KALMANN
Mit Kalmann führt Joachim B. Schmidt eine ungewöhnliche und liebenswerte Figur in den Kanon der Literatur ein
KALMANN (2020) lebt als Haifischfänger in der kleinen, im nordöstlichen Zipfel von Island gelegenen Stadt Raufarhöfn, durch die er gern streift, ausgestattet mit Cowboyhut, einem Sheriffstern und einer Mauser-Pistole, und von wo er uns, seinen Leser*innen, allerhand Beobachtungen über seine Mitmenschen zuteilwerden lässt. Kalmann weiß, dass er anders ist, er weiß um seine Unzulänglichkeiten – dass sein Kopf anders funktioniert, dort die Räder manchmal „rückwärtslaufen“, wie er selbst es ausdrückt, und er sich selbst gelegentlich nur mit Schlägen gegen eben diesen Kopf zur Ruhe bringen, die Wut, die in ihm tobt, zähmen kann. Er weiß, dass er nicht immer fair gegenüber seinen Mitmenschen ist, die ihn mit recht großem Gleichmut tolerieren. Allen voran seine Mutter, die sich um ihn sorgt und mehrmals in der Woche eine weite Fahrtstrecke auf sich nimmt, um sein Haus zu putzen und ein wenig Ordnung in sein Leben zu bringen.
Eines Tages findet Kalmann eine Blutlache und erfährt kurz darauf, dass Róbert McKenzie verschwunden ist. Der gilt als der lokale Großmatador, der sich etliche Fischereirechte – die in Quotenregelungen festgelegt sind – gesichert, teils in andere Landesteile verkauft und der Stadt damit großen Schaden zufügt hat. Darunter auch sich selbst, ist er doch u.a. Betreiber des einzigen Hotels am Ort und etlicher weiterer Lokalitäten. Es gibt also allerhand Gründe, McKenzie böse zu sein und deshalb ist die Liste derer, die ihm Arges gewollt haben könnten lang. Doch zunächst müsste erst einmal sein Verschwinden geklärt, müsste seine Leiche gefunden werden…
Der Schweizer Autor Joachim B. Schmidt, seit dem Jahr 2007 selbst in Island beheimatet, hat mit Kalmann eine bei den Leser*innen durchaus nachhallende Figur in den literarischen Kanon eingeführt. Mittlerweile gibt es bereits einen Nachfolgeband, der Kalmanns Abenteuer auf der Suche nach seinem Vater schildert, jenem Mann, der ihm einst jene Utensilien vermacht hat, aufgrund derer er zum inoffiziellen „Sheriff von Raufarhöfn“ ernannt wurde. In diesem ersten Band, den man nominell gut und gern als Kriminalroman bezeichnen kann, wird die Figur in all ihrer Schrulligkeit – und vor allem konsequent aus ihrer subjektiven Perspektive – eingeführt und dem Leser ans Herz gelegt.
Kalmann ist offensichtlich geistig eingeschränkt, dennoch aber hellwach und in seinen Beobachtungen oftmals zwar redundant, manchmal oberflächlich, aber auch häufig sehr genau. Da er über einen eingeschränkten Wortstamm verfügt, müssen die Leser*innen sich mit seinen gelegentlich doch recht einfachen Lebensweisheiten darüber, was nun einmal wie so oder so sei – darunter auffallend oft auch Ansichten zum Verhältnis von Frauen und Männern – abfinden. Doch wer genau liest, der stellt bald fest, dass sich gerade in dieser scheinbaren Einfachheit auch mancher Hinweis nicht nur auf die hier erzählte Geschichte eines Verschwundenen findet, sondern auch darauf, wie die Menschen – und nicht nur in Island – so ticken.
Den Menschen seiner unmittelbaren Umgebung stellt Kalmann – und durch ihn wohl auch sein Erfinder – nicht immer das allerfreundlichste Zeugnis aus. Zwar werden die meisten Menschen mit denen Kalmann es zu tun hat als höchst individuell, manchmal ebenfalls recht schrullig und – in Bezug auf den Hauptprotagonisten – auch äußerst liebenswürdig und tolerant geschildert, doch sind sie oft auch feindlich, zumindest argwöhnisch gegenüber dem Fremden eingestellt, sie sind voller Ressentiments und durchaus zu Häme, Neid und Missgunst fähig. Da trifft man also auf ein wahres Panoptikum von Menschen, die das Leben in der Einöde, unter ausgesprochen harschen Bedingungen geprägt und auch verhärtet hat. Dass man hier schon mal bereit ist, Fünfe gerade sein zu lassen – auch bei einem Kapitalverbrechen – leuchtet ein. Es sind Figuren von hoher Authentizität, einer reellen Lebenswirklichkeit entnommen, vielschichtig, nicht eindimensional und auch nicht klischeebeladen.
Dazu passt ihre Einstellung, dass, sollte Róbert McKenzie wirklich tot sein, wovon die meisten derer, die hier leben und ihn kannten bald ausgehen, dass das dann wohl so sein soll. Niemand scheint dem Mann wirklich eine Träne nachzuweinen. Und als Kalmann, der seine weitaus weniger als fünfzehn Minuten im Scheinwerferlicht der medialen Aufmerksamkeit durchaus zu genießen scheint, den Bewohnern der Stadt, den TV-Reportern und letztlich auch uns, den Lesenden, mitteilt, in seinen Augen könne der Missetäter ein Eisbär sein, gelegentlich schwämmen die schon mal von Grönland her, da finden die meisten diesen Befund zwar beängstigend jedoch auch recht beruhigend. Besser ein Eisbär als Mörder denn einer aus ihrer Mitte. Lediglich die Polizistin Birna, die den Verschwundenen suchen und den Fall möglichst geräuschfrei lösen soll – in Reyjkavik ist man doch mit anderem, weitaus Wichtigerem beschäftigt, dort nämlich treffen sich „die Staatsoberhäupter“ – hält gar nichts von dieser These. Die Anwesenheit eines Eisbären würde ihre Suchaktion nicht nur erschweren, sie würde sie unmöglich machen. Viel zu gefährlich. Kalmanns Mutter und Birna wissen Kalmanns TV-Auftritte übrigens schnell zu unterbinden.
Zwischen Kalmanns alltäglichen Beschäftigungen – er schaut gern TV-Shows und isst dabei Fast Food, er fährt regelmäßig aufs Meer raus, um seine Fangleinen zu kontrollieren, er muss seine Köder einlegen und die gefangenen Haie präparieren, damit diese später zu „Gammelhai“ verarbeitet und dann verkauft werden können – , seinen Überlegungen hinsichtlich seines Lebens generell, dessen, was in Raufarhöfn gerade geschieht, einigen Nebensträngen, in denen es um Drogen und immer wieder um Kalmanns Wunsch nach einer engeren Beziehung zu einer Frau geht, er ist da nicht sonderlich wählerisch, mäandert der Roman ein wenig unfokussiert. Ist das nun ein Krimi im herkömmlichen Sinne? Dazu fehlt die Spannung und die Leser*innen kommen zu schnell auf die Spur dessen, was sich wirklich zugetragen hat. Ist es die Lebensbeschreibung eines Außenseiters? Vielleicht ist der Text dafür zu subjektiv und Kalmann sich seiner selbst zu bewusst. Ist es ein Blick auf ein dem Autor letztlich doch immer noch fremdes Land, welches er genau betrachtet? Das ganz sicher.
Denn Schmidt gelingen nicht nur gelungene Portraits der Bewohner seiner Wahlheimat, sondern auch ebenso eindringliche Beschreibungen dieses Landes abseits der pittoresken, für Touristen so geeigneten Landschaften, Gletscher und Wanderrouten. Hier oben, weit draußen im Nordmeer, wo Stürme toben, wo Eis und Schnee die Landschaft lange, lange Zeit im Jahr bestimmen, hier ticken nicht nur die Uhren anders und auch die Köpfe und Herzen der Menschen. Hier hat man es mit einer Natur zu tun, die archaisch anmutet, die man kennen muss, verstehen muss, deren Zeichen man lesen können muss, da man sonst schnell Gefahr läuft von ihren Unbilden verschlungen zu werden. Und das den Leser*innen zu verdeutlichen, es sie spüren, mitfühlen zu lassen, sprachlich so zu vermitteln, dass wir bei der Lektüre die Kälte ebenso spüren, wie die feuchte Luft, aber auch die angenehme Wärme, wenn man aus dem eisigen Sturm ins Warme kommt – das ist schon eine Kunst für sich.
Es wird sich zeigen, ob Joachim B. Schmidt noch weitere Bände folgen lässt, es ist aber anzunehmen. Ob die Figur Kalmann dann wirklich geeignet ist, als Seriengestalt zu reüssieren, man wird es sehen. Diesen ersten Eindruck allerdings will man nicht missen, im Gegenteil, er lädt ein, mehr über Kalmann und seine Geschichte zu erfahren.