ÓSMANN

Joachim B. Schmidt erzählt in seinem siebten Roman aus einem isländischen Leben des 19. Jahrhunderts

Joachim B. Schmidt schickt sich an, der nächste große Literatur-Export der Schweiz zu werden. Seit geraumer Zeit liefert er einen Bestseller nach dem andern ab. Dabei lebt der Mann seit geraumer Zeit in Island, seiner Wahlheimat, wo auch seine Romane größtenteils angesiedelt sind. So auch sein jüngstes Werk ÓSMANN (2025), ein Buch, das von einer realen Figur inspiriert wurde.

Ósmann war der Zu-Name von Jón Magnússon, der 1862 auf der Insel im Nordatlantik das Licht der Welt erblickte. Zeit seines (erwachsenen) Lebens war er Fährmann am Ós, der Flussmündung der Bezirksgewässer, die in den Skagafjord im Norden Islands flossen. Ósmann war zwar ein rauer Bursche, ein begnadeter Glima-Kämpfer (Glima ist eine isländische Variante des Ringens, dem schweizerischen Schwingen nicht unähnlich – vielleicht trug die Verwandtschaft zu Schmidts Faszination des Mannes bei?), ein Robbenjäger und Fischer, der in und mit der ebenfalls rauen Natur des Nordatlantiks lebte, aber eben auch war Ósmann ein Poet, ein höchst sensibler Mann, ein Menschenfreund, in dessen Hütte – Emanuel genannt – jeder jederzeit willkommen war, beherbergt und verköstigt wurde, und wo immer ein Schluck starken Alkohols ausgeschenkt wurde, damit Reisende sich stärken und vor allem wärmen konnten. Ósmann war aber auch ein Mensch, der schwere Schicksalsschläge – zwei seiner Kinder und die Frau, die er geheiratet hatte, starben früh – hinnehmen und verkraften musste.

Anhand der Jahre – 1913 beendete Ósmann dieses Leben freiwillig, ein Leben, das in vielerlei Hinsicht eines des 19. Jahrhunderts gewesen ist und somit vielleicht rechtzeitig vor der Zeitenwende endete – erzählt Schmidt vom Leben dieses ebenso gewöhnlichen wie bemerkenswerten Fährmanns. In den ersten Kapiteln springt er noch vor und zurück, doch dann folgt er den Jahren und Jahrzehnten chronologisch, was sich dem Leser weitaus besser erschließt, als die anfängliche a-chronologische Vorgehensweise. Schmidt bedient sich eines Ich-Erzählers, dessen Position in der Erzählung lange prekär bleibt, aufmerksamen Leser*innen wird allerdings schnell auffallen, dass dieser Mensch eine gesonderte Rolle in Ósmanns Leben einnimmt – denn wann immer die beiden zusammenkommen, ob in Zweisamkeit oder in Gesellschaft anderer – Ósmann scheint der einzige zu sein, der diesen Erzähler wahrnimmt. Und der wiederum weiß sehr, sehr viel über den Fährmann, mehr, als ein Wesen aus Fleisch und Blut über einen anderen wissen kann, es sei denn, er teilt jeden Tag, jede Stunde, jede Minute mit ihm.

In diesem Erzähler manifestiert sich eine weitere Charaktereigenschaft Ósmanns, von der Schmidt nicht nur durch eine Biographie des Fährmanns von Kristmundur Bjarnson, sondern auch – oder gar mehr noch – durch die Gespräche mit den Urenkeln Ósmanns erfahren haben dürfte: Ósmann sah Elfen und Geister und stand mit diesen in Kontakt. Zumindest behauptete er das. Schmidt lässt einem Teil von Ósmanns Wesen insofern Gerechtigkeit widerfahren, als dass er einen Geist erzählen lässt und damit eine Grenze, an der sich Realität und Fiktion, Wirklichkeit und subjektive Wahrnehmung überlappen und Außenstehende vielleicht nicht immer unterscheiden können, woran sie sind.

Dabei lässt Schmidt natürlich auch dem Wesen der Literatur Gerechtigkeit widerfahren, denn sie allein ist tatsächlich und nachweisbar in der Lage, Wahrheit und Erfindung in einer Weise zueinander in Bezug zu setzen, die den Raum dazwischen aufhebt; sie allein kann beidem gerecht werden und dennoch Wirklichkeit beanspruchen; nur sie kann Raum und Zeit unmittelbar aufheben und dennoch glaubhaft vermitteln. Sie ist an sich geisterhaft und allwissend zugleich, sie ist dabei zart und vorsichtig in ihrem Tasten nach Wahrheiten und – oft genug falschen, unsicheren, prekären und als solchen auch markierten – Gewissheiten. So umweht diesen Roman, der im Grunde eher Episodenstück ist, eine kohärente Handlung im engeren Sinne gibt es nicht, immer auch etwas von jener Mythologie, die gern mit Island assoziiert wird, aus der aber auch alle Literatur einst hervorgegangen ist. Und Schmidt huldigt seinem ureigenen Metier, dem Erzählen.

Joachim B. Schmidt, das kann wohl sagen, ist ein Stimme im Kanon der europäischen Literatur, wie es sie so häufig nicht mehr gibt: Er hat ungeheure Lust am Fabulieren, an der Erzählung, an der Kraft der Geschichte (im durchaus doppelten Sinne). Er versteht es, Figuren überzeugend zu zeichnen und auszumalen, ihnen Liebes- und Lebenswürdigkeit einzuschreiben, selbst dann, wenn sie nicht eindeutig sind, wenn sie ambivalent auftreten, in sich widersprüchlich – und doch stimmig als literarische Erzeugnisse. Schmidt gelingt es, seine Figuren mit wenigen Hinweisen und kräftigen Strichen so zu skizzieren, dass sie Individualität und Eigensinn besitzen. Hier ist es u.a. ein Duktus, den er Ósmann angedeihen lässt, der diesen Menschen charakterisiert und eigenständig werden lässt. Ein eigentümlicher und altbackener Duktus, der diese Figur markiert, ihr aber eben auch etwas Ureigenes einschreibt und sie dadurch fassbar macht, authentisch wirken lässt, eigenständig und real.

Darüber hinaus aber kann Schmidt – was nicht vielen Schriftstellern in diesem Maße vergönnt ist – mit seinen Beschreibungen tief in die Natur eindringen, ohne dabei je in Kitsch, Schwulst oder Pathos abzugleiten. Er durchmisst gleichsam die Natur der Natur. Dabei spüren die Leser*innen immer, selbst in den bedrohlich wirkenden Schilderungen bspw. des Packeises, das in den Fjord vordringt und auf dem Ósmann jagen geht, wie sehr ihn diese Natur fesselt, wie sehr sie ihn mitreißt, wie überwältigend sie sein muss, gerade dort, im hohen Norden, wo der Mensch den Gewalten immer noch sehr viel stärker ausgeliefert ist, als wir Mitteleuropäer das gewohnt sein dürften.

ÓSMANN ist Schmidts nunmehr siebter Roman und einmal mehr ist ihm ein Glanzstück gelungen, ein Buch, das zu lesen einfach Freude macht, Lebensfreude schenkt und dessen Protagonisten man einfach gernhat, ihm gern folgt, mit ihm fiebert, lacht und auch leidet. Einziger Wermutstropfen ist vielleicht die Inkohärenz der Erzählung. Dies ist eben ein romanhaft erzähltes Leben, in gewisser Weise eine Biographie in Romanform, und also gleitet das Erzählte so dahin. Wir lernen viel über die Härten des Lebens – Ósmann er-lebt seine Jahre weniger, als dass er sie über-lebt in einer nicht unbedingt lebensfreundlichen Umgebung, eine Umgebung, die er nie verlässt, was er am Ende seines Daseins zu bereuen beginnt, als er über die Möglichkeiten nachdenkt, die ein Leben geboten hätte.

Wir lernen indirekt auch einiges über Island, über die harten Bedingungen dort, über den Hunger, der immer wieder droht, über die Rückständigkeit einer Gesellschaft, die am äußersten Rand Europas etwas vergessen vor sich hindümpelte. Wie lernen aber auch, wie die Dampfer, die immer wieder auf der Insel anlegten, viele von Ósmanns Freunden und Teile seiner Familie mitnahmen und nach Amerika brachten, wo sie, wie so viele Europäer zum Ende des 19. Jahrhunderts, ein besseres Leben zu finden hofften. So werden diese modernen Schiffe zu Sinnbildern von etwas Größerem: Die Moderne dringt langsam auch in dieses Leben ein und bringt schließlich Möglichkeiten mit sich, die der einzelne erst einmal begreifen muss. Und vielleicht ist es auch die Erkenntnis dessen, was hätte sein können, mit etwas weniger Pflichtbesessenheit und etwas mehr Neugier auf die Welt, die Ósmann schließlich verzweifeln lassen an einem Dasein, das so oder so seinem Ende entgegenstrebt.

Man ist gespannt auf den nächsten Text dieses Autors, der den europäischen Lesern diese Insel an ihrer nördlichen Peripherie neu und ganz anders und abseits der Mythen und der damit einhergehenden Klischees nahebringt. Ein Schweizer Import, der zu einem Exportschlager wird…

 

2 thoughts on “ÓSMANN

  1. Dietrich Feldhausen sagt:

    „Dabei lässt Schmidt natürlich auch dem Wesen der Literatur Gerechtigkeit widerfahren, denn sie allein ist tatsächlich und nachweisbar in der Lage, Wahrheit und Erfindung in einer Weise zueinander in Bezug zu setzen, die den Raum dazwischen aufhebt; sie allein kann beidem gerecht werden und dennoch Wirklichkeit beanspruchen; nur sie kann Raum und Zeit unmittelbar aufheben und dennoch glaubhaft vermitteln. Sie ist an sich geisterhaft und allwissend zugleich, sie ist dabei zart und vorsichtig in ihrem Tasten nach Wahrheiten und – oft genug falschen, unsicheren, prekären und als solchen auch markierten – Gewissheiten.“ Danke für dieses Glaubensbekenntnis zur Dialektik von Dichtung und Wahrheit in der Literatur! Der Titel Deines Blogs, Gavin, wird so einmal gründlich erklärt – und das im Zusammenhang mit einem Buch, das ich anfangs unterschätzte, vielleicht weil es mit dem nackten Helden und einer von ihm gefundenen und geretteten nackten Robbenfrau beginnt. Das war mir zu starker Tobak gleich zu Beginn – aber dann hat er mich doch bezirzt, dieser Schweizer, der die Härte und Urigkeit seiner Graubündner Heimat wohl in Island wiedergefunden hat, wie es ja auch den Hosenlupf, das „Schwingen“ genannte Ringen der Schweiz in Gestalt des Glima genannten Ringkampfes in Island gibt, den der Autor liebvoll schildert. „Schwingerkönig“ 2025 ist in der Schweiz erstmals ein Graubündner geworden – vielleicht ein Omen auch für Joachim B. Schmidt!

  2. Gavin Armour sagt:

    Lieber Dieter,
    danke für Deinen Kommentar! Stimmt, das rekurriert glatt auf den Titel des Blogs. War mir selber gar nicht richtig aufgefallen. Ja, die Literatur bleibt in gerader dieser Funktion des Offenen und nicht Eindeutigen magisch!

    Das Buch ist ein schöner Roman, aber ich glaube, Schmidt kann es sogar noch ein bisschen besser!

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