BLÜTENSCHATTEN/NIGHTSHADE

Ein wunderbarer Künstler- und Liebesroman und ein brillanter Gang durch ein nächtliches London

In ihrem dritten und bisher – leider – letzten Roman BLÜTENSCHATTEN (NIGHTSHADE; Original erschienen 2020; Dt. 2021) entführt uns die vormalige Theater-, Kunst- und Literaturkritikerin Annalena McAfee in eine lange Londoner Nacht.

Wir begleiten Eve Laing, eine Künstlerin, die durch ein einziges Werk, ansonsten aber vor allem als Muse des Portraitmalers Florian Kîs Berühmtheit erlangt hat. Sie führte bisher ein privilegiertes Leben an der Seite ihres Mannes Kristof, eines Architekten mit erfolgreichen Aufträgen weltweit. Nun aber streift sie von ihrem ehemaligen Zuhause in den (fiktiven) Delaunay Gardens irgendwo im wohlsituierten Westen der Stadt ihrem Atelier im East End entgegen und sinniert über ihr Leben. Denn das hat sich in den vergangenen acht Monaten brutal, ja grundlegend verändert. An einem neuen Werk – ihrem, wie sie annimmt, Opus Magnum – arbeitend, hat Eve nicht nur ihre Arbeitsweise, bisher mit einigen Assistenten und Helferlein, geändert, sondern sie hat auch eine ausgesprochen intime Beziehung zu ihrem mittlerweile einzigen Begleiter, Luka, einem Verehrer ihrer Arbeit, aufgebaut. Sie hat Kristof verlassen, hat die Annehmlichkeiten ihres Lebens in der Londoner High Society aufgegeben und geglaubt, dass das, was sie mit diesem neuen, vielleicht letzten Meisterwerk, gemeinsam mit Luka, erschaffen wird eine neue Perspektive auf den Rest ihres nun bereits sechzig Jahre währenden Lebens eröffnet. Und so lässt sie ihr bisheriges Leben Revue passieren.

Die wilden Jahre im punkigen London der mittleren und späten 70er, die entäußerten Zeiten im New York der frühen 80er Jahre in den Ausläufern des späten Andy Warhol und dessen Factory, jene enge, wenn auch kurze Liaison mit Kîs, ihre Rivalität zu ihrer früheren Freundin Wanda Wilson, die auch ihre Nemesis zu werden drohte, die Jahre nach ihrem Erfolg mit ihrem Einstiegswerk in die Kunstszene – einem Florilegium, bei dem sie auf einem Plan der Londoner Tube alle Stationen durch entsprechende Pflanzen ersetzt hatte und das ihr, da mittlerweile ein Klassiker des London-Merchs auf etlichen Taschen, Tassen und T-Shirts verewigt, nicht nur ein gutes Auskommen, sondern ihr auch ein künstlerisches Lebensthema, die Flora generell, beschert hat – und schließlich die Zeit an Kristofs Seite, die Ehe und die Elternzeit mit Baby Nancy, ihrer Tochter, die zusehends eine Enttäuschung für Eve geworden ist. Je mehr sie sich ihrem Atelier und in ihren Gedanken dem Präsens des Buches, dieser Nacht auf den Straßen Londons, nähert, desto deutlicher wird, was sie sich und allen anderen in ihrer Umgebung zugemutet hat – und wir ahnen, dass das alles nicht gut wird enden können.

Mit BLÜTENSCHATTEN ist Annalena McAfee ein tatsächlich großer Wurf gelungen, ein Roman, wie es sie selten gibt: Wie aus einem Guss, perfekt im Timing, im Tempo, in der Erzählperspektive und darüber hinaus wirklich spannend. Wir lesen atemlos weiter und weiter, wollen mehr wissen über diese Frau, die, das sei ganz klar gesagt, sehr, sehr unsympathisch wirkt und der wir doch sehr, sehr viel Kredit geben im Lauf dieser Nacht, die wir sie begleiten. Denn es gelingt der Autorin, obwohl sie nie die subjektive Erzählstimme bemüht, dennoch aber erzählperspektivisch immer bei Eve bleibt und uns also subtil dazu bringt, wenn nicht gar zwingt, deren oftmals bitterbösen, sarkastischen und manchmal schon zynischen Anmerkungen und Kommentaren zu allem und jedem nicht nur willig zu folgen, sondern sogar zuzustimmen.

Wenn sie, wieder und wieder, auf Wanda Wilson, die unschwer als Karikatur einer Künstlerin wie Marina Abramović zu erkennen ist, zurückkommt, eine Frau, Freundin und Konkurrentin, die Eve tatsächlich abgrundtief zu hassen scheint, zumindest aber verachtet ob einer als „relational“ gekennzeichneten Kunst, die sie, Eve, nicht akzeptiert; wenn sie generell Gift und Galle über die moderne und postmoderne Kunst und Kunstszene ausschüttet und dabei auch vor Realnamen wie Jeff Koons oder Gerhard Richter nicht Halt macht; wenn sie – endlich! – den Tod der Dekonstruktion herbei- und die vermaledeiten französischen Modephilosophen zum Teufel wünscht; wenn sie sich – hier ausnahmsweise sehr konventionell – über ihren Gatten auslässt, der sich nicht genügend für ihre Kunst interessiert; wenn sie über den Mops ihrer als Influencerin sich gebärdenden Tochter lästert; wenn sie ihre Assistent*innen, allesamt gescheiterte Künstler*innen, die in ihren Augen zurecht begriffen haben, dass für sie, Eve Laing, zu arbeiten bei Weitem besser und interessanter ist, als der eigenen, natürlich minderwertigen Kreativität nachzuspüren; wenn sie nahezu alles und jeden, der von ihr in dieser Nacht je erwähnt oder gedanklich gestreift wird abqualifiziert, inklusive ihres Patenkinds Theo, dann ist das von McAfee derart genau und präzise in Sprache umgesetzt – und von pociao und Roberto de Hollanda kongenial ins Deutsche übertragen – dass es schon allein aufgrund dieser literarischen Raffinesse ungeheuren Spaß macht, dieser scheinbar verbitterten und doch sehr klaren Frau zu folgen.

Doch ist dies mehr als ein böser oder gar bösartiger Kommentar auf die britische Kunstszene und deren Vertreter, die sich in der Realität sicherlich oft so gebärden, wie sie hier beschrieben, aufs Korn genommen und persifliert werden. Dies ist schon auch eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der Kunst und ihrem Wesen, damit, wie sie entsteht, welche Mechanismen in der Entwicklung und Herstellung greifen, welche inneren Auseinandersetzungen kreative Prozesse auslösen und was eine Künstlerin können muss – oder, nimmt man Eves Sicht auf Wanda Wilson ein, eben nicht können muss – um ihre Visionen auch reell umzusetzen. Dabei sind viele von Eves Einwänden gegen Konzeptkunst oder das Happening an sich durchaus nachvollziehbar und verständlich dargelegt. Da wir aber konsequent nur ihre Sichtweise geboten bekommen, die aller anderen nur aus ihrer Perspektive und damit also gebrochen, verzerrt und emotional aufgeladen, bleiben wir immer Gefangene dieser ihrer Perspektive. Das wird besonders deutlich, wenn sie spät in dieser Londoner Nacht davon berichtet, wie Wanda Wilson sie bei einer Ausstellungseröffnung gedemütigt hat.

Erst nach und nach beschleicht die Leser*innen während der Lektüre das Gefühl, dass das nicht nur die Eitelkeiten gekränkter Künstlerseelen sind, die da miteinander konkurrieren, sondern dass wir, eben als Gefangene dieser radikalen Binnensicht der Eve Laing, einem enormen Bluff aufsitzen. Wir beginnen zu ahnen, dass da mehr dahintersteckt und dann beginnen wir uns zu fürchten. Und in dem Moment, wo dieser Prozess einsetzt – sozusagen die Kreativität der Lesenden angesprochen wird, indem sie sich aus der ihnen aufgezwungenen Perspektive befreien und sie in Frage stellen müssen – wird das hier zu einem literarischen Ereignis, welches weit über eine kenntnisreiche Satire der Kunstwelt hinausreicht. Und es ist ein Teil dieses Ereignisses, dass McAfee einen runden Schluss, ein würdiges, dem inneren Monolog dieser vielleicht bitteren, vielleicht größenwahnsinnigen, auf jeden Fall aber ausgesprochen klugen, ebenso scharfsichtig wie scharfzüngigen und äußerst kreativen Frau angemessenes Ende für diesen langen Gang durch die Londoner Nacht findet. Sicher, ab eines gewissen Moments im letzten Viertel des Romans ist dieser Endpunkt abzusehen – doch wenn er eintritt, dann stimmt er und man ist einverstanden, da man begreift, dass Kunst manchmal eben wirklich größer ist als das Leben. Und dass sie manchmal das Leben selbst verschlingt, vielleicht sogar verschlingen muss, um zu ihrem Recht zu kommen. Und in einem solchen, wahrlich wohl seltenen Moment, kommt eine Künstlerin wie Eve Laing dann vielleicht auch zu sich selbst. Mit aller Konsequenz.

BLÜTENSCHATTEN ist also ein großer Künstlerroman, es ist ein Liebesroman, da das Verhältnis von Eve zu Luka wesentlich ist in der Entstehung dieses letzten Meisterwerks aus ihrer Hand – auch, wenn die Wendepunkte in der gemeinsamen Geschichte dieser beiden in Frage stellt, wann Kunst und wann die Liebe wahrhaftig sind. Darüber hinaus – und das ist ein weiteres literarisches Kunststück, das Annalena McAfee hier gelingt – vermischt sich die persönliche Geschichte dieser Frau mit einer Betrachtung Londons seit jenen düsteren Tagen der mittleren und späten 70er Jahre, die eine Weltstadt im Niedergang sahen, bis in die Zeiten der heute so schillernde Finanzmetropole. Wie sie diesen Weg von West nach Ost durch diese Stadt beschreitet, einen Weg durch die nächtlichen Straßen, so beschreitet sie auch ihren Lebensweg. Und sie nimmt uns mit: In die Busse, in die Untergrundbahn, in ein Taxi und schließlich zu Fuß. Sie nimmt uns mit in die Begegnungen mit jenen, die diese Stadt bevölkern, all die unterschiedlichen Menschen so vieler verschiedener Nationalitäten, Ethnien, Herkünfte. Eben das, was London ausmacht. Aber sie offenbart sich – und uns gegenüber – dabei eben auch die typischen, manchmal kleingeistigen und der Kunst so wenig angemessenen Ängste des Mitteleuropäers vor all dem Fremden, das sich in der eigenen Heimat breit zu machen scheint, offenbart dabei all die Vorurteile und auch die Härte, die die Erfolgreichen gerade in einer Stadt wie dieser gegenüber jenen aufbringen, die weniger Glück im Leben hatten, denen das Schicksal weniger hold gewesen ist. Und zugleich betrachtet diese Frau diese Stadt, die ihr einst so vertraut war und ihr nun oft fremd vorkommt mit einem scharfen Blick für Veränderungen, Entwicklungen und Möglichkeiten. Auch diese Beobachtungen natürlich immer mit scharfen, manchmal böswilligen Kommentaren gespickt. So wird Eves Wanderung auch zu einer Bestandsaufnahme des gegenwärtigen London in Stellvertretung der britischen Gesellschaft. Und diese Bestandsaufnahme ist bei allem Witz, den das hat, eben auch schonungslos gegenüber denen, die ein anspruchsvolles, ein befriedigtes, ein situiertes Leben führen dürfen und oft das Maß und den Blick für die Realitäten andere verlieren. In diesen Momenten stellt der Roman, nicht Eve, alle Kunst und alle Kunstfertigkeit eben auch in Frage.

Man kann nur hoffen, dass Annalena McAfee sich noch zu einigen weiteren Romanen dieser Güte aufschwingen kann. Denn mit jedem einzelnen der bisher vorgelegten Werke wurde sie besser – wobei schon ihr Debut ZEILENKRIEG (2011) ein hohes Niveau bot. Manche Autor*innen brauchen halt Zeit, viel Zeit, um ihre Werke zu runden, zu vollenden. Wenn schließlich ein Roman wie BLÜTENSCHATTEN dabei entsteht, sei ihnen jede Sekunde, jede Minute, alle Tage und Jahre gegönnt, die es dafür braucht!

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