MOOR
Die Sprache des Moors, der Blick der Libelle
Der dreizehnjährige Dion begegnet uns, der mit seiner Mutter im Moor irgendwo um Hamburg herum lebt, der Vater tot, von den Dorfbewohnern schief angesehen. Dion stottert, und zwar schwer. Er ist ein Kenner des Moores, er ist vor allem ein Kenner der Libellen und ihres Lebens, ihrer Fortpflanzung, ihrer Ernährung, ihres Zyklus, der etwa ein Jahr umfasst, inklusive des Larvenstadiums. Dion weiß um ihre Augen, die als Facettenaugen nicht nur die Welt tausendfach fragmentiert sehen, sondern auch eine vollkommen andere Zeitwahrnehmung suggerieren. Und so wird das Buch formal gestaltet von diesen Parametern: Zeit und Blickwinkel können sich ununterbrochen ändern, neu ausrichten, gedehnt oder verdichtet werden. Dion, so erfahren wir anfangs des Buches, soll ein Referat über diese Insekten halten und er weiß, daß er es nicht wird halten können, aufgrund seiner Sprachstörung. Und als er vor der Klasse Tanja trifft, die unter Osteogenesis imperfecta – also der Glasknochenkrankheit – leidet, weiß diese schon aus seinem Blick, daß er die Schule fliehen wird. Und seine Mutter, die ununterbrochen mit dem eigenen, verpfuschten Leben als nicht anerkannte Künstlerin beschäftigt ist, wird ihm keine Hilfe sein.
Wer je William Faulkners THE SOUND AND THE FURY las, weiß, wie es ist, wenn man als Leser in eine Sprachsuppe geschmissen wird, die über nahezu einhundert Seiten sich nicht an Chronologie, Zeiten, Zeitabläufe oder auch nur daran hält, wer spricht und zu wem. In Gunther Geltingers Roman MOOR werden wir auf den ersten (und vielleicht doch entscheidenden) Zweihundert Seiten mit genau einer solchen Sprachsuppe konfrontiert.
Die Unterteilung des Buches verläuft in Herbst – Winter – Frühjahr – Sommer, also etwa einem Libellen-Lebenszyklus folgend, wobei das Auftaktkapitel „Herbst“ den Großteil der Erzählung einnimmt, wie auch das Larvenstadium den größten Teil des Lebens einer Libelle einnimmt. Die nachfolgenden Teile – etwas zugänglicher geschrieben – wie Fußnoten, Nachschübe, Epiloge wirken (und der abschließende, nur wenige Seiten umfassende Teil „Sommer“, auch wirklich nur noch als Epilog zu lesen ist). Jedes dieser Kapitel wird von einer zentralen Szene bestimmt, wobei es, wie im ersten, lediglich der morgendliche Badegang der Mutter im Moorteich sein kann, den Dion begleitet. Aus der geschilderten Szene leiten sich dann lange Gedankengänge, Reflektionen, Erinnerungen und Beschreibungen ab, die uns weit und tief in das Beziehungsgeflecht dieser beiden – Mutter und Sohn – hineinführen, und je tiefer wir dort hineingezogen werden, desto mehr verlieren wir den Grund unter den Füßen, gerade so, als suchten wir uns einen Weg durch sumpfiges, morastiges Gelände. Und sumpfig-morastig ist das, worauf wir stoßen allemal. Da wird uns berichtet von einer Dorfgemeinschaft, in der Außenseiter wenig zu lachen haben, berichtet wird uns in raunendem Ton von einer Mutter-Sohn-Beziehung, die durchaus bis ans Inzestuöse heranreicht, berichtet wird uns, wie Verletzte und Beschädigte auch in ihrer Verletztheit und der Beschädigung nicht bereit sind, einen menschlichen Blick auf die anderen zu richten. Fast jeder hier schaut auf andere nur aus dem Blickwinkel dessen, der Bestätigung sucht, oder einen Moment der Ablenkung, ein Spiel oder Anerkennung. Und mitten in diesen Dramen der Wirklichkeit, des Alltags, versucht Dion, erwachsen zu werden, versucht zu verstehen, was mit ihm geschieht, versucht seine Träume und Wünsche (einmal richtig sprechen, einmal eine richtige Familie, einmal eine verlässliche Mutter) im Zaum zu halten. Und sich seiner Sexualität bewußt zu werden, die sich einerseits auf die zerbrechliche Tanja fokussiert, andererseits auf seinen Cousin Hannes, der diese Tanja freien darf. Und die eigentlich Besitz seiner Mutter ist, die ihn wieder und wieder malt – nackt, anstelle eines Genitals eine aufragende Libelle – ihn verführt, berührt und damit auch versucht, eine Unschuld wieder zu erlangen, die ihr der Job in einem „besseren“ Bordell im Hamburger Rotlichtbezirk aufs Grausamste längst genommen hat.
Dion will uns berichten und wir erfahren lapidar von einer viel älteren Mutter in einem der späteren Kapitel, daß ihm das in einem Buch, also im Schriftlichen, auch gelungen ist. Doch um uns, den Lesern dieses Buchs, von seinem Leben zu erzählen, überantwortet er die Sprache einem vermeintlich „objektiven“ Erzähler, einem Erzähler, der daliegt, ewiglich, unbeeindruckt von allem, was um ihn herum oder gar IN ihm passiert – dem Moor. Und das Moor ist ein Erzähler ohne Gnade, Mitgefühl oder zeitlicher Auffassung. Das Moor erzählt alles und alles zugleich, denn in ihm sind die Dinge meist in Sedimenten übereinander gelagert, nicht nach- oder hintereinander. So hat man es als Leser hier mit einem Textkonvolut zu tun, das sperrig ist, wenig Interesse an einer spannenden Geschichte oder einzelnen Szenen, gar Dialogen hätte, sondern das teils assoziativ, springend, teils sich ergänzend in zeitlich weitauseinanderliegenden Begebenheiten berichtet, distanziert gegenüber den geschilderten Schicksalen und letztendlich auf einen Kulminationspunkt hinauslaufend, der wahrscheinlich seit Mitte des Buches feststeht und unumgänglich gewesen sein wird. Doch ist es diesem Textgewinde weniger um Story, Charaktere oder Szenerie zu tun, mehr um Atmosphäre und ein Gespür für die Landschaft, sowohl die des Moors selbst, als auch die inneren Landschaften dieser darin Lebenden, ihr Leben Fristenden.
In diesen Beschreibungen, so der zunehmende Eindruck während der Lektüre, sind das eigentliche Thema dieses Buches. Sprachlich in das scheinbar Un- oder Vorsprachliche vorzudringen, sprachlich das Blubbern des sämigen Moorwassers, das Aufsteigen der Sumpfgase, das Schwirren der Insekten, sprachlich die Stille über der sumpfigen Weite zu erfassen – das sind die Anliegen dieses Buches. Man muß sich einlassen auf diesen Text, er ist schwierig, er ist sperrig, er ist das Erzählte, er offenbart wenig Geheinisse, wenig Plot, keine Spannung. Er legt sich selber offen, Seite für Seite, Zeile für Zeile, Wort für Wort.
Trägt das? In den deutschen Feuilletons tobte im Winter und Frühjahr 2014 ein Streit darüber, wie deutsche Literatur sei – nämlich provinziell, mittelständisch, ohne echte Relevanz – und wie sie sein sollte – nämlich politisch, gegenwartsbezogen und eben dies: relevant. Geltingers Text ist sicherlich ein umfangreiches Argument für jene, wie Maxim Biller, die die Gegenwartsliteratur als selbstverliebt angreifen. Hier ist sich die Sprache genug, hier wird wenig Bezug genommen auf irgendeine Wirklichkeit (anhand einiger Textmarkierungen wissen wir zumindest, daß dies alles VOR der Einführung des Euro spielt, das ist allerdings vollkommen irrelevant für das Verständnis des Textes). Dafür raunt und wispert diese Sprache oft genug und läßt uns natürlich an Droste-Hülshoffs DER KNABE IM MOOR denken und daran, daß Moor, Sumpf und Heide dem Menschen schon immer eine Heidenangst eingejagt haben. Daß da immer etwas unter der Oberfläche schlummert, das wir nicht greifen können, daß uns immer etwas bedroht, immer und jederzeit an die Oberfläche stoßen und uns mit einer Vergangenheit oder Teilen unserer selbst konfrontieren kann, die wir lieber versteckt gehalten hätten. Das Moor wird uns so oder so zu einer perfekten Metapher, vielleicht gerade für jene Jahre der Adoleszenz, die uns schrecklich und bedrückend anmuten, und in denen wir uns entpuppen, wie Larven im Moor. Doch muß man auch kritisch genug sein und anmerken, daß das alles eben nicht über 440 Seiten trägt. Irgendwann merkt der Leser, daß auch diese Figuren eben Probleme haben, wie wir sie tausendfach kennen, aus unserer Wirklichkeit ebenso, wie aus der Literatur. Und an dem Punkt, an dem der Leser dies gewärtigt, bekommt der Text ein Problem, denn mit einem Mal ist man sich nicht mehr so sicher, ob das hier eine besondere Form des Erzählens ist oder eine besonders raffinierte Form, zu verbergen, daß man eigentlich nicht viel zu erzählen hat? Doch bevor diese Frage zu drängend wird, hat einen schon der nächste Satz, die nächste gewundene Sprachverwicklung tiefer in das Geflecht des Unterholzes, die Stille des Moors, in den gesplitterten Blick der Libelle hineingezogen.