ALLE UNSERE LEBEN/OUR LONDON LIVES
Christine Dwyer Hickey zeichnet ein Portrait Londons und erzählt eine große Liebesgeschichte über vier Dekaden hinweg
Reist man heutzutage dorthin, muss man schon weit in die Vororte, ins äußerste East End oder die Viertel weit südlich der Themse fahren, um einen Hauch dessen zu erhaschen, was London in den 70er und den frühen 80er Jahren ausmachte. Damals war es eine oftmals dreckige, manchmal regelrecht heruntergekommene Stadt, der nicht nur immer noch das Odem der Swingin´ Sixties, sondern auch jenes der Nachkriegszeit anhaftete. Man konnte den Punk spüren, Ausdruck jener Jugendbewegung, die auf die beschwingten 60er Jahre mit der Idee von Frieden, freier Liebe und bewusstseinserweiternden Substanzen gefolgt war und einer anderen sozialen Wirklichkeit entsprang. Einer Wirklichkeit aus Arbeitslosigkeit, verlorener Zukunft und Tristesse. Die Fassaden der Häuser rußig, schwarz angelaufen, in den Straßen sich stapelnder Unrat und Dreck, die Geschäfte oft schmutzig, verklebt, ein wenig versifft. Die Züge der Tube, die Pubs und viele Kinos waren verqualmt. Sicher galt all dies nicht für das auch damals schon schicke West End, für die Touristenmeilen um Trafalgar und Leicester Square, den Piccadilly Circus, die Regent– oder die Oxford Street. Aber es gab Gegenden, die tatsächlich so unsicher waren, dass Taxifahrer sie lieber mieden. Soho bspw. – heute Touristenmeile zwischen Postmoderne und folkloristischer Aneignung, gleich hinter dem Leicester Square gelegen, bloß einen Steinwurf entfernt – war ein Pflaster, über das nachts zu streifen gefährlich sein konnte. Manchmal war es, wenn man die Stadt nicht kannte, schwer einzuschätzen, wo das Abenteuer endete und die reelle Gefahr begann. Viertel wie Camden Town oder Notting Hill – heute gentrifiziert und für Normalsterbliche unerschwinglich – waren tatsächlich noch ‚alternativ‘ und boten sogar für Studenten machbare Mietpreise. Ein von heute aus betrachtet weit entferntes London ist es gewesen, von dem man heute vielleicht noch etwas erahnen kann, wenn man bspw. den 73er Bus nach Stoke Newington besteigt oder eben die Gegenden süd-östlich der Themse besucht.
Ein London, das Christine Dwyer Hickey in ihrem Roman ALLE UNSERE LEBEN (OUR LONDON LIVES; Original erschienen 2024; Dt. 2025) noch einmal auferstehen lässt. Auf satten 550 Seiten erzählt sie eine vierzig Jahre umspannende Liebesgeschichte zwischen zwei Iren, die in einer Zeit in London lebten, da dies für irische Landsleute nicht einfach gewesen ist. Da ist die blutjunge Milly – entgegen der allgemeinen Annahme eben nicht katholisch, sondern der winzigen protestantischen Minderheit Irlands entstammend – die schwanger in die riesige Stadt kommt und ihr Kind weggibt, weil sie weiß, dass sie der Erziehung nicht gerecht werden kann. Sie findet Unterschlupf bei der großzügigen, einsamen und lebensklugen Pub-Besitzerin Mrs. Oak und deren Angestellter Trish, die mit ihrem losen und vorlauten Mundwerk jeden sich anzüglich gebenden Kerl in der Bar in die Schranken zu weisen versteht. Und da ist Pip, dem eine große Karriere als Boxer vorausgesagt wird, der all den Vorschusslorbeeren aber nicht gerecht werden kann, da er einerseits an Epilepsie leidet, die weitere Kämpfe unmöglich macht, andererseits aber vor allem dem Alkohol verfällt, der sein Leben in den kommenden Dekaden, nachdem der Roman 1979 einsetzt, bestimmen wird.
Die Autorin ordnet ihre Erzählung auf zwei Ebenen an. Aus Millys Sicht werden in langen Abschnitten und in großen zeitlichen Abständen die Jahre 1979 bis 2017 erzählt, aus Pips Sicht die Gegenwart des Romans, das Jahr 2017, in dem die beiden sich wiedertreffen. In all den Jahrzehnten zuvor sind sie sich immer wieder begegnet, mal waren sie einander nah, gehörte der eine zum Leben der anderen, mal waren sie nur entfernte Bekannte, die sich aus den Augen verloren hatten. Doch immer war da eine besondere Anziehung zwischen ihnen, die sich vielleicht wie Liebe anfühlte, vielleicht aber auch etwas gewesen ist, das keine nähere Bestimmung kennt. Immer wieder hatte Pip sich nicht nur Milly entzogen, sondern auch seinen Freunden und sogar seiner Tochter Lorraine. Nun, mit sechzig, nach einer weiteren Entziehungskur, kommt er einmal mehr bei seinem Bruder Dom, einem weltweit anerkannten Trompeter, unter. Er will den Rest seines Lebens irgendwie vernünftig über die Bühne bringen, die Menschen um ihn herum nicht weiter enttäuschen oder verletzen und sich zumindest bei fünf von ihnen entschuldigen. Dazu hat er Briefe geschrieben – Teil des Entziehungsprogramms, dem er sich unterzogen hat – in denen er sich zu erklären versucht. Nicht zu entschuldigen, nur zu erklären.
Dwyer Hickey schreibt also eine Liebesgeschichte, die nie wirklich zur Entfaltung, geschweige denn zur Erfüllung kommt – auch das Ende des Romans wird die Leser*innen dahingehend unbefriedigt zurücklassen – die aber, vielleicht gerade deshalb, sehr ehrlich und glaubwürdig wirkt. Denn kennt das nicht (fast) jede und jeder – eine unerfüllte Liebe, ein Verzehren, das immer zur falschen Zeit, am falschen Ort auf die falsche Person projiziert wird oder immer aneinander vorbei geht und so nie im richtigen Augenblick geschehen kann? Eine Liebe, die vielleicht gerade deshalb perfekt wirkt, weil sie unerfüllt bleibt und somit immer den Raum für das Mögliche bietet? Und doch erzählt die Autorin auch so viel mehr. Berichtet von den Unbilden, denen Iren in London aufgrund der ewigen Angst vor Anschlägen der IRA ausgesetzt waren, wie sie oftmals unter Generalverdacht standen. Sie erzählt vom Dämon Alkohol und wie er Leben vernichten kann; sie erzählt von prekären Leben am Rande der Gesellschaft, von Armut und Reichtum und wie nah all das in einer Stadt wie dieser beieinander liegt; sie erzählt davon, wie London Menschen Hilfe und Unterstützung, ja, Möglichkeiten bieten, sie aber auch ausnutzen und ausspucken kann.
Milly und Pip leben ihre Leben und während wir Millys, wenn auch in weiten Zeitsprüngen, zeitgenössisch nah miterleben, wird uns Pips Leben in seiner Erinnerung aus dem Jahr 2017 geschildert. In beider Leben gab und gibt es eine Reihe von Menschen, die sie geprägt haben und noch prägen – beide heiraten, Milly einen Bauunternehmer, der jene Gegend, in der Mrs. Oaks Pub liegt, das innerstädtische Viertel Farringdon, aufzukaufen und aufzuwerten gedenkt; Pip eine Freundin, die ihm die Tochter schenkt; aber auch Freunde und Verwandte spielen wichtige Rollen, in Pips Fall vor allem seine Trainer und die Männer, die seine Boxkarriere einst beförderten – und deren Leben nebenher erzählt werden und die gerade durch die Beiläufigkeit, mit der von ihnen berichtet wird, ausgesprochen authentisch wirken.
Diese Authentizität gelingt und ist zugleich doch auch die große Schwachstelle des Romans. Denn einerseits bleiben die Figuren – erstaunlicherweise mit der Ausnahme von Pip, den die Autorin am plastischsten, am lebenswirklichsten zeichnet – oft blass, ein wenig eindimensional, selbst Milly, andererseits sind ihre Leben letztlich so glaubwürdig lebensnah erzählt, dass sie auf die Dauer beim Lesen langweilen. Schlicht dadurch, dass Leser*innen zu viele Menschen kennen, die genau solche Leben führen und denen genau das zustößt, was den Figuren im Roman zustößt. Sicher, das kann durchaus genau das sein, was Rezipient*innen suchen, ja wollen, doch muss das so Bekannte dann doch zumindest auf eine Art und Weise erzählt werden, die ihnen etwas irgendwie Besonderes, etwas Außergewöhnliches gibt oder aber das wenig Außergewöhnliche, wenig Besondere zumindest interessant in Szene setzt. Das geschieht hier allerdings nicht und deshalb folgt man der Geschichte von Milly und Pip, Dom und Mrs. Oak oder Trish und einigen weiteren, weniger wesentlichen Nebenfiguren zwar mit Interesse und Aufmerksamkeit, doch zunehmend auch gleichmütig.
ALLE UNSERE LEBEN bietet aber neben all diesen kürzeren und längeren Lebens-Geschichten ganz normaler Londoner tatsächlich auch eine sehr schöne Betrachtung Londons im Wandel der Zeit. Vom mittlerweile ebenfalls zusehends gentrifizierten Farringdon führt das Leben Pip nach Notting Hill, wo er einst in den späten 50er und den 60er Jahren aufwuchs, als das Viertel noch nicht den Hype erlebt hatte, den die 90er Jahre ihm bescherten, und wo sein Bruder Dom mittlerweile eine Villa besitzt. Schließlich kehrt Pip nach Farringdon zurück, in den alten Boxclub nahe des Pubs, in dem sich sein und die Wege von Milly, Mrs. Oak und Trish einst kreuzten, wo er sich nun illegal einnistet, um sich seinem Bruder und dessen Leben, inklusive den Verwicklungen mit der Exfrau, dem gemeinsamen Sohn Max und der zukünftigen Gemahlin zu entziehen und wo er Milly widertrifft, die sich – ebenfalls illegal – über dem mittlerweile geschlossenen Pub eingerichtet hat. Beide Gestrandete, deren Verwüstungen und Narben sich in den Verwüstungen, Narben aber auch den Aufhübschungen spiegeln, die die Stadt in den langen Jahren seit den späten 70ern davongetragen und erlebt hat.
Dwyer Hickey malt ein wunderbares Portrait dieser Stadt und man spürt ihre Liebe zu ihr. Und doch ist es der Blick einer Fremden, einer Zugezogenen. Es ist der Blick einer Irin, die sich ihrer Landsleute annimmt, die oftmals als Hilfsarbeiter, als Flüchtende – flüchtig vor einem Schicksal in Armut, vor familiärer Gewalt, vor der Enge der irisch-katholischen Provinz – nach England, nach London kamen und oft halt wie Aussätzige behandelt wurden. Und so sehr London hier ein Ort ist, der Menschen wie Milly und Pip etwas bietet – und sei es nur die Möglichkeit einer Liebe, die Möglichkeit einer Freundschaft, die Möglichkeit eines Zuhauses – so sehr ist es oft auch ein kalter Ort, der zwar irgendwie Schutz und Unterschlupf gewährt, doch ebenso oft auch die kalte Schulter zeigt, wo Mitleid angebracht wäre.
Es ist das eigentliche Verdienst dieses Romans, die Leben seiner Protagonisten auf eine Art und Weise mit der Geschichte dieser Stadt zu verweben, das dem Publikum ein weites Panorama der britischen Realität in ihrer weltumspannenden Hauptstadt anhand der spezifischen Lebenswege einiger weniger ganz normaler und doch ganz einzigartiger und individueller Schicksale geboten wird.