SEHR GEEHRTE FRAU MINISTERIN

Lange grübelt das geneigte Publikum, womit man es in Ursula Krechels Roman SEHR GEEHRTE FRAU MINISTERIN (2025) eigentlich zu tun hat: Ist das wirklich ein Roman, eine kohärente Erzählung? Oder doch eher ein Langessay, unentschieden, in welche Richtung es gehen, was das Kernthema sein soll? Ist das eine Abhandlung über die optima mater, wie einst Nero seine Frau Mama, Agrippina, zu bezeichnen pflegte, also die gute, die beste, die vielleicht perfekte Mutter? So zumindest mutet die Themensetzung des Buchs an. Aber spielt nicht recht eigentlich die Sprache selbst hier die Hauptrolle? Oder ist das ein politischer Text, der sich hochaktuell mit der um sich greifenden Gewalt – nicht nur der physischen – unter besonderer Berücksichtigung jener gegen Frauen beschäftigt?

Nun, so viel ist sicher und kann erklärt werden: Es ist ein Roman. Wie das Cover uns ja bereits verrät. Es ist ein hintergründig und vielschichtig konzipierter Roman, der um alle oben aufgeführten und alle miteinander wesentliche Themen unserer Zeit herumschleicht, sie einkreist, sich ihnen manchmal gleichsam auf Samtpfoten nähert, scheinbar harmlos, und dann doch zupackend und verstörend, wenn die Leser*innen zu begreifen beginnen, wo das alles hinführt und wie die Erzählstränge, auch die eher abstrakten, ineinander verhakt sind, miteinander zusammenhängen.

So ist das eine große Thema des Romans tatsächlich die Mutterschaft. Und zwar in vielerlei Facetten, von der tatsächlichen Mutter zur Nicht-Mutter, also der kinderlosen Frau (ob gewollt oder ungewollt…) als Negation, aber auch der Mutterschaft als metaphorischem Begriff: Der Mutter aller Krisen, aller Schlachten, der Autorin als Mutter ihrer Figuren und – womit die Metaebene des Romans direkt in seine Geschichte eingeschrieben wird – die Sprache als Mutter allen Seins. Denn ohne die Sprache…ja, ohne die Sprache womöglich keine Welt, nur reines Signifikat, ohne Begrifflichkeit. Pures Sein, womöglich.

Eva Patarak, Verkäuferin in einem Geschäft für alle möglichen Kräuter und andere Naturheilmittel, leidet darunter, dass ihr mittlerweile erwachsener Sohn, der immer noch die Wohnung mit ihr teilt, die Kommunikation verweigert. Er sitzt in seinem Zimmer vor seinem Rechner und entschwindet von dort in ferne, für Eva unbegreifliche Welten. Je prekärer Evas Situation wird – eine Kündigung droht und die mittelalte Frau fühlt sich durch ein gnadenloses System kapitalistischer Ausbeutung und ökonomischer Verdrängung bedroht – desto stärker befällt sie eine (mögliche) Paranoia. Denn wiederholt betritt die „Frau mit der roten Mütze“ den Laden, selbst offenbar Opfer einer schweren (Krebs)Erkrankung, und kauft mal, mal auch wieder nicht. Mehr und mehr beschleicht Eva Patarak das Gefühl, dass diese Frau, die auch noch im selben Viertel in Essen lebt wie die Pataraks, dass die sie beobachtet, ja sogar mit dem Gedanken spielt, sie zu objektivieren, indem sie über sie und ihren Sohn schreibt. Eva richtet einen Brief an die Ministerin der Justiz, in dem sie sich darüber beschwert, das Recht am eigenen Leben verloren zu haben, wenn irgendjemand einfach über sie schreiben dürfe.

Allerdings richtet sie ihre Beschwerde auch an die Autorin, die ihrerseits zwar als Ich-Erzählerin als eindeutig diesem Text zugehörige Figur auftritt und dann doch wieder nicht so leicht von der Autorin zu trennen ist. Ganz gelegentlich und auch nur an einigen wenigen Stellen des Buchs nämlich wird das „Ich“, welches die subjektive Stimme der Erzählerin markiert, komplett uneindeutig, könnte eben doch auch mit diesem „Ich“ Ursula Krechel selbst sich in den Text einschreiben (was sie als Autorin ja so oder so ununterbrochen tut). Denn Frau Patarak beschwert sich darüber, eine Figur in einem Roman zu sein. Und damit ist die Grenze zwischen dem geschlossenen (?) Raum der Buchseite, der Fiktion (?), und der Realität einer Schreibenden eingerissen und die Ebenen durchkreuzen einander, durchmischen sich und unterlaufen die jeweils anderen. Nichts in der Erzählung hat mehr festen Boden in diesen Abschnitten und das Lesen wird zum Abenteuer, müssen die Leser*innen doch auf ihren literarischen Instinkt vertrauen, da ihnen keine Sicherheit mehr geboten ist.

Das also ist die Ausgangssituation dieses Textes, der allerdings immer wieder von langen Passagen über Agrippina und ihr Verhältnis zu Nero, ihrem Sohn, sowie ihrer historischen Stellung in der Geschichte (und Mythologie) des antiken Roms unter- oder durchbrochen wird. Kaum stehen die unterschiedlichen Erzählstränge zueinander in Beziehung. Noch nicht. Diese Passagen scheinen aber zum Lesenden hin gerichtet bereits eine ganz eigene Sprache zu sprechen, sie sind keine nackten Tatsachenberichte, keine Referate über historische Figuren, die aber neben ihrer Historizität bereits den Status des Mythischen erreicht haben. Es sind durchaus interpretierende, wenn auch nüchtern-sachlich dargelegte Auseinandersetzungen mit einer Frau in ihrer Zeit, die Frauen wenig zu bieten hatte, erst recht keine Freiheit oder Gerechtigkeit. Es sind also durchaus wertende, sogar emotionalisierte und emotionalisierende Berichte aus einer lang vergangenen Zeit, uns Heutigen aber dennoch seltsam vertraut und nah.

Wenn schließlich im zweiten von drei Teilen des Buchs mit Silke Aschauer als plötzlicher Ich-Erzählerin die „Frau mit der roten Mütze“ auftritt und ihren Status als Geheimnis aufgibt, vielmehr eröffnet, dass sie die eigentlich Erzählende hier ist, die auktoriale (?) Stimme in einem doch subjektiven Text, eine Lateinlehrerin, die, kinderlos und mittlerweile nach einem operativen Eingriff und einer Chemotherapie (rote Mütze) auch fürderhin keine Mutter, wird das thematische Spektrum des Romans noch einmal erweitert. Sie ist es, die das Lateinische in seiner abstrakten Ordnung liebt, geradezu verehrt und ihren Schülern unter anderem mit der Lektüre des Historikers Tacitus nahezubringen versucht. Mit ganz unterschiedlichen, gelegentlich verheerenden Resultaten. Denn nicht nur das Lateinische, die lateinische Sprache ist es, die die Lehrerin vermittelt, sondern mit deren inhärenten Abstraktionsgrad ein Gefühl für die Ordnung der Dinge in einer chaotischen Welt. Und damit tritt die eigentlich „beste“, die optimale Mutter auf den Plan, jene Mutter, ohne welche nichts wird möglich sein können, nicht in der Vergangenheit, nicht im Präsens und erst recht nicht in einer wie auch immer gearteten Zukunft: Die Sprache.

Denn gleich ob Mythos, Legende oder Sage, ob Roman, Novelle oder Kurzgeschichte, ob Ballade oder Gedicht, ob Gesetzestext oder Gebrauchsanweisung oder aber – seit es die monotheistischen Religionen gibt – das Wort Gottes: Es ist immer, gleich ob gesprochen oder niedergeschrieben (wobei uns die moderne Philosophie lehrt, dass das eine im anderen aufgeht), die Sprache, die allem vorangestellt ist. Ohne Sprache – der Mutter von allem sozusagen – gibt es keine Welt, gibt es nur eine Ding-Wahrnehmung, sind wir frei flottierende Objekte in einem mit Objekten gefüllten Raum. Ein Raum, der dann nicht einmal als Welt zu bezeichnen oder gar zu erfahren ist, weil schon der Begriff „Welt“ nicht existent wäre.

Eine bedenkenswerte aber auch kritisch zu hinterfragende These.

Doch Silke Aschauer, die eine Meisterin der Sprache ist, die vielleicht ein Pseudonym ist, hinter dem sich eine Autorin namens Ursula Krechel versteckt, Silke Aschauer, die die Grammatik des Lateinischen so leicht beherrscht und daraus die Schönheit abstrakter Systeme – die alle phonetischen Sprachsysteme letztlich sind – ableitet und mehr noch: erklären kann, Silke Aschauer versteht es perfekt – optima – diese These glaubhaft zu vertreten ohne dies in diesem Roman je explizit zu tun. Denn sie schreibt. Doch was Wunder: Mag die Autorin sich auch als Mutter des Textes fühlen, im Begriff, die Figuren zu verschieben, sie zu verstehen, zu durchdringen und zu erklären, in ihren Köpfen wie in ihren Herzen zuhause zu sein, ist sie also eine Göttin, ein mythisches Wesen, dass souverän über das Material herrschen mag – was, wenn die Figuren aufbegehren? Nicht nur per Brief an die Ministerin, sondern ganz eindeutig und in regelrechter Selbstermächtigung, gleichsam in einem Akt der Subjektwerdung sich an die Autorin wendend? Wie es eben Eva Patarak bitter und bittend tut, wenn sie und Silke Aschauer spät im Roman ein letztes Mal aufeinandertreffen. Und erneut die Erzähl(er)ebene selbst prekär wird – für Silke Aschauer, für die Autorin, vor allem aber für die Leser*innen.

Spätestens an dieser Stelle überführt sich die Erzählung des Romans selbst auf eine Metaebene und sehr bewusst scheint es so, dass die Leser*innen nicht mehr eindeutig zwischen den Ebenen des Erzählten, der Erzählenden und der reellen Autorin Krechel werden unterscheiden können. An dieser Stelle tritt allerdings auch die dritte thematische Ebene des Romans deutlich hervor: Die der Gewalt. Gewalt, die an Frauen verübt wird, Gewalt, die Frauen empfinden. Gewalt durch die Position, die Frauen gesellschaftlich, kulturell und vor allem ökonomisch einnehmen. Einnehmen? Nein, es geht um Positionen, die ihnen zugewiesen werden. Und es geht um Gewalt, die in der Sprache angelegt ist, dort virulent wird und als Reelles ans Tageslicht tritt, manchmal mit ebenfalls verheerenden Folgen. Denn was, wenn wir mit Gewalt Geschichten eingeschrieben werden, die nicht unsere sind und in die wir vielleicht auch nicht eingeschrieben, deren Teil wir nicht sein werden wollen?

Krechel braucht kein Drama, um ihre Anliegen zu vermitteln. Die Gewalt hier ist Gewalt, wie sie all-täglich geschieht und wie sie oftmals gar nicht als solche wahrgenommen wird, außer von denen, die sie erfahren, denen sie widerfährt: Die ökonomische Gewalt, die von einer drohenden Kündigung ausgeht; die Gewalt durch kommunikative Verweigerung; die unfassbare und dadurch umso bedrohlichere Gewalt, die vom eigenen Körper ausgehen kann, der sich gegen sich selbst und damit das Subjekt richtet, das er beherbergt; die Gewalt, der wir ausgeliefert sind, wenn uns die Sicherheit entzogen wird, derer wir uns eigentlich sicher waren, bspw. wenn unser Beruf in Frage gestellt wird, mehr aber, wenn wir, als Person, eben als Subjekt, in Frage gestellt werden.

Das geschieht Silke Aschauer, als eine zürnende Mutter ihre Lehrmethoden in Frage stellt. Denn Silke Aschauer kapriziert sich im Lateinunterricht eben nicht auf das Abfragen von Deklinationen und das Konjungieren von Verben, sondern sie müht sich, den Unterricht lebendig zu gestalten, ihren Schülern den Gegenstand dessen, womit sie arbeiten – Tacitus und dessen Geschichte Roms – lebensnah vor Augen zu führen. Und die Wirklichkeit des alten Roms war oftmals eine grausame. In diesen Momenten ist die Gewalt nah, sehr nah. Und zugleich wird sie auch mythisiert. Wenn aber, wie im Falle der zürnenden Mutter, reale Gewalt Teil der Familiengeschichte ist, dann gerät nicht nur die Lehrerin in einen Konflikt, dann gerät die Wirklichkeit in einen Konflikt mit sich selbst, dann geraten verschiedene Lebenswirklichkeiten, miteinander in Konflikt. Dann ist die scheinbar so weit entfernte, so unfassbare Gewalt eines fremden Kontinents plötzlich ganz an und mitten unter uns. Mitten in einem Klassenraum in einer deutschen Schule. Und dann wird es schwierig, dann stecken alle Beteiligten in einem Dilemma.

Die reale Gewalt, die offensichtlichste Gewalt, die es gibt, die physische Gewalt, die in den alten Texten der Lateiner schon anklingt, wenn sie nicht geradezu genüsslich ausgebreitet wird, diese Gewalt, die in der Geschichte der zürnenden Mutter in die gegenwärtige Wirklichkeit eindringt, wenn auch auf Umwegen, die wird im letzten Abschnitt des Romans virulent, wenn die Ministerin, die schon allerlei bedrohliche Briefe und Mails erhalten hat, Opfer eines direkten Angriffs wird – ironischerweise (?) in jenem Moment, als sie als Privatperson, als Mutter nämlich, versucht, ihren Sohn vor Ungemach zu schützen. In diesem Moment tritt der Sohn von Eva Patarak – ebenfalls erstmals als Subjekt – aus der Kulisse (des Romans), zückt ein Messer und…den Rest kennen die Lesenden aus den täglichen Nachrichten. Aus der nüchternen Sprache der Berichterstattung.

Der Kreis schließt sich, die Erzählung kehrt zu sich selbst zurück, die unterschiedlichen Ebenen und Regionen dieses Texts werden deckungsgleich, die Sprache – eine wunderschöne übrigens – und mit ihr, durch sie die Erzählung kommen zu sich selbst, geben ihre innere Konstruktionen preis, legen sie offen. Die Leser*innen ihrerseits müssen den Schock verkraften, den die sich – auf Samtpfoten? – schleichend nähernde Erkenntnis bedeutet, die sich plötzlich mit einem dissonanten Akkord in die Lektüre einzufräsen beginnt. Ursula Krechel findet dafür eine seltsam nüchterne, manchmal schmerzlich sachliche Sprache, die zugleich eine eigene Poesie entfaltet. Es ist eine Sprache, die sich ihrer stilistischen Mittel vollkommen sicher ist, die aber immer wieder den Rahmen der Erzählung sprengt, immer wieder bereit ist, über Grenzen und damit Risiken einzugehen. Unter anderem das Risiko, unverstanden zu bleiben. Denn nicht alles hier glückt. Manches ist zu viel Wagnis, greift zu weit hinaus aus dem Kontext der Erzählung und verweigert dann entweder den Anschluss oder aber findet ihn nicht mehr; manches verheddert sich auch mit sich selbst (gerade wenn es um den Werdegang der Ministerin geht und sie gleich zweimal in die Partei einzutreten scheint), man sucht und sucht nach dem richtigen Zusammenschluss und zweifelt mal am eigenen Lesevermögen, mal am Lektorat, mal am Willen der Autorin, im Nachvollziehbaren zu bleiben.

Gleichwohl – SEHR GEEHRTE FRAU MINSTERIN ist ein großer Wurf, ein aufwühlendes Buch, gerade weil es nicht auf die große Geste, das Drama, gar Pathos oder überbordende Leidenschaften setzt, sondern als so leise, so alltäglich, fast trivial daherkommt, dass es den Leser*innen lange nicht gelingen mag, mit sich selbst übereinzukommen, womit sie es hier eigentlich zu tun haben. Was ja letztlich auch gar keine Rolle spielt, ist man doch längst im Sog dieser Sprache und der durch sie vermittelten Erzählung.

 

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.