M. DER MANN DER VORSEHUNG/M. L´UOMO DELLA PROVVIDENZA
Der zweite Teil von Antonio Scuratis gewaltigem Faschismus-Epos
M. DER MANN DER VORSEHUNG (M. L´UOMO DELLA PROVVIDENZA, Original erschienen 2020; Dt. 2020) lautet der Titel des zweiten Bandes von Antonio Scuratis monumentaler Biographie des Duce del Fascismo, des „Führers des Faschismus“, Benito Mussolini, die tatsächlich nichts anderes ist als ein Epos der faschistischen Epoche Italiens. Ein Mammutunternehmen, das so langsam an sein Ende gelangt und das abschließend nur bewerten kann, wer tatsächlich alle Bände gelesen hat. Doch kann man jeden einzelnen Band nutzen, um auf bestimmte Elemente und Eigenarten in Scuratis Werk und seiner Herangehensweise hinzuweisen. Beispielsweise die Sprache, der sich der Autor befleißigt.
So findet Scurati bei aller Sprachgewalt, mit der er seine Geschichte erzählt, oftmals nicht den richtigen, den treffenden Ton, um seinem Sujet gerecht zu werden. Zumindest in einer historisch angemessenen, akkuraten Sprache. Zudem richtet er seinen Fokus zugleich auf alles und doch auf wenig wirklich Relevantes. Für den Sprachgebrauch kann man stellvertretend das M heranziehen, welches das Cover des Romans so irritierend eindrücklich prägt. Das nämlich nutzte schon der historische Faschismus, nutzte Mussolini – wie auch sein vielfach abgedrucktes Konterfei oder den Begriff DUCE – um mit diesem seinem Initial den absoluten Anspruch des „Führers des Faschismus“ auf Macht und den Gehorsam der andern zum Ausdruck zu bringen. Und hier nun nutzt es also auch der Verlag, um Aufmerksamkeit auf das Buch zu lenken. Wie mit dieser Nutzung des Buchstabens auf ähnliche Art und Weise, wie es Mussolini und die seinen selbst einst getan, so verwischt auch der Autor gelegentlich die sprachliche Trennschärfe zwischen Zitat, Paraphrase, Überspitzung und Satire. Man ist sich nie so wirklich sicher, wie stark er sich von seinem Gegenstand distanziert. Oder distanzieren möchte. Oder ob er im Grunde durch die übertriebene Nutzung von Pathos bei gleichzeitiger Beschreibung teils allzu banaler (Alltags)Details eine Farce aufziehen und den Gegenstand seiner Betrachtung schlicht der Lächerlichkeit preisgeben will.
Dies ist einer der zentralen Kritikpunkte an Scuratis gewaltigem Unternehmen, das nichtsdestotrotz von dem Versuch zeugt, sich der italienischen Geschichte auf künstlerischem und somit reflexivem Wege und somit auch ernsthaft zu nähern. Scurati greift dabei auch auf teils vulgäre Methoden zurück, um die eigene Haltung zu verdeutlichen, um Distanz herzustellen. Wie im ersten Teil des Projekts, unterteilt er auch hier, in Teil 2, das Buch in die einzelnen Jahre der faschistischen Herrschaft, hier nun beginnend mit dem Jahr 1925. Ein Jahr, das Mussolini mit fürchterlichen Magen-Darm-Problemen begrüßt, die offenbar Symptome eines Magengeschwürs sind. Aus dem Umstand, dass der Duce an starken Schmerzen leidet und dementsprechende Durchfälle erduldet und damit dauernd auf seine „beschissene“ Lage angespielt werden kann, die sich auch in seinem politischen Wirken niederschlägt und spiegelt, schlägt Scurati entsprechendes, oft etwas unappetitliches Kapital.
Doch wäre es ungerecht, nur diese Aspekte hervorzuheben und dabei außer Acht zu lassen, worum sich Scurati eben auch wirklich bemüht: Er liefert ein breites Panorama der Entwicklung des italienischen Faschismus, welches er, natürlich historisch gedeckt, eng an Mussolini und dessen Sicht auf die Welt, die Partei, die eigentlich eine Bewegung gewesen ist, und seine Wegbegleiter bindet. Scurati erzählt häufig aus Mussolinis Sicht, nimmt dessen Perspektive ein und doch gelingt ihm dann doch zu selten eine Engführung in dem Sinne, dass er einige wenige Themen und Begebenheiten zumindest in den Vordergrund stellt. Stattdessen wird hier nahezu jede historische Entwicklung (oder Nicht-Entwicklung) mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht und somit egalisiert. Die Leser*innen wissen nicht wirklich, worauf sie gesondert achten sollten.
Da trägt der Roman den Untertitel DER MANN DER VORSEHUNG, was eine direkte Anspielung auf eine Äußerung Papst Pius XI. ist, der Mussolini nach Abschluss und Ratifizierung der Lateranverträge zwischen dem italienischen Staat und dem Vatikan als solchen titulierte. Doch wird weder die Dramatik dieser Verhandlungen angemessen verdeutlicht, noch die historische Auswirkung, den diese Verträge für den Faschismus ebenso wie für die katholische Kirche gehabt haben. Gleiches gilt für die Rolle des italienischen Königs Viktor Emanuel III. Denn gerade dessen Wirken hat Mussolini nicht nur an die Macht gebracht und sein im Kern eigentlich antimonarchistisches, wenn auch systemisch absolutistisches Regime gestützt, sondern im Jahr 1943 auch dazu beigetragen, Mussolini zu stürzen. Diese Personalie wird im Roman zwar immer wieder erwähnt, doch wirkt es, als setze Scurati grundlegend voraus, dass seine Leser*innen um die historischen Fakten wissen, auch in deren Tiefe und Bedeutung. Dass er, sozusagen als Herrscher des Textes, nicht in der Bring-Pflicht stünde, sein Publikum noch gesondert auf die Tragweite gewisser Ereignisse und deren Entwicklungen hinzuweisen.
Man kann nun argumentieren, dass Scurati ja bewusst im Präsens erzählt, stilistisch also den Eindruck des Gegenwärtigen der Erzählung, des Berichteten erwecken will und somit die historische Perspektive gar nicht in sein Schreiben einbezogen werden soll. Doch stellt eine solche Betrachtung dann die ganze Herangehensweise, letztlich das Werk selbst in Frage. Denn warum sollte man vom historischen italienischen Faschismus erzählen, wenn man keine historische Perspektive einnehmen will? Will man wirklich Gegenwart simulieren, setzt man sich gerade bei einem solch hochspekulativen und auch sensiblen Thema tatsächlich eher unguten Verdächtigungen aus. Und selbst wenn dies Scuratis Kalkül gewesen sein sollte, inklusive der darin beinhalteten Ambivalenz gegenüber der Erzählhaltung: Die Rolle des Vatikans und die der Monarchie im Kontext des Faschismus und auch der Probleme, die beide Mussolinis Regime bereiteten, intellektuell, theoretisch und, mehr noch, tatsächlich und konkret im tagtäglichen Wirken, war auch den Zeitgenossen klar. Erst recht, wenn man bedenkt, dass Scurati so gut wie nie aus der Sicht des „kleinen Mannes“, der „einfachen Leute“ erzählt, sondern sehr bewusst aus der Sicht der Oberschicht, bzw. aus Sicht jener, die an Schalthebeln der Macht saßen und sehr genau um die Schwierigkeiten wussten, die das Regime, die Mussolini mit den politischen Entwicklungen und seinen Antagonisten hatte.
Scurati nutzt, wie in Teil 1 seiner Saga, auch hier wieder die Unterbrechung zwischen den einzelnen Kapiteln, die zumeist mit dem Namen dessen, der im folgenden Abschnitt auftritt und einer Orts- wie Zeitangabe überschrieben sind, um das fiktional Beschriebene mit Dokumenten, mit Quellen zu unterlegen und damit zu authentifizieren. Doch ist dies kein Sachbuch, ist dies keine Biographie, ist es keine historisch akkurate Analyse. Dies ist trotz aller Genauigkeit in den historischen Details ein Roman, der entsprechend auf literarische Mittel, auf einen literarischen Stil zurückgreift, im Sinne von Dramaturgie und Spannungsaufbau vielleicht sogar zurückgreifen muss. So gibt es – wie in Teil 1 der Reihe, wo diese Rolle vor allem Gabriele D´Annunzio ausfüllte – auch hier einen reellen Antagonisten. Es ist in diesem Falle Roberto Farinacci, ein Faschist der ersten Stunde, der vor allem für jenen Teil der faschistischen Bewegung stand, die genau das – Bewegung – sein und bleiben wollte. Er war das Idol jener, die für die Tat standen, wobei „Tat“ vor allem Gewalt meinte. Obwohl er innerhalb der Partei ein Gegner Mussolinis war, stellte dieser ihn nicht kalt, vielmehr fürchtete er ihn und unterstützte ihn 1925 – dem Einsetzen dieses Romans – dabei, Generalsekretär der Nationalen Faschistischen Partei zu werden. Trotz der auch ideologischen Konkurrenz gegenüber Mussolini, blieb Farinacci diesem gegenüber loyal bis zum bitteren Ende des faschistischen Regimes.
Es gelingt Scurati anhand einer solchen Figur (beileibe nicht der einzigen), die unterschiedlichen Strömungen mit ihren spezifischen Motiven und Ansprüchen innerhalb der Bewegung darzustellen, auch gelingt es dem Autor, aufzuzeigen, inwiefern der italienische Faschismus zwar totalitären Anspruch hatte, diesem aber im Grunde nie gerecht werden konnte. Zu stark die inneren und äußeren Widerstände und letztlich auch zu ausgeprägt Mussolinis Unwille, ein kohärentes ideologisches System zu entwickeln. Die „Tat“ war auch ihm immer näher als der theoretische Gedanke, wie zahlreiche historische Dokumente offizieller wie privater Natur bezeugen. Es wird hier somit auch deutlich, dass Mussolini mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht dem intellektuellen Anspruch genügte, den er sich selbst gern verlieh. Dem historischen italienischen Faschismus wurde aus historischer Perspektive immer wieder eine differenzierte Abgrenzung zum Nationalsozialismus oder auch zum Stalinismus attestiert, da er eben nicht deren totalitären Charakter aufwies. Den totalitären Anspruch durchaus, nur konnte dieser nie wirklich umgesetzt werden. Die faschistische Ideologie – also die historisch überlieferte faschistische Ideologie – war in vielerlei Hinsicht Stückwerk, erst recht da, wo sie auf das antike Rom rekurrierte und sich immer gern bediente, wo es zu passen schien. Aber auch in seinem zeitgenössischen politischen Anspruch war Mussolini flexibel, in gewisser Weise gar opportunistisch und immer bereit, sich an Gegebenheiten anzupassen. So, wie er einst als Sozialist gestartet war und schließlich als Faschist endete.
M. DER MANN DER VORSEHUNG ist im Umfang kaum geringer als sein Vorgänger, umfasst und beschreibt ca. sieben Jahre bis in den Oktober 1932 hinein. War der erste Band vor allem eine recht hermetische Beschreibung der inneren Vorgänge der faschistischen Bewegung sowie der innenpolitischen Vorgänge Italiens in den Jahren nach dem Große Krieg, so greift der zweite Teil über Italien hinaus. Und so führt uns Antonio Scurati nicht nur nach Nordafrika, wo unter dem Brigadegeneral Rodolfo Graziani die ersten, grauenerregenden Kolonialkriege des Regimes geführt wurden, u.a. mit dem Einsatz von Giftgas, sondern lässt nun auch einen österreichischen Gefreiten auftreten, der in der Folge Wegbegleiter, Epigone, dann Vorbild und schließlich Nemesis für Mussolini werden sollte: Adolf Hitler. Der Blick weitet sich, wird dadurch natürlich auch historisch immer ausgreifender.
Was nun bleibt Leser*innen dieses gewaltigen Werks? Sicher, man begreift, fast intuitiv, die Wirkmächtigkeit eines Mannes wie Benito Mussolini, auch wenn Scurati sich Mühe gibt, diesen Mann nicht zu verherrlichen – und dies auch nicht tut. Im Gegenteil, er holt ihn auf die einfache menschliche Ebene. Er ist bemüht, seine Wirkung nachvollziehbar zu machen, ist sich dabei aber eben nicht immer seiner Mittel sicher, wie eingangs bereits ausgeführt. So wird sein Text vor allem dann relevant, wenn man während der Lektüre die Parallelen zur Gegenwart erkennt. Wenn man sieht, wie Sprache zur Waffe wird, wie ein Autokrat immer agil bleiben und damit unfassbar bleiben muss, wie Gegner unmöglich gemacht, wie sie denunziert werden und, wenn das nicht hilft, mit Gewalt aus dem Weg geschafft werden[1]. Wie erst schleichend, dann immer deutlicher und schneller das bestehende politische System geschreddert und zerstört wird. Dies wird umso virulenter, da Mussolini, anders als bspw. der Generalísimo Franco in Spanien, eben nicht durch Bürgerkrieg und Putsch an die Macht gelangte, sondern, wie nach ihm eben auch Adolf Hitler, durch eine, wie auch immer geartete, demokratisch legitimierte Wahl. Anders als Hitler, musste Mussolini mit verschiedenen gesellschaftlichen, institutionellen Widerständen – der Kirche, einer zunächst wirklich starken sozialistischen/kommunistischen Partei, dem Monarchismus – zurechtkommen. Er konnte nicht den Staat übernehmen und gleichschalten, wie es den Nationalsozialisten in Deutschland vergleichsweise schnell gelang, sondern er musste lavieren, musste lange den Anschein einer Demokratie aufrechterhalten und immer wieder für Situationen sorgen, die es ihm erlaubten, offen und offensiv gegen das „verweichlichte“ demokratische System zu wettern.
Gerade darin liegt der erschreckende Mehrwert dieses Romans: Man erkennt die Analogien zu verschiedenen demokratischen Ländern der Gegenwart sowohl in Europa, wie auch in Übersee. Allein dafür muss man Antonio Scurati dankbar sein, denn es wird in der nahen Zukunft sehr, sehr wichtig sein, dass wir alle uns immer wieder vor Augen führen, mit welchen Mitteln, aber auch, mit welchen Zielen demokratische Systeme untergraben, angegriffen und letztlich zerstört werden sollen.
[1] Dabei – und das ist wahrlich ein Verdienst des Buchs – räumt Scurati gründlich mit dem Mythos auf, der italienische Faschismus sei weniger brutal, weniger gewalttätig als bspw. der deutsche Nationalsozialismus gewesen. Hier bleibt kein Spielraum für Interpretation oder gar Apologie. Scurati scheut sich nicht, sein Publikum mit teils drastischen Beschreibungen nicht nur des fürchterlichen Vorgehens der italienischen Truppen in Nordafrika zu konfrontieren, sondern beschreibt auch – gelegentlich bis an die Grenze des Erträglichen – wie Faschisten, wie die berüchtigten „Schwarzhemden“, mit politischen, aber auch mit kulturellen Gegnern umgegangen sind.