WARTEN AUF DEN TOD/THE MAN IN THE QUEUE
Josephine Teys erster Kriminalroman um Inspector Grant zeigt schon viel ihrer späteren Könnerschaft
Josephine Tey veröffentlichte ihren ersten Kriminalroman THE MAN IN THE QUEUE (1929; Dt. hier: WARTEN AUF DEN TOD, 2024) – der ihr erst zweiter Roman überhaupt war, im selben Jahr war mit KIF: AN UNVARNISHED HISTORY ihr Debut erschienen – noch unter dem Pseudonym Gordon Daviot. Es war ein als Serienveröffentlichung geplantes Werk und es ist dies noch zu spüren bei heutiger Lektüre. Der Fall ist vergleichsweise konventionell angelegt, lebt von gewissen Wendungen und von Zufällen, die wie Cliffhanger wirken. Das verdeutlicht die Struktur als Fortsetzungsgeschichte. Die Autorin suchte also noch nach Form und exaktem Stil, was unter anderem daran festzustellen ist, dass sie sich an drei Stellen des Romans in den Text einschreibt, indem sie andeutet, dass sie die Geschichte vom ermittelnden Inspector Grant erzählt bekommen habe; einmal sogar den Leser wissen lässt, sie hätte zu gern dessen Gesicht gesehen, als es einen gewissen Twist während der Ermittlungen gegeben habe.
Tey führte den in weiteren fünf Romanen auftretenden Inspector Alan Grant hier erstmals ein. Es ist eine durchaus bemerkenswerte Figur, der sie in den Folgeromanen auch weitaus interessantere Fälle zukommen ließ, im Vergleich zu diesem, extrem ungewöhnliche Fälle, deren Lösungen fesselnd und vor allem erstaunlich, weil in sich immer schlüssig waren. Und gab es einmal nichts zu ermitteln – bspw. während eines Krankenhausaufenthalts – suchte Grant sich im Notfall eben historische Fälle, die er lösen konnte, wie in ALIBI FÜR EINEN KÖNIG (THE DAUGHTER OF TIME/1951; 2022), dem wohl besten und berühmtesten Werk aus Teys Feder.
Grant ist ein etwas snobistischer, jedoch nahezu genialischer Ermittler bei Scotland Yard, der bei seinem ersten Auftritt um die fünfunddreißig Jahre alt ist. Dies ist insofern wichtig, als dass er im Ersten Weltkrieg – der zum Erscheinungsdatum des Romans in Großbritannien lediglich als The Great War bezeichnet wurde – gedient hat, wodurch sich möglicherweise seine manchmal leicht zynische, zumindest meist distanzierte Haltung gegenüber dem Fall (oder Fällen, denn auch in den späteren Romanen ist dies ein auffälliges Merkmal seines Charakters) und den Beteiligten erklären lässt. So ist es auch nicht Mitgefühl, dass ihn immer weiter antreibt noch genauer hinzuschauen, noch stärker um die Lösung zu ringen, selbst dann, wenn die Meinung herrscht, der Fall habe sich bereits in Wohlgefallen aufgelöst. Vielmehr ist es die mögliche Beleidigung seiner Intelligenz, die seinen Ehrgeiz hervorruft.
Und doch ist es gerade hier letztlich der Zufall – oder, um es genauer zu sagen, das schlechte Gewissen der für die Tat verantwortlichen Person – die schließlich das Rätsel entschlüsselt, welches der Mord in der Warteschlange vor einem Theater im Westend Londons darstellt. Der Mann, der dort erdolcht wurde (und dem der Roman seinen Originaltitel verdankt), scheint ein gänzlich Unbekannter zu sein und Grant ist vom ersten Moment an mit all seiner Intelligenz, mehr noch mit seinem Gespür gefordert, um sich einen Reim auf die Tat zu machen. Er greift dabei – und Tey letztlich ebenso – auf für heutige Leser durchaus rassistische Überlegungen zurück, indem er bspw. von der Mordwaffe, einem Dolch, auf einen Südländer als Mörder schließt, weil ein Engländer niemals auf eine so perfide Art töten würde. Wohl kommen auch die Briten in Grants Überlegungen nicht sonderlich gut weg, unterstellt er ihnen doch mangelnde Raffinesse und einen Hang zu grober Gewalt, dennoch bleibt bei Leser*innen hinsichtlich seiner grob induktiven Gedankengänge – nicht nur an dieser Stelle – doch ein leicht schaler Geschmack zurück.
Allerdings ist gerade anhand dieses Aspekts – weitaus deutlicher, als dies bei den folgenden Alan-Grant-Romanen der Fall ist, deren zweiter erst 1936 und der dritte dann 1948 erschien – das Alter des Buchs spüren. Es ist ein Werk aus einer Zeit, da das britische Empire sich nach wie vor auf der Höhe seiner Zeit wähnte und ein gewisser Snobismus – und ja, eben auch ein teils übler Rassismus – gegenüber anderen Völkern und Ethnien Gang und Gäbe war. Was die Sache selbstverständlich nicht besser macht. Es ist dies ein Aspekt des britischen Romans, der nicht nur auf Tey zutrifft und, betrachtet man explizit das Kriminalgenre, auch und gerade bei Agatha Christie anzutreffen ist.
Was allerdings dann ebenso diesem Aspekt entspricht, ist die Fähigkeit der Autorin, dem Leser ein London nahezubringen, welches es in Teilen so noch geben mag – das Westend ist nach wie vor das Viertel, wo die großen Shows mit den großen Stars laufen, gleich ob am Theater, auf der Musicalbühne oder der Kinoleinwand -, dessen Grandezza als Hauptstadt eines Weltreichs noch uneingeschränkt strahlen und glänzen konnte. Grant streift durch das Westend, den Strand rauf und runter, er betrachtet sich die Menschen in den Warteschlangen, in den vornehmen Restaurants, in den Clubs und in den Theatern selbst und gibt seine Eindrücke ungeschminkt wieder. Er kennt sich aus, er ist ein Theatergänger, er kennt den weiblichen Star jenes Stücks, dessen letzte Vorstellung angesetzt war, weshalb die Schlange, in der das Mordopfer sein Ende fand, sich schon Stunden vor Öffnung der Türen gebildet hatte. In einer längeren Szene betrachtet Grant sich das Stück, das er bereits mehrfach gesehen hat, und analysiert das Verhalten der Frau, die hier im Mittelpunkt steht und es hat schon seine Art, wie Tey, die auch als Autorin erfolgreicher Theaterstücke reüssieren sollte und die Szene also kannte, hier die Mischung aus schauspielerischer Brillanz, aus Ehrgeiz, Eitelkeit und Machtwillen erfasst, die das Spiel dieses Bühnenstars bestimmt.
Was in WARTEN AUF DEN TOD bereits ein typisches Merkmal auch der folgenden Romane vorwegnimmt, ist der Gegensatz zwischen Stadt und Land, den Tey immer mal wieder thematisiert. Es zieht – oder verschlägt – Grant häufiger privat oder beruflich ins ländliche England oder – noch einsamer, noch ländlicher, noch eigenartiger – nach Schottland. In diesem Fall verfolgt er eine Spur bis an die schottische Westküste und man merkt, dass es der gebürtigen Schottin Josephine Tey, mit bürgerlichem Namen Elizabeth Mackintosh, sichtlich Spaß macht, ihre schottischen Landsleute mit all deren Stärken und Schwächen, Schrullen und Eigenarten darzustellen und zu beschreiben. Humor – in Form von manchmal beißender Ironie – ist so oder so eines der markanten Merkmale in Teys kriminalistischem Schreiben; und mit einer gehörigen Portion desselben betreibt sie die Charakterisierung der auftretenden Protagonisten und ihrer Eigenheiten. Erst recht, wenn es um lokale Besonderheiten geht, wie in jenen Kapiteln, die im schottischen Hochland spielen, wo Grant, der das Angeln liebt, sich ausgesprochen wohl fühlt.
Es zeigt die ausgesprochene Könnerschaft dieser Autorin, wie es ihr gelingt, einerseits die Hektik, die Energie und das gelegentliche Chaos der Großstadt zu erfassen und zu beschreiben, andererseits die Ruhe, ja Stille des ländlichen Raums. Die Leser*innen spüren die Gegensätze förmlich. Es ist, als würde man unter Spannung gesetzt, wenn Grant durch London hetzt, sich mit seinen Untergebenen trifft und Verdächtige aufsucht – um dann, wenn der Inspector in das Hochland kommt, geradezu die klare Luft zu schmecken, das Rauschen der Wälder zu hören und das Glitzern auf den Seen und den Bächen beobachten zu können. So wird dieser Kriminalroman tatsächlich auch zu einem kleinen „Reiseführer Schottland“, dem es gelingt, die spezifischen Schönheiten dieser Landschaft einzufangen.
Darüber hinaus ist WARTEN AUF DEN TOD aber auch ein immer noch recht spannender Krimi, dem man anmerkt, dass es der erste ist, den die Autorin verfasst hat. Sie sucht noch nach dem Eigenen und in Kenntnis der späteren Meisterwerke, die sie verfassen sollte, fällt dieser sicher ein wenig ab, was dem Lesevergnügen allerdings keinen Abbruch tut.