DIE SCHAM/LA HONTE

Annie Ernaux nimmt ein zentrales Ereignis ihrer Jugend und entwickelt eine Studie ihrer Familie, ihres Milieus, letztlich ihrer selbst

Sie sei eine „Ethnologin ihrer selbst“ hat Annie Ermaux einmal gesagt. Und auch in DIE SCHAM (Original: LA HONTE; erschienen 1997, 2020 ins Deutsche übersetzt von Sonja Finck) bleibt die französische Schriftstellerin sich und ihrer Maxime treu. Einmal mehr unterzieht sie sich einer gnadenlosen Erinnerungsarbeit, seziert das Mädchen, das sie einst war und die Umwelt, die sie erlebte und die sie prägte. Dabei immer zugleich reflektierend, wie die Erinnerung arbeitet, wie der eigene Zugang zu den Erinnerungen sich definiert, wie sehr die Gefühle von einst von den Gefühlen der Reflektierenden überlagert werden, bzw. das Gegenteil: Wie wenig die einst gefühlten Gefühle die Reflektierende noch erreichen.

Anders als in Werken wie EINE FRAU (1988) oder DIE JAHRE (2008) ist es in diesem Fall ein einzelnes Ereignis ihrer Kindheit, das den Fluchtpunkt ihrer Überlegungen bildet. An einem Junisonntag im Jahr 1952 versuchte ihr Vater, ein Lebensmittelhändler und Krämer, die Mutter umzubringen. Ein Affekt? Eine kurzzeitige Psychose? Ernaux weiß es nicht – und da anschließend nie mehr in der Familie über das Ereignis geredet wurde, konnte sie es auch nie mit Sicherheit in Erfahrung bringen. Die Familie ging später am gleichen Tag radeln, lebte weiter wie zuvor, der Vater starb Jahre später. Es sei, so die Autorin, das „erste präzise und eindeutige Datum“ ihrer Kindheit gewesen. Davor sei alles eine immergleiche Abfolge von Tagen gewesen.

In kurzen, skizzenartigen Beschreibungen erfasst Ernaux das Milieu der Kleinstadt Y. (Yvetot), dem sie entstammt. Ebenso die allgemeingültigen Bedingungen des Lebens in den Nachkriegsjahren – die Sprache, die Redewendungen, die moralischen Ansichten, die „man“ hegte und zu vertreten hatte – als auch die Spezifika ihrer Familie – der Aufstieg vom „einfachen“ Arbeiter zum bescheidenen Mittelständler, der Besuch der katholischen Internats als „Heimschlafende“ – werden untersucht; eingebettet dies alles in eine kollektive Erinnerung an diese Zeit: Die Chansons, die im Radio liefen, die Quizsendungen, die Magazine und die Werbung als Markierungen einer lange vergangenen Zeit, eines abgeschlossenen Zeitraums, in den die erwachsene Annie Ernaux  eindringen, in den sie sich zurückversetzen will. Und es doch kaum schafft.

Die Arbeit in den Werken Annie Ernaux´ ist immer eine doppelte: Es ist der Versuch einer exakten Erzählung, immer nüchtern, was, wie sie an einer Stelle anmerkt, dazu führt, daß sie niemals ein Freund der Metapher sein, nicht einmal einen eigenen klaren Stil entwickeln werde (worüber sich allerdings streiten ließe). Zugleich ist es aber auch immer eine Reflektion darüber, wie man schreibend in die Erinnerung vordringt, wie wenig man zugleich aber zu sich selbst gelangt. Je genauer ihre Beschreibungen des Elternhauses, ihrer Umgebung, der Schule und der teils äußerst rigiden Methoden und Bedingungen, die gerade dort herrschten, desto fremder ist sie sich selbst. Die Erwachsene, die Studierte, die in Paris Lebende, die ihrem Milieu so weit entwachsen zu sein scheint, findet sich selbst auch als Entrückte, als Entwurzelte, die keinen Zugang mehr zu ihrer eigenen Geschichte findet. Und damit auch nicht zu den eigenen Emotionen. Sie braucht die „äußeren“ Merkmale – die Werbungen und Quizsendungen, die Romane, die sie als Kind gelesen hat – um sich ihren damaligen Gefühlswelten wieder anzunähern – und erreicht sie eben doch nie. Es bleiben Entäußerungen. Keine Aneignungen.

Und doch – oder gerade deshalb? – gelingen Ernaux äußerst exakte Schilderungen einer Zeit, die für sie und uns, ihre Leser, immer weiter entfernt, zurück liegt. Die Untersuchung ihres eigenen Lebens wird so auch zu einer Untersuchung, einer Studie jener Jahre nach dem Krieg, als die Schatten der Katastrophe noch deutlich spürbar, die europäischen Gesellschaften jedoch mit aller Macht darum bemüht waren, aus diesen Schatten  herauszutreten. Daß dabei die Erinnerung an die Schrecken des Krieges und der Besatzung verdrängt wurden, daß die Moderne mit ihren Neuerungen – Tütensuppen, Waschmittel aus Eimern – begrüßt wurde, das macht Ernaux nicht nur sichtbar, sondern auch spürbar, auf seltsam zurückhaltende, fast defensive Weise.

Die – auch im Original – titelgebende Scham entsteht bei der jungen Annie Ernaux durch eine Reise mit dem Vater in den Wallfahrtsort Lourdes. Entgegen früherer Reisen bleibt die Mutter diesmal daheim, reist das junge Mädchen nicht in einer Gruppe, sondern privat. Und trifft – auch aufgrund des eher pragmatischen Verhältnisses des Vaters zur Religion – erstmals auf Entwürfe eines anderen, vielleicht moderneren Lebens. Als sie mit dem Vater abends im Hotel schweigend das Essen zu sich nimmt, beobachtet sie ein anderes Vater-Tochter-Paar, das sich angeregt unterhält. Langsam, sehr langsam, begreift die junge Annie, daß es eine Welt außerhalb ihres Milieus, außerhalb der Stadt, in der sie lebt, außerhalb der Sprachlosigkeit ihrer Familie gibt. Andere Welten, andere gesellschaftliche Zusammenhänge. Und daß in diesen Welten und Zusammenhängen andere Regeln, freiere Regeln gelten könnten.

Mag dieses Gefühl, diese Ahnung eines Mehr latent immer vorhanden gewesen, im homogenen Raum der Kleinstadt Y. aber durch die eigene Klasse, durch die Kirche und durch gesellschaftliche Zwänge eingehegt worden sein, wird dies nun akut. Der jungen Annie fällt auf, wie eng ihre Welt ist. Ihr fallen die alten Kleider, ihr fallen die alten Verhaltensweisen auf. Und ihr fällt auf, daß jenes Ereignis, dessen Zeugin sie wurde, wie ein Felsblock auf der Familie liegt. Es drückt sie nieder, es verhindert einen Aufbruch, eine Befreiung. Sie rekurriert auf den Mord an drei britischen Touristen im Jahr 1952, der in Frankreich große Aufmerksamkeit erregte, da unter den Opfern ein bekannter Ernährungswissenschaftler war, zugleich ein italienischstämmiger Bauer für den Mord verantwortlich gemacht wurde. Hier trafen vollkommen fremde Welten aufeinander: Die Moderne in Form von Tourismus – die Briten schliefen in einem Zelt am Wegesrand, was die junge Annie Ernaux in Staunen versetzt – und eine archaische, vormoderne Welt in Form des Mörders, der mit seiner Familie ein Leben am Rande der Gesellschaft führte, kaum des Französischen mächtig, abseits, eigenwillig, knorrig. Für die Autorin Ernaux ein Sinnbild für die Reibungsfläche zwischen Welten, die sich im Grunde nicht berühren können. Die Gewalt wirkt wie eine Katharsis, aber auch wie eine Zwangsläufigkeit.

So setzt die Scham also ein, als eine junge Frau begreift, daß ihre Familie möglicherweise weitaus mehr mit einem womöglich primitiven Lebensstil zu tun hat, denn mit der Welt, die das Radio vermittelt. Doch innerhalb ihres Textes – DIE SCHAM ist ein schmaler Band von gerade einmal 110 Seiten – setzt diese Hinwendung zur Scham ebenfalls spät ein, zwingend ist sie nicht. Vielleicht ist dies der einzige Schwachpunkt des Buches. Denn als Beobachtung ihrer selbst, die zu einer Beobachtung ihrer jugendlichen Welt wird, als Reflektion über das Reflektieren, funktioniert DIE SCHAM hervorragend. Die eher moralische Beurteilung des eigenen Elternhauses, der Unzulänglichkeiten ihres Milieus, wirkt zwar nicht gleich aufgesetzt, aber eben auch nicht folgerichtig, nicht zwingend.

Dennoch bleibt auch dieses Werk ein wesentlicher und wichtiger Baustein in der endlosen Selbstbefragung, die Annie Ernaux so konsequent, so kompromißlos und durchaus auch hart gegen sich selbst führt. Anders als die in den letzten Jahren so beliebten skandinavischen Alltagsbeschreibungen eines Karl Ove Knausgård oder Thomas Espedal, bleibt Ernaux defensiv, sehr viel nüchterner, braucht keinen theoretischen Überbau (der ihrem Schreiben aber immer immanent ist), sondern berichtet zunächst immer sachlich und distanziert. Das macht ihr Denken und Schreiben so genau und auch gefährlich, da ein jeder sich darin an irgendeinem Punkt wiederfinden wird.

Diese Literatur ist mit den herkömmlichen Kategorien kaum mehr zu fassen. Ist dies Belletristik? Wohl kaum. Ist es Soziologie? Vielleicht. Ganz sicher ist es aber ein äußerst konsequentes und wahrhaftiges Bekenntnis zu sich selbst, dem eigenen Sein, den eigenen Fehlern, den Unterlassungen und Gefühlen.

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