DAS GESCHENK DES MEERES/THE FISHERMAN´S GIFT
Ein erstaunlich souveräner Debut-Roman aus einem kalten Schottland der Jahrhundertwende
Im Winter 1900 bringt der Fischer Joseph ein Kind vom Strand in das kleine an der Nord-Ost-Küste Schottlands gelegene Dorf Skerry. Der Junge wird bald DAS GESCHENK DES MEERES (THE FISHERMAN´S GIFT, Original erschienen 2025; Dt. 2025), um den deutschen Titel von Julia R. Kellys Debutroman zur kürzest möglichen Zusammenfassung des Inhalts heranzuziehen. Ein „Geschenk des Meeres“ ist dieser Fund vor allem für die alternde Lehrerin Dorothy, deren Sohn Moses vor Jahren bei einem Sturm umkam und die der nun aufgefundene Junge sie stark an ihren eigenen erinnert. Nach anfänglichen Bedenken nimmt Dorothy ihn, ein Kind, das nicht spricht, sich scheinbar nicht erinnern kann, wer es eigentlich ist, bei sich auf und kümmert sich um ihn. Zumindest solange, bis der Winter das Dorf aus seinen Fängen entlässt und der Pfarrer Kontakt mit den übergeordneten Behörden aufnehmen und eine Anfrage wegen vermisster Kinder starten kann. Doch ebenso wie Dorothy sich um das Kind kümmert, kümmert sich dieses Kind um sie – denn seine pure Anwesenheit bricht lang verkrustete Narben auf, bringt Verdrängtes und Verschüttetes in Dorothy zum Vorschein. Darüber hinaus aber auch in Joseph, den eine alte, immer unterdrückte Liebe mit dieser Frau verbindet. Eine Liebe zu Dorothy, die vor so langer Zeit als junge Lehrerin in das Dorf kam, die dort nie wirklich angekommen ist, die angefeindet wurde und deren Anwesenheit zu Verwerfungen zwischen einigen der alteingesessenen Bewohner des Dorfes führte. Mehr und mehr wird die Anwesenheit des stummen Kindes zu einer Art Katharsis für das gesamte Dorf.
Kelly erzählt ihre Geschichte von Verlust und Trauer, von verpassten Chancen und nie offen eingestandener Liebe, von Feindschaften und von einem Leben am Rande einer Gesellschaft, die zutiefst geprägt ist von Puritanismus, gesellschaftlicher Etikette und moralinsaurer Voreingenommenheit auf zwei Zeitebenen. Mit JETZT sind die Abschnitte überschrieben, die – jeweils noch einmal in Unterkapitel unterteilt – in der Gegenwart des Jahres 1900 spielen, mit DAMALS sind jene markiert, die uns von den Jahren berichten, in denen Dorothy in Skerry eintraf, sich in Joseph verliebte und er sich in sie, und davon, wie mangelnde Kommunikation auf allen Ebenen dazu führt, dass niemand derer, die der Roman näher in Augenschein nimmt, ein glückliches Leben führen wird. Missverständnisse, falsch verstandene Rücksichtnahme, Intoleranz und Vorurteile damals und teils auch noch in der Gegenwart der Erzählung verhindern Annäherung und Verständnis, auch Mitleid füreinander. Die Autorin nutzt eine einfache, direkte Sprache, um von all den Verletzungen zu berichten, die diese Menschen sich gegenseitig und auch selbst zufügen. Die einen in Neid und Hass, die anderen, weil sie von falschen Schuldannahmen ausgehen. Und manchmal fließt beides in eins und sorgt für die fürchterlichsten Momente dieser an fürchterlichen Momenten nicht gerade armen Erzählung.
Vielleicht ist es gerade die scheinbar so einfache Sprache Kellys, die es ermöglicht, eine solche Geschichte frei von Kitsch und sogar frei von Melodramatik zu erzählen Stattdessen blickt die Autorin fast nüchtern auf eine Zeit, die für uns Heutige weit entfernt scheint. Wie selbstverständlich, wie nebenher erfasst Kelly in ihrer Erzählung nämlich, was es bedeutet, nicht nur in einer protestantischen, ja, tatsächlich puritanisch geprägten Gesellschaft zu leben, sondern dies auch noch unter der besonderen Bedingung des Fremd-Seins in einem abgelegenen, ländlichen Raum, wo ein jeder jeden zu kennen scheint und wo Mrs. Browns Krämerladen nicht nur den Mittelpunkt des (weiblichen) Gesellschaftslebens (das männliche spielt sich hauptsächlich in der Kneipe ab) darstellt, sondern auch die Tauschbörse des sozialen Kitts, des Klatschs und des Tratschs. Das Gerücht kann den sozialen Tod bedeuten. Und wenn man, wie Dorothy, aus der Stadt, aus dem viktorianisch geprägten Edinburgh, in ein Dorf kommt, in welchem die Umgangsformen noch eher primitiv, einfach, andere würden sagen: bodenständig sind, wo die Frauen bei ihren prügelnden Männern bleiben und dafür Sorge tragen, dass die Veilchen in ihren Gesichtern an den Morgen nach den besonders schlimmen Abenden nicht allzu deutlich sichtbar sind, wo die zukünftigen Ehen bei einem Whisky ausgehandelt werden, wo die einzige übergeordnete Instanz der Pfarrer ist, dann kann das Gerücht einen allzu schnell einholen, da es keine Korrektur kennt, niemand ihm Einhalt gebietet.
Dorothy gilt bald als hochnäsig, als eine, die sich für etwas Besseres hält – und nach und nach stellt sich der Eindruck ein, dass sie das vielleicht sogar ist. Also hochnäsig, jemand, der sich für etwas Besseres hält. Und vielleicht – und es ist ein weiterer Verdienst von Kellys Roman, eine solche Überlegung wie selbstverständlich in die Erzählung einfließen zu lassen – wird man ja genau so, wie die Mehrheit einen sieht. So, wie das Gerücht, das Vorurteil, das Ressentiment das Objekt seiner Betrachtung haben will. Mit der Zeit und in der Einsamkeit, die die Zeit mit sich bringt. Einsamkeit entsteht hier, weil sich Dorothy in einen Mann verliebt, der scheinbar schon vergeben ist – auch wenn er davon noch gar nichts weiß, nicht einmal ahnt. Einsamkeit entsteht, wenn man sich seine Gefühle nicht nur gegenüber dem oder der andern, sondern nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen kann. Oder eingestehen will. Einsamkeit entsteht, wenn man aus einem Haushalt kommt, wo eine übermächtige und durch und durch bürgerlich geprägte Mutter verhindert, dass man Zugang zum eigenen Ich erhält; und das heißt auch: Zur eigenen Sexualität. Einsamkeit entsteht, wenn man irgendwie nachgibt und einwilligt, einem vermeintlichen Willen zu folgen, den man lediglich unterstellt. Einsamkeit entsteht, wenn man ein Leben vergehen lässt, ohne den Mut zu finden, auch nur ein einziges Mal zu dem zu stehen, was man ist, was man empfindet.
All diese Dinge, diese Gefühle, all diese Beziehungen und Zusammenhänge lässt Kelly anhand des Auffindens dieses Kindes, das Dorothy so sehr an ihren eigenen Sohn erinnert, aufbrechen und akut werden. Und so haben es die Lesenden bald mit einem Versuch über die Trauer, einer Studie der viktorianischen Gesellschaft an ihren äußersten Rändern, einer Analyse menschlicher Gefühle unter den Bedingungen gesellschaftlich enger Konventionen zu tun. Aber auch mit einer eindrucksvollen Beschreibung des Lebens in einer vom Meer geprägten Landschaft, mit Naturbeschreibungen, die sich nahtlos in die nüchterne Sprache dieses Romans einfügen und doch eindrücklich und packend sind. Man liest das und man spürt den Wind und die Kälte, den peitschenden Wind und doch auch das Gefühl von Freiheit, das er mit sich bringen kann. In diese Betrachtungen schleichen sich dann sogar Momente jenes Außernatürlichen ein, jenes Aberglaubens, dem die Bewohner solch abgelegener Landstriche wie dem, in welchem Skerry liegt, noch anhingen im Jahr 1900. Von den „kleinen Völkern“ spricht Joseph, als er Dorothy vom Glauben an Feen, Trolle und Kobolde berichtet. Und die alten Lieder künden von den Kindern in den Wellen, die dort spielen und die Kinder des Landes locken und mit sich hinaustragen. Und für einen Moment, für ein einziges Kapitel, erlaubt Kelly sich die Idee, dass es eben diese gewesen sein könnten, die Moses einst mit sich genommen haben, ihm eine neue Heimat, ein ewiges Spiel dort gaben, wo die Wellen sich schäumend brechen.
Vielleicht lässt Kelly in all dem, das so ausweglos und oft auch festgefahren erscheint, ihren Figuren schließlich ein wenig zu viel Happyend zukommen, gibt ihnen dann doch mehr Raum, spätes Glück zu erhaschen, als ihnen aus realer historischer Sicht zukommen mag. Lediglich hier, auf den letzten Seiten, wenn der Winter sich zurückzieht und der Junge seine Eltern findet, wenn der Strand wieder begehbar wird und das Meer voller Versprechungen ist, streift die Autorin kurz jenes literarische Terrain, das Gefahr läuft, unrealistisch, weil eben kitschig zu werden. Doch gemessen an der Genauigkeit, der Präzision dieser Erzählung, kann man ihr diese letzten Momente des Romans durchaus nachsehen.