MEIN HERZ IST EINE KRÄHE/DIT DU GÅR, FÖLJER JAG
Ein für ein Debut zwar erstaunlich gelungener, aber eben doch auch zu überbordender Familienroman aus Schweden
Lina Nordquist scheint eine echte Tausendsassa zu sein: Außerordentliche Professorin für Physiologie, Diabetesforscherin und zudem auch noch seit 2018 Mitglied des schwedischen Parlaments. Und nebenbei schreibt sie einen Roman, der in ihrem Heimatland prompt zum Buch des Jahres erkoren wird. Vor so viel Talent und Willen zum Gelingen kann man nur in Ehrfurcht erschauern. Und traut sich kaum, Kritik zu üben. Und doch ist diese angebracht.
MEIN HERZ IST EINE KRÄHE (DIT DU GÅR, FÖLJER JAG, Original erschienen 2021; Dt. 2023) ist, das sei definitiv allen Anmerkungen vorausgeschickt, für ein Debut ein erstaunlich sicher komponiertes und souverän erzähltes Werk. Auf zwei Zeitebenen wird vom Schicksal einer Familie berichtet, die schier in Geheimnissen ertrinkt und aufgrund all des Verdrängten kaum mehr Luft zum Atmen findet.
Unni flieht mit ihrem Sohn Roar und ihrem Mann Armod, der den Jungen als sein Kind angenommen hat, Ende des 19. Jahrhunderts von Norwegen nach Schweden. Ihr droht das Gefängnis oder – schlimmer – die Heilanstalt, weil sie als Kräuterfrau angeblich für den Tod einiger werdender Mütter verantwortlich ist. Dieser frühe Teil der Geschichte wird aus ihrer Perspektive erzählt. Er umfasst ca. zwanzig Jahre, weit ins 20. Jahrhundert hinein; ein Zeitraum in dem Unni ihren Mann durch einen Unfall verliert, ein weiteres Kind durch ein Feuer und ihre kleinste Tochter weggibt, da sie sie nicht vor der Gewalt eines regelmäßig die Kate der kleinen Familie heimsuchenden Bauern schützen kann. Der Mann meint, ein sexuelles Anrecht auf Unni zu haben, da ihm das Haus gehört, in dem die Familie einst Unterschlupf fand. Ein Haus, das ausgerechnet ‚Frieden‘ heißt.
Im Jahr 1973 ist der einst junge Roar hoch betagt gestorben und seine Frau Bricken trauert gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter Kåra um ihn. Dieser Teil der Geschichte, der im Grunde nur in den Stunden spielt, in denen die beiden Frauen die Beerdigung vorbereiten, wird von dieser Schwiegertochter erzählt. In ihrer immer wieder weit ausschweifenden Erzählung spiegelt und bricht sich Vieles aus der früheren Geschichte von Unni. Auch Kåra ist einst geflohen – allerdings vor der Behandlung durch in den späten 40er und den 50er Jahren noch recht rohe Methoden psychologischer Therapien. Das Mädchen, das sie einmal gewesen ist, litt offenbar unter fürchterlichen Angststörungen und hat den jungen Dag, Sohn von Roar und Bricken, vor allem geheiratet, um dem elterlichen Zugriff und den damit verbundenen gesellschaftlichen Ansprüchen und Anforderungen zu entkommen.
Abwechselnd nun lässt Nordquist ihre beiden Erzählerinnen zu Wort kommen und man muss hier vor allem einräumen, dass es ihr tatsächlich gelingt, den beiden Frauen so unterschiedliche Erzählstimmen zu geben, dass sie tatsächlich eigenständig erscheinen und unverwechselbar in ihren jeweiligen Erzählpositionen. Das ist allerdings literarisch gekonnt und gibt dem Roman einen wirklich eigenständigen Charakter. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Stimme von Unni gelegentlich ins Pathos abgleitet – vor allem in den Naturbeschreibungen, die auch treffend und eindrucksvoll sind, dennoch aber allzu oft überhöht wirken – und sie sich dann doch der ein oder andern Metapher zu viel bedient. Wobei die Bilder, die dabei entstehen – die titelgebende Krähe ist nur eins davon und nicht das schlechteste – nicht immer treffend sind. Im Gegenteil, manches ist doch arg krumm und gewollt.
Auf der anderen Seite ist da die Stimme und die Erzählung von Kåra. Und da wird es kompliziert. Berichtet Unni uns vor allem von der Härte eines Lebens um die Jahrhundertwende in einem noch rückständigen, ruralen Teil des Landes, wo winters Hunger herrscht, wenn der Sommer nicht ergiebig genug gewesen ist, wo aber sogar im Sommer Hunger droht, wenn er zu trocken ist und eine Dürre herrscht, einem Landesteil, wo Menschen vom Mitleid und der Gunst anderer abhängig sind, wo Gewalt ein probates Mittel ist, sich zu nehmen, was man haben will, so berichtet Kåra vor allem von den Abgründen in der Familie. Und die haben es nicht nur in sich, sondern sie selbst steht im Mittelpunkt all des Schreckens, der diese Familie heimgesucht hat. Dadurch wird diese Frau natürlich nicht unbedingt sympathisch. Man will sie verstehen, will begreifen, wie groß der Schrecken gewesen sein muss, die Angst, die das Mädchen, das sie einst gewesen ist, befallen hat, um einen offenbar leicht degenerierten Mann zu heiraten, der, so wie zumindest sie ihn beschreibt, mit den allereinfachsten Bedürfnissen zu befriedigen ist. Essen und Sex, mehr scheint dieser Dag nie verlangt zu haben. Warum er zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters nicht mehr vorkommt, erschließt sich den Leser*innen dann auch erst im Laufe von Kåras Erzählung. Und nach und nach setzt sich also ein Bild zusammen, welches den ganzen Schrecken offenbart, der all diesen Menschen in den Knochen steckt. Denn als auch Bricken – die letzten Seiten berichten dann doch noch von den Wochen und Monaten nach der Beerdigung Roars – langsam dahinschwindet, erfährt Kåra von deren Geheimnissen, die dann nicht weniger erstaunlich, wenn vielleicht auch nicht ganz so erschreckend sind, wie die der Jüngeren.
Dass dies ein düsteres Buch ist, das steht außer Frage und das können geneigte Leser*innen wissen, bevor sie es aufschlagen und die Lektüre beginnen. Und doch ist es so, dass die unbedingte Düsternis, die aus den Seiten dieses Romans aufsteigt, Leser*innen irgendwann gleichsam erdrückt. Man kann all das Unheil, das Pech, die Gewalt, die Schrecknisse und Fahrnisse kaum mehr ertragen, die einem hier begegnen. Sicher, es soll nichts beschönigt werden, und doch ist es irgendwann schwer, dem zu folgen. Und auch das muss angemerkt sein dürfen: So sehr Lina Nordquist sich hier anschicken mag, Frauenschicksale zu portraitieren – typisch müssen sie nicht sein. Zudem kreisen diese beiden Erzählerinnen ununterbrochen um einen Mann, der in der Erzählung seltsam abwesend wirkt. Dieser Roar, dessen Leben nicht einfach war, der auf Kåra eine unheimliche Anziehung ausübt, der Schwestern verliert und einen Sohn, der sein Leben lang in den Wäldern Schwedens gearbeitet hat und nie zu hinterfragen scheint, ob das wirklich alles ist, was ein Leben zu bieten hat, dieser Mann scheint nicht greifbar, eine wirkliche Vorstellung bekommen die Leser*innen nicht. Sicherlich eine – wenn nicht die – Schwachstelle des Buchs.
Letztlich wirkt das alles, zumindest auf den abschließenden 40, 50 Seiten dieses gut 453 Seiten starken Romans, dann doch zu konstruiert. Als müsse dem Publikum noch ein Schock und noch ein Schock geboten werden, als wäre es nie genug, als könne es nie düster, nie schwer, nie traurig genug sein. Irgendwann ist man dann nur noch froh, dass es vorbei ist. Dieses geschilderte Leben ebenso, wie der Roman. Es bleibt festzuhalten, dass Lina Nordquist neben all ihren anderen Talenten und Fähigkeiten ganz sicher auch eins für Sprache und für Erzählungen hat und man darf sicherlich auch gespannt sein, ob und wie ein Nachfolgeband literarisch gestaltet sein wird. In diesem Buch zumindest ist es dann doch von allem ein wenig zu viel.