DAS GERÜCHT/THE RUMOUR
...versetzt eine Kleinstadt in helle Aufregung
Man darf von einem Debut nicht erwarten, daß es auf Anhieb alles erfüllt, was literarisch möglich wäre – es kann schließlich nicht jeder ein Thomas Mann sein. Doch wenn ein Debut derart viel Qualität aufweist, wie Lesley Karas DAS GERÜCHT (Original THE RUMOUR; erschienen 2018), sollte man sich auch nicht wundern, daß solch ein Werk direkt die nationalen Bestellerlisten anführt.
Kara bietet ein Drama, das gewisse Kriterien eines Kriminalromans erfüllt, sich aber weitaus mehr auf die psychologischen Aspekte der Geschichte konzentriert, als auf etwaige kriminalistische. Die gibt es aber im Grunde auch nicht wirklich. Kara gelingt darüber hinaus ein Portrait des ländlichen Englands, ein Bericht aus dem Spannungsfeld zwischen Stadt und Land und zudem ein teils sehr gelungenes Panoptikum gut skizzierter und charakterisierter Figuren.
Eine Frau mittleren Alters, Joanna Critchley, die die Geschichte aus ihrer subjektiven Perspektive erzählt, ist mit ihrem Sohn Alfie in den Ort zurückgekehrt, in dem sie schon Teile ihrer Kindheit und Jugend verbracht hat. Alfie hatte Probleme in seiner Londoner Schule, nun drohen diese sich in Flintstead, der am Meer gelegenen Kleinstadt, zu wiederholen. Joanna, die hier als Immobilienmaklerin arbeitet, sucht nach Möglichkeiten, sich und Alfie stärker in die dörflichen Strukturen einzubinden, sie nimmt an einem Lesekreis teil und schließt sich einem Klub an, der reihum für andere Mitglieder das Hüten der Kinder übernimmt, wenn die Eltern einmal ausgehen wollen. Bei einem dieser Treffen lässt sie wie nebenbei das Gerücht einfließen, eine bekannte Kindermörderin lebe angeblich mit einer neuen Identität in der kleinen Stadt. Auch andere Mütter haben dies bereits gehört. Und Joannas Freund Michael, ein Journalist und der Vater von Alfie, ist im Verlauf seiner Recherchen ebenfalls auf Hinweise gestoßen, daß etwas an dieser Geschichte dran sein könnte. Doch Joanna, Michael und alle andern, die sich an den Spekulationen beteiligen, haben vollkommen unterschätzt, was solch ein Gerede für unvorhergesehene Folgen haben kann…
Es gibt Regalkilometer an Literatur, die uns darüber informiert, wozu Klatsch und Tratsch, Gerüchte und Spekulationen im sozialen Gefüge gut sein können. So sehen einige Sozialpsychologen Klatsch als eine Art sozialen Kitt, der es ermöglicht, gerade kleine Gemeinschaften einerseits zwar zu kontrollieren, aber eben auch eine Ventil-Funktion hat. Man kann Dampf ablassen, ohne sich direkt festlegen zu müssen, ohne auf eine Aussage festgenagelt werden zu können. Aber Klatsch und Tratsch können eben auch zu sozialem Ausschluß, schlimmstenfalls zum sozialen Tod führen. Nun ist ein Gerücht eher die verschärfte Form des Klatschs. Seine Wirkung ist möglicherweise verheerender. Und wenn es ganz dumm läuft, dann nimmt irgendwer ein Gerücht so ernst, daß er zur Tat schreitet. In Karas Roman kommt es zwar nicht zum Äußersten, doch gibt es Unbeteiligte, die sich einfach nur der Zurückgezogenheit schuldig gemacht haben, die schnell ins Visier der Voreiligen geraten. Und irgendwann klirren Scheiben und finden Fotos ihren Weg an die Schaufenster eines gewissen Geschäfts, dessen Inhaberin sich lediglich nicht wie im Dorf erwartet an den sozialen Events, bspw. einem Straßenfest, beteiligen will.
So deckt das Gerücht, das in Flintstead kursiert, Strukturen auf, die tief im Gefüge dieser Gemeinschaft vorhanden sind. Wer eben noch ein Außenseiter war, ist plötzlich ein Verdächtiger. Und verdächtigt macht sich schließlich jeder, der sich in welcher Weise auch immer nicht konform verhält. Die Ich-Erzählerin Joanna berichtet auch von den eigenen Vorurteilen und Ängsten, nicht ahnend, daß sie mit dem auch durch sie selbst gestreuten Gerücht etwas lostritt, das am Ende auch sie betreffen wird.
Das alles wird sprachlich eher wenig anspruchsvoll erzählt, stilistisch hält Kara sich an die Konventionen des Kriminalromans. Wie dort, entblättert sich das Geheimnis auch hier nach und nach, wie dort, gibt es auch hier eine Auflösung, wie dort gibt es auch hier diejenigen, die einen geheimen Plan verfolgen und auf Vergeltung sinnen. Doch wie bereits angedeutet, ist dies eher das Portrait einer Kleinstadt, die zu verorten schwerfällt. Flintstead könnte ebenso in Essex liegen, wie es auch eine Kleinstadt in Suffolk oder Norfolk sein könnte. Die Nähe zu London, die mehrfach eine Rolle spielt, legt nah, daß es sich zumindest nicht um eine dörfliche Gemeinschaft im Norden des Landes handelt. In dieser Kleinstadt gibt es all die üblichen Ansässigen, die Einsamen und die Vorlauten, es gibt die Alteingesessenen und die Zugezogenen, was gerade in Südengland noch einmal eine andere Struktur hervorbringt, als bspw. im Umland von Berlin. Joannas Job als Maklerin gibt ihr Einblick in das Denken jener Reichen, die sich zwar die Londoner Innenstadt leisten können, sich aber mindestens einen Zweitwohnsitz im ländlichen Raum zulegen wollen. Und die bringen ihre in der Provinz oft eher unbeliebten Vorstellungen davon mit, wie solch ein Dorf denn eigentlich auszusehen, wie das Leben dort sich zu gestalten habe.
Es sind diese Beziehungen untereinander und die Art, wie Kara diese erfasst und beschreibt, die das Lesevergnügen ausmachen. Man sollte also weniger einen Spannungsroman erwarten – auch wenn hier durchaus Spannung geboten wird, wobei diese eher konventionell erzeugt und geboten wird und sicher nicht die ganz große Stärke der Autorin ist – sondern wirklich einen Gesellschaftsroman. Automatisch denkt man an ein Werk wie Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016), das allerdings die Spezifik eines ostdeutschen Dorfs und Zugezogener aus einem hippen, westlich geprägten Berlin behandelt und sicherlich auch literarisch anspruchsvoller ist.
Dennoch – Kara ist ein guter Debutroman gelungen, unterhaltsam, spannend, meist genau, manchmal etwas klischeehaft, sprachlich unaufgeregt und klug konstruiert. Es lohnt sich, die Autorin weiter zu beobachten und man darf gespannt sein, welchen Themen sie sich zukünftig zuwenden und wie sie diese dann verarbeiten wird.