jener inneren Distanz sich und ihrem eigenen Schicksal gegenüber berichten lässt, die er selbst für seine Erzählung über Heinrich Lieber nutzt. Was also in seinem auktorialen Erzählen aus dem Leben dieses traurigen Mannes zum Ausdruck kommt und da durchaus auch eine komische Note hat, eben weil er Lieber auch als eine tragische weil an sich selbst und dem eigenen Leben, auch den eigenen Ansprüchen gescheiterte Figur erscheinen lässt, bekommt in der Erzählung seiner Mutter tatsächliche Tiefe, da hier ein Mensch, ohne sich zu rechtfertigen, erzählt, wie er innerlich erkaltete, immer größeren Abstand zu sich und dem eigenen Leben aufbaute und eigentlich erst in der für ihn maximalen Fremde die Möglichkeit eines vielleicht neuen Glücks fand. Immerhin hat diese Frau erneut geheiratet, hat einen Isländer gefunden, den sie vielleicht lieben konnte, mit ihm auf jeden Fall noch drei Kinder, drei Töchter, bekommen und großgezogen.

So erzählt Schmidt von zwei Fluchtbewegungen – und vielleicht von den Wiederholungszwängen, denen Familien ja so häufig unterliegen. Da ist die Mutter, die aus dem historischen Drama, der Katastrophe des Kriegs flieht; und da ist dieser kleine, korrekte Ingenieur, der vor seiner ganz persönlichen Katastrophe flüchtet – besser: Jener Katastrophe, die er für andere durch einen Flüchtigkeitsfehler heraufbeschworen, verursacht hat. Doch verweigert Schmidt seinen Protagonisten dialektische Gerechtigkeit. Mag die alte Frau, die schlussendlich freiwillig aus dem Leben geschieden ist, wie Heinrich Lieber von ihrer Schwester erfährt, eine Art von Glück gefunden haben – dem glücklosen Ingenieur ist dies nicht beschieden. Mag seine Frau – dies übrigens eine der großen literarischen Leistungen dieses Romans: Wie es Schmidt gelingt, deren leisen Wandel, die vielleicht wiederauflebende Liebe zu diesem Mann, in den wenigen Dialogzeilen zu vermitteln, welche er den beiden via Telefon gönnt – auch auf ihn warten und der Meinung sein, gemeinsam sei es ihnen möglich, auch die widrigsten Hürden des Lebens zu meistern, Heinrich Lieber wird Island nicht lebend verlassen. Und wenn Schmidt am Ende die Natur selbst in Gestalt eines Vogels vollkommen gleichgültig auf diesen Mann blicken lässt, der da aufgrund eines wirklich schon peinlich banalen Missgeschicks im Meer treibt, dann mag das kalt und distanziert wirken. Es vermittelt den Leser*innen aber auch ein Gefühl davon, wie klein und unbedeutend wir letztlich alle sind in unseren eingebildet ach so großen Dramen und Tragödien. Ein kleiner Punkt im weiten Meer.

Schmidt ist da ein kleines Meisterwerk gelungen, da dieser Roman die Balance zu halten versteht. Eine Balance zwischen einer guten Geschichte, der Tiefe dieser Figuren, zwischen ihrer psychologischen Motivation und einem Grundrauschen, das von Schicksalhaftigkeit und Bestimmung raunt. Erzählt wird das in einer scheinbar einfachen Sprache, der die Leser*innen gut folgen können und die doch ihre Fallstricke und Tücken bereithält und es dem Publikum dann doch nicht so einfach macht, wie es zunächst glauben mag. Das ist große literarische Kunst und man will gleich den nächsten Roman dieses Erzählers zur Hand nehmen. Mehr davon! Mehr davon!

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