EINE GESCHICHTE AUS ZWEI STÄDTEN/A TALE OF TWO CITIES

Dickens entwirft ein historisches Panorama

Erzählt wird die Geschichte des jungen Aristokraten Charles Evrémonde, der aus Frankreich ausgewandert ist und seinen Lebensunterhalt in London verdient. Durch besondere Umstände begegnet er der jungen Lucie und deren Vater Dr. Manette, der 13 Jahre lang als Gefangener in der Bastille eingekerkert war. Schließlich muß Charles während der Revolutionswirren zurück nach Paris, um einen ihm treu Ergebenen aus dem Gefängnis zu befreien. Er tut dies wohl wissend, daß er sich selbst so höchster Gefahr aussetzt. Und wirklich wird er erfasst, festgesetzt und schließlich vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt. Wie schon einmal zuvor, kann der Engländer Sidney Carton, der ebenfalls in Lucie verliebt ist, Charles durch die täuschende Ähnlichkeit der beiden helfen…

Charles Dickens war vieles, eines sicher nicht: Ein Revolutionär! Der Mann, der Zeit seines schriftstellerischen Lebens die Mißstände seiner Heimat angeprangert hat, hatte sicherlich wenig übrig für die gewaltsamen Veränderungen dieser Mißstände durch revolutionäre Umtriebe. Das merkt man seinem historischen Roman an.

Über den Zeitraum von 1775 bis ins blutige Jahr 1792 dehnt sich die Handlung aus, die dem Leser nicht nur die Gewalt und den Terror der Revolution vor Augen führt, sondern in durchaus eingängigen und schrecklichen Bildern von der Herrschaft des Ancien Régime, seiner Menschenverachtung und der Verkommenheit des französischen Adels berichtet. Dickens Welt, das wissen seine Leser, ist oft düster und auch durchaus gewalttätig (man denke nur an den Mord an Nancy in OLIVER TWIST) und dennoch entsteht während der Lektüre der Eindruck, nur selten solch brutale und häufige Darstellungen von Gewalt, Unterdrückung und des Elends beim großen Engländer gelesen zu haben.

Anders als in den bekannteren Werken wie DAVID COPPERFIELD, OLIVER TWIST oder dem direkten Nachfolger GREAT EXPECTATIONS, ist das Figurentableau hier relativ übersichtlich. Die schon erwähnten Figuren werden durch den „guten Geist“ Mr. Lorrie sowie die Bediensteten Jerry und Miss Proß ergänzt, doch war es das weitestgehend. So gibt es in diesem Werk nicht die humorvollen Nebenfiguren und auch keine weit ausufernden Nebenhandlungen, die Story ist eng geführt, sie läuft zügig voran und auf ihr Ende zu.

Diese Story nun – ohne zu viel verraten zu wollen – klingt in der Nacherzählung derart kitschig und unwahrscheinlich, daß man gerade an der Tatsache, daß sie auch heute noch ausgesprochen spannend ist, feststellen kann, über welch unglaubliches erzählerisches Talent Dickens verfügte. Im Kern eine „Doppelgänger“-Geschichte (die heute so kein Mensch mehr erzählen könnte), die wahrlich auf wenigen Seiten erzählbar wäre, nutzt sie der Erzähler doch als Vehikel, um ohne Umstände aus diesen gewaltsamen Zeiten zu berichten.

Warum aber gerade diese Geschichte? Ein historischer Roman? Dickens – der Paris mehrfach besucht hatte und die Stadt verhältnismäßig gut kannte – hatte feststellen müssen, daß seine frühen Anhänger, die v.a. seinen Humor geschätzt hatten, ihm nicht mehr folgen wollten. Jüngere Leser hingegen entdeckten die historischen Romane Thakerays und Trollopes. Daß Dickens sich also ein historisches Sujet suchte, hatte wohl auch Gründe der Vermarktbarkeit. Paris bot sich an, gerade weil er es kannte, und die Revolution lag noch nicht lang genug zurück, um ihre Erschütterungen (nicht zuletzt die der Napoleonischen Kriege und der anschließenden Restauration) nicht noch spüren zu können.

Was nun genau dies angeht – die Revolution – ist deutlich spürbar, daß Dickens – wie so viele, die sie zeitgenössisch erlebt hatten (wie Goethe) oder kurz darauf das Licht der Welt erblickten – kein besonderer Freund gewaltsamer Umstürze war. Die Angst vor dem, was aus revolutionären Umtrieben an Terror und Gewalt hervorbrechen konnte, war größer, als die Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes utopisch Besseres. So zeigt Dickens auch nicht die großen Linien der Geschichte, nicht einmal die historischen Namen oder Daten werden genannt (weder Danton, noch Robespierre, nicht der König, nicht Marie Antoinette, nicht einmal die Jakobiner finden Erwähnung), lediglich die Jahreszahlen finden Aufnahme in den Text. Nein, Dickens zeigt „die kleinen Leute“, ihre Schmach, ihren Kampf, wohl aber eben auch ihre Verkommenheit. Die Defarges, das Paar, das auf französischer Seite die Handlung trägt, ist einerseits als revolutionär und aufwieglerisch beschrieben (er ist beim Sturm auf die Bastille – das einzige historische Ereignis, das überhaupt im Text Erwähnung findet – ganz vorn dabei), andererseits ist es gerade Madame Defarge, die das Komplott gegen Charles aus „niederen“ Gründen schmiedet (wobei diese niederen Gründe wiederum durchaus denen ähneln, die zur Revolution führten; Dickens scheint hier aber sagen zu wollen, daß reine Rache eben kein edles Motiv sei).

Was also bleibt? Vielleicht nicht einer der ganz großen Romane des großen Geschichtenerzählers (auch hier wieder die Dickens-typischen Verwicklungen und Zufälle, wer alles mit wem verwandt und daher alte Rechnungen zu begleichen hat usw. – man könnte manchmal glauben, in Dickens‘ Kosmos gibt es nur Figuren, die eh schon schicksalhaft miteinander verbunden sind), sticht A TALE OF TWO CITIES aus seinem Gesamtwerk doch hervor. Es ist düsterer, brutaler, weniger humorvoll als die meisten anderen Texte, es ist einer seiner wenigen (genauer: 2) historischen Romane, es ist einer derjenigen mit der stringentesten Handlung, einer mit den wenigsten Figuren. Spannend ist diese Geschichte nach wie vor und sie erzählt uns Heutigen sicherlich etwas darüber, wie das 19. Jahrhundert auf die Geschehnisse von 1789 zurück geblickt hat.

 

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