FLUT UND BODEN
Familiengeschichte - gnadenlos
Unter Autorennamen und dem Titel – FLUT UND BODEN – verrät uns eine zweite Zeile, daß es sich hierbei um den „Roman einer Familie“ handele. Nichts steht da von einem Familienroman! Das sei denjenigen Lesern vorauseilend mitgeteilt, die in Per Leos Text eine zum Schmökern einladende Familiengeschichte erwarten, das große genealogische Panorama, die generationenübergreifende Aufdeckung eines Geheimnisses oder ähnliches. Nein, keineswegs, Per Leo – Jahrgang 1972, Student der Geschichte, der Philosophie und der russischen Philologie und somit zwangsläufig mit den allerlei texttheoretischen Ideen in Berührung gekommen – weiß nur zu gut um das Konstrukt, das sich „historische Wahrheit“ nennt und natürlich für die persönliche Geschichte ebenso wie für die „offizielle“ Geschichte gilt. Immer ist die Frage, wer erzählt, wer ordnet die Fakten, in welcher Reihenfolge und warum, welche Stimme spricht? Und ebenso wichtig ist natürlich die Frage, wer lauscht? Wie wird das Erzählte aufgenommen und weiterverarbeitet? Umso mehr, wenn man ein derart kompliziertes und fragiles Gebilde wie die Familie Leo untersucht. Also hat der Leser es hier wirklich mit dem „Roman einer Familie“ zu tun, mit den verschiedenen Erzählungen der unterschiedlichen Familienmitglieder, die alle Unterschiedliches zu berichten wissen über die Entwicklung der Sippschaft. Soviele Narrative, wie es Erzählende gibt.
Abstämmig von der Reederfamilie Lange, die einst nicht nur die ersten Dampfschiffe in Deutschland baute, sondern auch ins Gründungskapital der Bremer Vulkan Werft einging, gehört Per Leo der Generation der Enkel an, die ja angeblich die Alten, die sich während des 3. Reichs schuldig gemacht haben, erst ernsthaft befragen können, weil sie des moralischen Furors abhold seien, der die direkte Nachfolgegeneration so mächtig befeuerte. Weil die Vergangenheit für sie bereits historisch sei. Das kommt Per Leo zugute, kann er so in der dichten, manchmal komplizierten, sich verschraubenden Sprache, die er nutzt, von einem Großvater berichten, der, früh in die SS eingetreten, beim Rasse- und Siedlungshauptamt der Organisation Karriere machte. Es ist dieser Großvater Friedrich, der Leo nach dem Tod der Großmutter als Objekt seiner professionellen wie persönlichen Begierde dient, damit er die schwere Depression, die ihn ereilt, überwinden kann. Die Familie als Hort unserer Erinnerungen, als Zuflucht und Erklärung darüber, wer wir sind, kann ja nun mal auch der Hort jener Geheimnisse sein, die, tief in uns selbst vergraben, drohen, uns mit einer seltsamen Sogwirkung bleierner Schwere in tiefste Tiefen verdrängten Schmerzes zu ziehen. Wo Zuflucht lockt, kann die Hölle schon warten.
Per Leo führt uns über Umwege – die Großfamilie mit ihren Festen; das Haus der Familie in Vegesack vor den Toren Bremens, wo die Großmutter bis zum Ende mit einem ihrer Söhne lebte; den trivialen Vorlieben wie jener für den SV Werder Bremen, der sein Vater und er auch dann noch frönen, als die Familie nach München umzieht – kapitelweise immer näher an diesen distanzierten, fernen Mann heran. Geboren als eins von sechs Geschwistern, davon vier Brüder, ist dieser Friedrich nicht das herausstechende oder vielversprechende Kind der Familie Leo. Streng lutherisch-protestantisch erzogen, bezieht Friedrich schon in Kindheitstagen wie selbstverständlich Positionen, die ihn zum Außenseiter stempeln. Und während seine Brüder sich für die Wandervogelbewegung erwärmen, ist es bei ihm schon früh die HJ, die ihn fasziniert. Dieser Friedrich, das verdeutlicht Leo an allerhand Anekdoten, aber auch tiefgreifender Beispiele seiner Erziehungsmethoden sowie Auszügen seiner Briefe etc., war ein wirklicher Nationalsozialist, in tiefster Überzeugung. Ein Gläubiger, der seiner Religion, die doch in der Erziehung seines Vaters eine solch eminente Rolle gespielt hatte, den Rücken gekehrt, sie ÜBERWUNDEN hatte und vollkommen in dem neoheidnischen Glauben der Nazi-Partei aufging. Und der diese Haltung 1945 keineswegs ablegte oder auch nur abmilderte. Dieser Mann ging in Opposition zu seiner Familie und allem, wofür diese stand, ohne diese Opposition offen auszuleben. Er ging begeistert mit seiner Zeit, was vollkommen ausreichend war, seine Opposition auszudrücken. Keine hanseatisch-vornehme Zurückhaltung, offene Begeisterung. Danach, als die glorreiche Zeit vorbei war, geht er in eine Art „innere Opposition“, akzeptiert aber die Niederlage. Als Vorübergehende.
Diesen Großvater umkreist Per Leo in seinem Text, er befragt seinen Vater und seine Onkel, seine Tanten erstaunlicherweise nicht, sie fallen eh aus diesen Zeilen, bekommen etwas Schemen-, etwas Geisterhaftes. Frauen, bis auf die Großmutter, die allerdings im ersten Kapitel zu Grabe getragen wird, sind in diesem Buch eh seltsam verhuschte Wesen, die wenig bis nichts zur Erkenntnis beizutragen haben. Sie kommen kaum vor. Umso wesentlicher wird die Figur Martin, ein Bruder des Großvaters. Zwar gab es da auch noch zwei andere, die jedoch tragen ebenfalls – den Frauen ähnlich – wenig bis nichts zur Erhellung der Familiengeschichte bei. Nein, es ist Martin, durch den das Portrait dieser Familie nicht nur die nötige Weite, sondern auch die nötige Tiefe erhält. Martin, der seinem Bruder Friedrich diametral entgegensteht und der dann nach dem Krieg in die DDR geht, an ein besseres Deutschland glaubend, während der ideologisch geschlagene Bruder als Demokratieverächter unauffällig genau in jenem Staat lebte, dessen System er so verachtet. Der Autor kannte beide Männer nur flüchtig, an beide erinnert er sich nur schwach. Dennoch spielen sie in seinem Buch die zentralen Rollen. Wie auch an anderen Stellen nähert er sich auch Martin eher elliptisch, erzählt von einer Fahrt mit seinem Vater nach Dresden in den 80er Jahren, um den Großonkel zu besuchen. Und auch dem unverbesserlichen, tief in seiner Ideologie aufgehenden Nazi-Großvater nähert sich der Autor auf Umwegen: In einem atemberaubenden Kapitel wird ein Text analysiert, den dieser mit seinen Söhnen gemeinsam geschrieben hat und mit dem er versuchen wollte, die Söhne in das eigene System völkischen und eugenetischen Rassenwahns mit einzubeziehen. Dies und ein weiterer Text, den er in der britischen Gefangenschaft schrieb, nutzt Leo, um diesen Mann auch gnadenlos zu entlarven, ja bloßzustellen. Er tut dies, indem er dessen Sprache entlarvt. Eine pathetisch-gehobene Sprache, die immerzu um Leerstellen kreist. Eine Sprache der Behauptungen.
Doch hat er für seinen Großvater und dessen Brüder immerhin noch Namen, der eigene Vater und dessen Geschwister erhalten lediglich Wortzifferkombinationen: W36, M41, M44 usw. Der Leser kann es sich nur mit der Bezeichnung „Weiblich“ und „Männlich“ sowie dem jeweiligen Geburtsjahr der betreffenden Person erklären. Leo schafft damit natürlich eine ironische Distanz zu dem Rassehygieniker, der sein Großvater ja war, allerdings ohne je zu erkennen zu geben, ob diese Bezeichnungen von ihm, Per Leo, stammen oder vom Großvater übernommen wurden.
Überhaupt scheint der Autor nicht zu hart urteilen zu wollen, eher spottet er über diesen seltsamen Ahnen, der einerseits das Gesicht der Familie prägte, andererseits so offensichtlich aus den Leo’schen Familientraditionen herausfiel, daß man ihn wahrscheinlich nur totschweigen oder aber nur spottend von ihm erzählen kann. Der Leser hat es hier mit einem ebenso intelligenten wie hintersinnigen, einem gebildeten und ausgreifenden Text zu tun, dessen Sprache allerdings an mancher Stelle ebenso verhüllt, distanziert, wie sie enthüllt und erklärt. Wir werden mitgenommen in die Traditionen des norddeutschen Protestantismus und seiner Eigenarten – auch der, früh zu Hitler und dessen Partei gefunden zu haben (so ungewöhnlich war dies dann nämlich eben doch nicht) – , die Geschichte der Familie Lange und der frühen deutschen Dampfschifffahrt wird uns nahegebracht. In diesen Momenten greift der Text weit aus und öffnet sich wie diese Landschaften des Nordens über dem Moor. Dann wieder wird er eng geführt und rückt sehr nah an die Protagonisten heran und es sind diese Passagen, denen manchmal ein sprachliches Versteckspiel zu eignen scheint. Da verschwindet gerade dieser Opa Friedrich ein wenig hinter den sprachlichen Gewändern, den Satzgirlanden und -gewinden. Es sind die einzigen Passagen, die den Leser nicht nur etwas ratlos zurücklassen, sondern auch ein wenig den Eindruck vermitteln, der Autor habe sich dann in letzter Konsequenz doch gescheut, eindeutig zu werden, zu urteilen. Doch wäre es kleinlich, dies zu bemängeln, gelingt hier doch gerade sprachlich Großartiges, traut sich da einer doch auch mal kompliziert zu schreiben, wo eine einfache Sprache zu Vereinfachungen führen würden, die dem Thema unangemessen sind. Hier werden keine Zugeständnisse an den Lesergeschmack gemacht, sondern angemessen von einem Thema – der Familie – gesprochen, das auch ohne die spezifischen historischen Verstrickungen schon ein Schwieriges ist, das immer eine genaue und differenzierende Sprache erfordert.
In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren war eine der immer stärker behandelten Fragen in der Literaturwissenschaft und im Feuilleton, wie von der deutschen Vergangenheit zu berichten sein wird, wenn die Augenzeugen aussterben, die Zeitzeugen nach und nach verstummen. Kann es neben der anhaltenden wissenschaftlichen Erforschung der Vergangenheit durch die Historiker, Mentalitätsforscher, Soziologen et al. ein Sprechen, ein Schreiben, ein Erzählen über den und vom Holocaust geben, das zwangsläufig von denen übernommen wird, die jene Jahre selber nicht erlebt haben? Eine Fiktionalisierung der Shoah? Einbindungen in Narrative, die möglicherweise gar nicht die Schrecknisse jener Zeit zum Gegenstand haben, sondern sie lediglich als atmosphärische Verdichtung oder historische Markierung nutzen? Das sind schon wesentliche Fragen. Per Leo hat mit einer Arbeit über Ludwig Klages, dessen „Graphologie“ und „Charakterologie“ und dem anhand dieser „Wissenschaften“ und Philosophien nachvollziehbaren Weg faschistoiden Gedankenguts in das Denken „gehobener“ Bürgerschichten und deren Weg in den deutschen Nationalsozialismus promoviert. Damit erweist er der immer weiter voranschreitenden, immer ausdifferenzierteren Vergangenheitsaufarbeitung und -bewältigung einen großen Dienst, gerade was die sich fortwährend neu aufdrängende Frage des „Wie konnte das (in den „besseren“ Kreisen) passieren?“ betrifft. Doch vielleicht erweist er der Sache einen noch viel wertvolleren Dienst, indem er mit FLUT UND BODEN eine Möglichkeit der erzählenden Bearbeitung aufzeigt, eine Möglichkeit jenseits von wissenschaftlicher Akkuratesse, jenseits der Fußnoten und Quellennachweise. Es ist eine Möglichkeit, sprachlich genau aber frei zu sein, sich den Menschen menschlich zu nähern, Blicke und Bilder ohne die oft so kalt erscheinende Äquidistanz der Wissenschaften zum Menschlich-Allzumenschlichen ihrer Betrachtungen. Wie ein persönlicher Begleittext zu einer Doktorarbeit, einem Begleittext auf außergewöhnlich hohem sprachlichen Niveau, mutet dieser Text manchmal an und es drängt sich der Gedanke auf, daß genau darin die eigentliche Aufgabe in der Zukunft liegen könnte: Der Erinnerung – wissenschaftlich – zu ihrem Recht zu verhelfen, zugleich aber das eigene Erinnern, die Erinnerungsarbeit, zum Gegenstand reflektierender Texte zu machen. Es ist die Ergänzung des einen zum andern, die Engführung eben, die das „gute Erinnern“ ausmacht. Es wird die Fiktionalisierungen geben – es gibt sie schon. Es ist dringend geboten, daß der Maßstab, das Niveau, auch der Ton der Fiktionalisierung an sich, von Autoren wie Per Leo gesetzt werden, allein schon deshalb, damit die Scharlatane besser zu erkennen sind. Doch sollte sich ein Thema wie dieses – sollte sich eigentlich jedwede Erinnerung – niemals unter Wert verkaufen. Es sind sprachlich anspruchsvolle, formal neue Wege und Perspektiven, die dieses theoriegesättigte, die Erinnerung aufstöbernde Schreiben sucht – und eröffnet. Das ist anstrengend. Das tut not. Tut gut.