VON NORDEN ROLLT EIN DONNER

Ein neuer deutscher Heimatroman, inklusive allem, was dafür nötig ist

Die Berge und die Heide – deutsche Sehnsuchtsorte der Idylle, gern mythisch verherrlicht. Die einen eher mystisch verbrämt, die andere eher lieblich. Und, wenn es dann das Moor sein soll, auch gern ein wenig unheimlich. Also ebenfalls mystisch. Markus Thielemann gelingt es – die Heide betreffend – in seinem zweiten Roman VON NORDEN ROLLT EIN DONNER (2024) sowohl die Lieblichkeit als auch die Mystik der Heide zu bedienen und zugleich zu dekonstruieren.

Der 19jährige Jannis entstammt einer Schäferfamilie. Sie leben inmitten der Lüneburger Heide, nahe Munster, umgeben von Truppenübungsplätzen der Bundeswehr. Der titelgebende Donner entspringt also ebenso heranziehenden Gewittern, wie er auch von Schießübungen der Armee herrühren kann. Jannis hat sein Handwerk erlernt, ohne viel darüber nachzudenken, ob für ihn etwas anderes in Frage käme. Seine ältere Schwester hat sich anders entschieden und ist weggezogen. So bewirtschaftet Jannis gemeinsam mit seiner Mutter Sibylle, seinem Stiefvater Friedrich und – gelegentlich – dem Großvater Wilhelm den Hof. Sibylle ist diejenige, die sich um die Organisation kümmert, die aber auch die Familie zusammenhält. Die Oma ist mittlerweile im Heim, da bei ihr eine fortgeschrittene Demenzerkrankung einen Verbleib daheim kaum mehr möglich erscheinen ließ. Und nun macht sich auch bei Friedrich eine immer schneller um sich greifende Vergesslichkeit bemerkbar. Für Jannis eine Horrorvorstellung, dass sein Stiefvater ebenfalls an Demenz erkranken könnte. Zumal er selbst neuerdings Erscheinungen sieht, eine Hexe – oder doch ein Geist? – scheint ihn zu verfolgen. Beginnende Geisteserkrankung auch bei ihm? Und dann scheint es so, als tauchten nun auch hier im Kreis Wölfe auf, wie es in den umliegenden Landkreisen schon häufiger der Fall gewesen ist. Eine Tatsache, die Friedrich zusehends in Schrecken versetzt.

Obwohl der Roman gern damit beworben wird, dass anhand der Wölfe beschrieben würde, wie eine Gesellschaft langsam aufgespalten wird, wie sich Risse auftun und Scharfmacher jedweder Couleur dies nutzen, um ihr eigenes Süppchen zu kochen, muss man konstatieren, dass es Thielemann zwar auch darum gegangen sein mag, dass er aber tatsächlich das vielschichtige Portrait eines jungen Mannes zeichnet, der nach und nach begreift, dass es in der Geschichte seiner Familie ausgesprochen dunkle Flecken gibt. Eine in der Innenseite des Covers abgedruckte Karte der Gegend, in der dieser Roman angesiedelt ist, gibt nicht nur Auskunft über die Lage der Truppenübungsplätze, sondern auch über die Lage des KZ Bergen-Belsen und dessen Außenlager. Diese spielen im Roman nie eine direkte Rolle, doch indirekt dann eben sehr wohl. Jannis´ Oma spricht immer wieder von einer „Rose“, wobei damit keine Blume gemeint ist, aber eben auch nicht – wie Opa Wilhelm gern zu behaupten pflegt – Omas Katzen, die schon lange tot sind. Und die Jannis heimsuchenden Erscheinungen deuten auch immer stärker auf ein begangenes Unrecht der jüngeren Vergangenheit hin. Auf den letzten Seiten des Romans wird es für all das eine Auflösung geben und sie ist schrecklich, keine Frage. Allerdings werden die Leser*innen sie bereits so oder ähnlich erwartet haben, so ist es also keine wirkliche Überraschung, womit Jannis und das Publikum hier konfrontiert werden.

Thielemann erzählt jedoch vor allem aus dem Alltag eines jungen Mannes, der tief in der deutschen Provinz, in einer sehr ländlichen Gegend aufwächst, der – sieht man einmal von der nirgends je erwähnten Sexualität ab, die in diesem Alter doch eine große Rolle spielt – mit seinen Freunden am Wochenende gern einen hebt und dabei auch mal über die Stränge schlägt, der sich um seine Familie Gedanken und eben auch Sorgen macht und nach und nach begreift, dass er sich nie wirklich für die Geschichte – weder die eigene, die familiäre, noch die größere, umfassende dieses Landstrichs – interessiert hat. Thielemann nutzt eine ausgesprochen geschickte Konstruktion, indem er aus eben diesen Alltagssorgen – wird es gelingen, die neuen Lämmchen auf die Welt zu bringen?; reicht das Geld, um all den Ansprüchen der modernen Welt zu genügen?; geht es der Familie gut? – die tieferreichenden Themen erwachsen zu lassen.

So drängen sich die neuen Erkenntnisse in Jannis´ Leben sacht in die eher mäandernde Handlung. Lange dreht sich alles um den geistigen Zustand des Vaters und, damit zusammenhängend, die Frage, ob die Wölfe wirklich eine Bedrohung für die Herde der Familie sind. Thielemann vermittelt sehr authentisch die Arbeit, die ein Schäfer zu verrichten hat und damit auch die Anstrengung, die sie bedeutet, die Gefahren, Ängste und Sorgen, die mir ihr einhergehen, aber auch, wie schön diese Arbeit sein kann. Jannis liebt es, mit der Herde in die Heide zu ziehen, begleitet von zwei Hunden, die sich um die Schafe und Ziegen kümmern, er genießt die Ruhe, die diese Arbeit mit sich bringt, genießt die Natur – zumindest, bis im Frühjahr und Sommer die Feriengäste kommen, die durch die Heide wandern und sich kutschieren lassen und gern Fotoaufnahmen mit dem Schäferjungen machen. In diesen Momenten wohnt dem Roman tatsächlich eine gehörige Portion Humor inne.

Thielemann nutzt für all die Beschreibungen eine Sprache, die durchaus am „Heidedichter“ Hermann Löns geschult ist, gelegentlich aber auch eines Thomas Hardy würdig wäre, an dessen Beschreibungen des ländlichen Englands man denkt, gerade auf den ersten Seiten des Romans. Und doch unterläuft Thielemann das Idyllische immer wieder, die Schönheit sowohl der Sprache als auch dessen, was sie beschreibt. Denn wenn er bspw. schildert, wie Wurzeln, Organischem gleich, den Boden des Unterholzes durchbrechen und, vom Regen benässt, schillern und schimmern, dann drängt sich bei ihm eben auch der Hinweis auf das Glitzern des Stanniolpapiers in diese Schilderung; Stanniolpapier, das achtlos von Wanderern – oder vielleicht auch einem Jäger oder einem Schäfer gar – fallen gelassen wurde. Und es ist genau dieselbe Sprache, mit der Thielemann dann auch die Widrigkeiten der Arbeit schildert, die nicht immer ruhig und schön ist, sondern eben auch monoton, anstrengend, unangenehm, wenn die Witterung, wie häufig in der norddeutschen Tiefebene, eher feucht und kühl daherkommt. Und es ist auch diese Sprache, in der Thielemann die Profanität schildert, mit der die moderne Welt auch in die deutsche Provinz eindringt: Autohöfe und Gewerbegebiete, Fachmarktzentren, Autobahnbrücken und Raststätten.

VON NORDEN ROLLT EIN DONNER wurde von der Kritik als „Antiheimatroman“ beschrieben, doch stellt sich eher die Frage, ob dies nicht viel mehr eine sehr moderne Form eines Heimatromans ist. Denn genau davon erzählt Markus Thielemann eindringlich, authentisch und sehr gekonnt: Von der deutschen Provinz, die so oft gleichgesetzt wird mit dem Begriff „Heimat“. Anders als der klassische, kitschige Heimatroman (oder auch der Heimatfilm) unterläuft Thielemann mit seinem Buch das Idyll, welches im klassischen Heimatroman gefeiert wird – die wiederholten Hinweise auf Löns, die immer wieder vor allem durch Opa Wilhelm gegeben werden, deuten ja genau darauf hin – und beweist anhand der hintersinnigen Konstruktion seiner Geschichte, wie die Vergangenheit, das Verdrängte und Verschwiegene sich dann doch ihren Weg ins Bewusstsein bahnen. Und wie selbst die, die lieber schweigen, dieses Schweigen irgendwann durchbrechen, und wenn es nur deshalb ist, weil sie die eigenen Verdienste nicht genügend gewürdigt finden, die eigenen Versäumnisse aber auch nicht mehr aushalten können. Das ist ein sehr dankenswerter Ansatz. Und auch, wenn er nicht so originell und neu ist, ist er deshalb ja nicht weniger überzeugend.

Weniger überzeugend ist allerdings Thielemanns Dreh, auf die Figur des Gespensts – oder jene der Hexe? – zurückzugreifen und damit dann doch die Natur-Mystik zu bedienen, die dem deutschen Heimatroman so häufig innewohnt. Mehrfach sieht Jannis eine Frau, die ihn – speziell ihn – auf etwas hinweisen zu wollen scheint, schließlich greift sie sogar direkt in die Handlung ein. Und erst, als es Jannis gelingt, die Wahrheit ans Tageslicht zu fördern – wobei ihm Omas demenzielle Redseligkeit und Opas Bekenntnisdrang zugutekommen – scheint die Erscheinung, das Gespenst, anders kann man die Präsenz dann letztlich nicht bezeichnen, befriedigt und zieht sich in die „Schatten der Vergangenheit“ zurück. Bedenkt man, wie naturalistisch, wie realistisch der Roman an sich gehalten ist, fragt man sich während der Lektüre, worauf der Autor mit diesem Kniff hinauswill? Will er doch auch ein wenig von der Mystik mitnehmen, vom Geheimnis der Heide, des Moors, welche der Deutsche ja im Negativen (Löns) wie Positiven (Annette von Droste-Hülshoff) so lieben? An einer Stelle des Romans scheint es Jannis, als wolle die Heide selbst ihm etwas sagen – auch das natürlich ein Hinweis auf all die Geheimnisse, die diese Landschaft birgt. Doch mit dem Themenfeld der Demenz, das bei Oma und Stiefvater bemüht wird, liegt natürlich auch die Vermutung nah (die Jannis selbst befällt), dass auch der Junge davon bedroht sein könnte.

Schließlich bleibt ein etwas schmaler Nachgeschmack. Vielleicht hat Thielemann zu viel gewollt? Ja, vielleicht. Die Beschreibung des Alltags eines Jugendlichen in der deutschen Provinz, die Bedrohung durch den Wolf, die damit einhergehende Präsenz offenbar eher dem esoterisch bis rechtsradikalen Lager zuzurechnender Kräfte, welche im Gesamtkontext des Romans dann aber doch keine so vordergründige Rolle spielen, die Familiengeschichte, die deutsche Vergangenheit, Demenz und ökonomische wie ökologische Bedingungen: Ja, vielleicht ist das alles etwas viel für einen nicht einmal 300 Seiten starken, also recht schmalen Band. Doch will man auch nicht zu krittelig sein. Das ist ein sprachlich hervorragender Roman, der, wie in so vielen Fällen, formal besser ist als inhaltlich. Und es ist ein in vielen Belangen sehr treffender Beitrag zur Frage, wie man mit der Historie umzugehen gedenkt. So gesehen – ein Treffer.

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