IN DEN FESSELN VON SHANGRI-LA/LOST HORIZON

Frank Capra bot in seinem Abenteuerfilm von 1937 eine kongeniale Umsetzung des Bestsellers von James Hilton

1935 kommt es in China zu Volksaufständen. Der britische Diplomat Robert Conway (Ronald Colman), der in der (fiktiven) Stadt Baskul stationiert ist, bemüht sich gemeinsam mit seinem Bruder George (John Howard), so viele Ausländer wie möglich mit gecharterten Flugzeugen Richtung Shanghai zu evakuieren. Den beiden gelingt es schließlich, sich selbst mit der letzten startenden Maschine in Sicherheit zu bringen.

An Bord befindet sich eine kleine, aber illustre Runde: Neben dem Brüderpaar Conway der wegen Betrugs gesuchte Henry Barnard (Thomas Mitchell), ein Amerikaner, seine Landsfrau Gloria Stone (Isabell Jewell), die an einer unheilbaren Lungenkrankheit leidet und ihr baldiges Ende erwartet, sowie der britische Paläontologe Alexander Lovett (Edward Everett Horton), der sich immer wieder ereifert, weil er ein ausgesprochen seltenes Stück mit sich führt, das er dringend nach London bringen muss.

Nach einer unruhigen Nacht an Bord, in der die Conways Roberts Chancen erörtern, nach der Meisterleistung der Rettung der Ausländer endlich zum Außenminister ernannt zu werden, um dann seine pazifistischen Ideen in die europäische Politik einzubringen, müssen die Passagiere anderntags feststellen, dass nicht nur der englische Pilot durch einen asiatischen Mann ersetzt wurde, sondern das Flugzeug auch deutlich von seinem Kurs abgewichen ist.

Nach einem Zwischenstopp irgendwo im Gebirge, wo ein Bergvolk die Maschine mit offenbar zuvor bereitgestelltem Benzin versorgt, geht die Reise weiter. Doch schließlich gerät das Flugzeug in einen wilden Schneesturm und stürzt ab. Der Pilot stirbt, doch wie durch ein Wunder überleben alle Passagiere.

Robert Conway beschließt, auf eigene Gefahr loszumarschieren, bliebe man bei der Maschine, drohe der sichere Kältetod. Doch die Gruppe verliert sich im Schneesturm. Doch als wirklich alles verloren scheint, taucht eine Gruppe Männer auf und führt die entkräftete Gruppe in ein sicheres Tal, in dem hervorragendes Wetter herrscht: Shangri-La.

Sobald die Gruppe wieder zu Kräften gekommen ist, bietet der Mönch Chang (H.B. Warner), scheinbar eine Art Vorsteher des Klosters, das hier mitten im Himalaya in diesem paradiesischen Tal gelegen, entstanden ist, Conway an, ihn herumzuführen und ihm zu erklären, worum es sich hierbei handelt.

Shangri-La wurde vom Hohen Lama, den Conway beizeiten kennenlernen soll, gegründet. Es ist grundlegend ein Kloster, doch beinhalte es alle Weltreligionen, so gäbe es auch taoistische und konfuzianische Tempel. Die klimatischen Bedingungen lassen es zu, das ganzjährig gepflanzt und geerntet werden kann; die Menschen, die hier leben, scheinen glücklich und erstaunlicherweise wirken sie alle gesund und vergleichsweise jung.

Chang erklärt, dass in Shangri-La die Schätze der Menschheit, ihre Ideen, das Wesentliche aus allen Kulturen und Religionen zusammengetragen und geschützt werden. Sie sollen bewahrt werden für die Zeit nach dem „großen Krieg“, der der Welt bevorstünde. Hier aber herrschten Werte, die in der sogenannten zivilisierten Welt längst vergessen seien: Harmonie, Frieden, Ruhe, alles geschieht in einem mählichen Tempo, Handlungen des alltäglichen Lebens werden mit der gebührenden Sorgfalt ausgeführt. Die einzelnen Bereiche des Klostergeländes entsprächen den Bereichen der menschlichen Seele. Grundlegend ginge es hier darum, ein gemäßigtes Leben in Eintracht mit der Natur und dem eigenen Ich zu führen.

Für Robert Conway ist Shangri-La wie eine Antwort auf seine Gebete. Schließlich wird er zum Hohen Lama (Sam Jaffe) vorgelassen, mit dem er lange Gespräche über das Wesen der modernen Welt und im Gegenzug das von Shangri-La führt. In diesen Gesprächen wird auch deutlich, dass Conway keineswegs zufällig hier gelandet ist: Der Hohe Lama hat ihn entführen lassen. Durch eine mysteriöse Dame, Sondra Bizet (Jane Wyatt), die schon lange in Shangri-La lebt, sei er auf Conway, dessen Schriften und sein politisches Schaffen gestoßen und sei der Meinung, Conway gehöre zwingend an diesen Ort.

Entgegen der Annahme, in Shangri-La seien die Menschen unsterblich, wird hier durch Meditation und den sehr gemächlichen und langsamen Lebenswandel das Altern nur extrem verlangsamt. Doch auch der Hohe Lama – ursprünglich ein katholischer Missionar aus Belgien – wird sterben. Er ist nun an die 200 Jahre alt und spürt seine Kraft schwinden. Er bittet Conway, sein Werk fortzusetzen und zum Abschluss zu bringen.

Wenn – so die Annahme des Hohen Lama – die Welt den bevorstehenden Krieg hinter sich habe und die Mächtigen, eine „geistlose Führungselite“, sich schließlich gegenseitig verschlungen habe, dann sei ein Ort wie Shangri-La eine Art Utopia, ein Vorbild für die Sanftmütigen und die Idealisten, wie Conway einer sei; eine Möglichkeit, eine Idee, um eine bessere Welt aufzubauen.

Conway lernt Sondra kennen und verliebt sich in die Dame, die ihm einen ganz eigenen Blick auf Shangri-La offenbart, einen Blick, der mehr als der des Hohen Lama mit der Welt außerhalb der Klostermauern korrespondiert.

Auch die anderen Mitglieder der unfreiwilligen Reisegruppe beginnen, sich zu verändern. Gloria scheint zu gesunden und sie kommt Henry näher, der, eigentlich ein klassischer Kapitalist, der das Betrügen als eine Art Kavaliersdelikt begreift, einen dem Kapitalismus innewohnenden Mechanismus, sich läutert und von seiner Gier ablässt. Beide möchten lieber hierbleiben, als erneut in die Kälte der Welt, wie sie sie kennen, zurückzukehren.

Lediglich George, obwohl er sich in Maria (Margo/Margo Albert), eine Bewohnerin des Klosters, verliebt hat, möchte zurück in das, was er Zivilisation nennt. Für ihn bedeutet das: England. Er möchte Maria mitnehmen. Chang erklärt Robert Conway, dass Maria außerhalb des Klosters nicht werde überleben können. Sie sei tatsächlich um die 70 Jahre alt, auch wenn sie wie 25 aussehe.

George erklärt gegenüber Robert immer wieder, dass er den Ort für eine Schimäre hält, nicht an dessen Wunderkräfte glaube und appelliert auch immer wieder an Roberts Verantwortung gegenüber seinem Land und gegenüber der Welt, die auf ihn warte.

Schließlich schwankt auch Robert Conway und ist bereit – obwohl der Hohe Lama ihm dezidiert die Nachfolge als Oberhaupt des Klosters anbietet, ja, nahelegt – mit George und Maria zu fliehen. George hat alles vorbereitet, sie wollen sich einer Gruppe Sherpas anschließen, die ebenfalls aus dem Kloster fliehen will.

Die Gruppe bricht auf, doch ist der Weg vor allem für Maria zu beschwerlich. Die Sherpas schießen auf die zurückbleibenden Europäer, wodurch eine Lawine ausgelöst wird. Diese begräbt die Sherpas unter sich. Robert, George und Maria finden Unterschlupf in einer Höhle. In Windeseile altert Maria, vergeht und stirbt vor den Augen der Brüder Conway.

George muss einsehen, dass er sich geirrt hat, alle Aussagen über Shangri-La und die dem Ort innewohnenden Kräfte stimmten. Er verfällt in der von ihm empfundenen Schuld einem Wahn und stürzt sich in den Tod.

Robert wandert alleine weiter, scheinbar ebenfalls dem Tod geweiht. Mit letzter Kraft findet er in eine Station, wo er – offenbar unter Gedächtnisverlust leidend – gesund gepflegt wird. Der Premierminister, der Conway unbedingt in seiner Regierung haben will, schickt Lord Gainsford (Hugh Buckler), um Conway nachhause zu bringen. In letzter Sekunde aber erinnert Conway sich an Shangri-La und flieht.

Zurück in London erzählt Gainsford in seinem Club Freunden von Robert Conway, der seinen „verlorenen Horizont“ suche. Niemand wisse, was aus dem Mann geworden ist, aber er wünsche ihm alles Gute. Die Runde stößt auf Conway und sein Utopia an.

In der Schlusseinstellung sehen wir Robert Conway, dem es nach Monaten, in denen er durch das Himalaya geirrt ist, endlich gelingt, Shangri-La wiederzufinden, wo er nun mit Sondra den Traum vom Frieden leben kann…

 

James Hiltons längst zum Klassiker avancierter Roman LOST HORIZON (1933) war zu seiner Zeit nicht einfach nur ein Bestseller, es war eines jener Bücher, die Zeitgeist einfangen, Debatten generieren, Sehnsüchte widerspiegeln, eins jener Bücher, die sowohl Auslöser als auch Gradmesser gesellschaftlicher Befindlichkeiten darstellen.

Die Geschichte um eine entführte Reisegruppe, die sich in einem Kloster namens Shangri-La irgendwo im Himalaya wiederfindet, einem nahezu paradiesischen Ort, an dem die Zeit sehr langsam, wenn überhaupt vergeht und wo die Menschen nicht zu altern scheinen, wo irdische Sorgen und Ängste vergessen sind, wo das Wesentliche des Lebens zum Tragen kommt und Frieden herrscht, traf eine westliche Kultur, die von Krisen geschüttelt und in ständigem Aufruhr war, gefangen in Zwängen und von Untergangsängsten geplagt, an ihren neuralgischen Punkten. Hier gab es einen vermeintlichen Ausweg: Fernöstliche Philosophie, Lamaismus – eine Spielart des Buddhismus -, friedliche Koexistenz aller Menschen untereinander und des Menschen im Einklang mit der Natur. Das einfache Leben. Scheinbar einfache Antworten in damals sehr kompliziert scheinenden Zeiten.

Hiltons Roman hat die westliche Sicht auf den fernen Osten und dessen Philosophien, bzw. Religionen, bis heute maßgeblich mit-geprägt. Als der Roman 1939 als Taschenbuch erschien, wurde er erneut zum Bestseller. Mittlerweile dräute am Horizont der europäischen Wirklichkeit ein neuer Krieg, wobei gerade in England und Frankreich, aber auch in Deutschland, die Erinnerungen an den letzten großen Krieg noch recht frisch waren. Wieder traf LOST HORIZON also den Nerv einer zutiefst verängstigten Gesellschaft, die sich das eine – Frieden und Prosperität – wünschte und auf das andere – Krieg und Zerstörung – sehenden Auges zutrieb. Mittlerweile hatte es aber auch eine außerordentlich erfolgreiche Verfilmung des Stoffes gegeben, die das ihrige dazu beigetragen haben dürfte, den Roman ein zweites Mal an die Spitzen der Bücher-Charts zu pushen. Eine Verfilmung, die der Vorlage erstaunlich gerecht wurde, wenn auch nicht in allen Details der Handlung, so doch in Geist und Seele des Romans.

Frank Capra, zu dieser Zeit einer der erfolgreichsten Regisseure – wenn nicht gar der erfolgreichste schlechthin – Hollywoods, hatte sich die Rechte an Hiltons Buch bereits 1934 durch das Studio Columbia Pictures, für welches er exklusiv arbeitete, sichern lassen. Aufgrund solcher Erfolge wie PLATINUM BLONDE (1931), IT HAPPENED ONE NIGHT (1934) – der erste Film, der in den fünf wesentlichen Kategorien den Oscar gewann – oder MR. DEEDS GOES TO TOWN (1936) konnte sich Capra seine Stoffe quasi aussuchen, eine Besonderheit in den goldenen Jahren des Studiosystems in Hollywood. Unter normalen Umständen bekamen die Regisseure ihre Filme von den ihnen übergeordneten Produzenten, den eigentlichen „Stars“ der Studios hinter den wirklichen Stars auf der Leinwand, zugewiesen und drehten sie nach den Vorgaben und Regeln des entsprechenden Genres. Nur wenigen Regisseuren war es gegeben, schon früh eine eigene Handschrift, einen Stil zu entwickeln oder eine eigene, unabhängige Kreativität in ihre Filme einzubringen – oder gar über das zu verfügen, was als „Final Cut“, als Endschnitt eines Films, bezeichnet wird. Capra gehörte zu diesen wenigen Auserkorenen.

Capras Filme werden heute als typisch liberale Produkte des klassischen Hollywoods gesehen. Dabei war er ein Konservativer, ein in der Wolle gefärbter Republikaner, der der – vielen Konservativen und Rechten gleichsam sozialistisch anmutenden – Politik des New Deal unter dem demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt kritisch gegenüberstand. Aufgrund seiner Zusammenarbeit mit oftmals eher linken Drehbuchautoren – in den Jahren der Großen Depression der 30er Jahre und eben dieses Roosevelt´schen New Deal beileibe keine Seltenheit – wirkten viele seiner Filme jedoch liberal, wenn nicht gar links-progressiv. Tatsächlich war Capra aber auch und vor allem ein Idealist, der an den amerikanischen Traum, an die Möglichkeiten glaubte, die die USA vermeintlich jedem boten, der bereit war hart zu arbeiten. Ein Stoff wie der, den Hilton mit seinem Roman bot – die Utopie eines friedlichen Lebens in Harmonie, fernab aller weltlichen, politischen oder ökonomischen Krisen und Sorgen – musste einen Mann wie ihn faszinieren. Und er hatte das Standing, die bestmöglichen Produktionsbedingungen einzufordern, die ein Studio wie die Columbia Pictures ihm bieten konnten, um solch einen Stoff adäquat umzusetzen.

Capra holte mit Robert Riskin, der das Drehbuch schrieb, und Joseph Walker für die Kamera zwei seiner langjährigen Mitarbeiter an Bord, die Musik vertraute er mit Dimitri Tiomkin und Max Steiner zwei Stars ihres Metiers an, für den Schnitt zeichneten mit Gene Havlick und Gene Milford ebenfalls ihm Vertraute verantwortlich. Die für das Set-Design und die Filmbauten zuständige Abteilung der Columbia Pictures unter Stephen Goosson schuf enorm aufwendige Bauten des Klosters von Shangri-La; bis heute angeblich die größte je gebaute Filmkulisse. Dafür gab es schließlich einen Oscar für das beste Szenenbild. Ein zweiter Oscar ging an Milford und Havlick für den Schnitt, in allen anderen Kategorien, in denen der Film nominiert war – darunter Bester Film und Bester Nebendarsteller – ging er allerdings leer aus.

Riskin wurde bei der Arbeit am Drehbuch von Hilton selbst beraten, der sich einverstanden erklärte, dass einige wenige, dramaturgisch bedingte Änderungen gegenüber dem Roman vorgenommen wurden. So wurde die Figur der Missionarin Brinklow gegen Gloria Stone ausgetauscht, eine junge Amerikanerin, die an einer scheinbar tödlichen Lungenkrankheit leidet, in Shangri-La selbst trifft der Held der Geschichte, Robert Conway, auf Sondra Bizet, die hinzugefügt wurde, um dem Publikum etwas Romantik bieten zu können. Ebenfalls hinzugefügt wurde die Figur des Professors Lovett, der dem Film, der alles in allem sehr ernst geraten ist, etwas Heiterkeit und damit Auflockerung beimischt. Ebenfalls zur Emotionalisierung wird aus dem britischen Vize-Konsul und Stellvertreter Conways, Mallinson, Conways jüngerer Bruder George, der später derjenige sein wird, der seinen Bruder drängt und schließlich überredet, Shangri-La zu verlassen und ihm zu helfen, dorthin zurückzukehren, wo er die „Zivilisation“ vermutet, also nach England.

Die Gruppe ist nicht zufällig so zusammengestellt, wie sie im Film erscheint. Vor allem der von Thomas Mitchell mit der ihm eigenen Ironie gespielte Henry Barnard und die von Isabel Jewell fast anämisch dargestellte Gloria Stone, die der Film kaum verhohlen als Prostituierte kennzeichnet und – gleichsam eine Strafe für lüsternes Leben – mit einer lebensbedrohlichen Lungenkrankheit ausstattet, stehen symbolisch für die Laster und die Verkommenheit der westlichen Zivilisation. Barnard ist ein Betrüger auf der Flucht, der lange braucht, um zu begreifen, dass sein Handeln – in seinen Augen eine Art Kavaliersdelikt, scheint der Betrug doch eine im Kapitalismus gängige, ja, diesem gleichsam eingeschriebene Regel zu sein – schädlich ist und andere möglicherweise ins Verderben stürzt. Gloria Stone steht mit ihrem Lebenswandel, den sie im Laufe der Zeit, die sie in Shangri-La verbringt und in der sie zusehends gesundet, in Frage stellt und dem sie schließlich, angewidert von sich selbst, abschwört, für die westliche Dekadenz und ihre Lasterhaftigkeit. Beide finden zueinander und wollen im Kloster glücklich werden, beide stehen also auch für eine Umkehr, für die Möglichkeit, dass die Idee von Shangri-La tatsächlich der Welt Heilung und Erlösung bringen kann.

Auch Professor Lovett, der ein seltenes Fundstück bei sich führt, welches angeblich die Evolutionstheorie auf den Kopf stellen könnte, ist ein, wenn auch anders geartetes, Symbol der westlichen Welt. Zwar ist er der Typus des zerstreuten Professors und, es wurde bereits angemerkt, seine Figur trägt auch und vor allem zu einer gewissen humoristischen Auflockerung eines ansonsten sehr ernsten Films bei, doch zugleich steht er auch für das – aus der Sicht Shangri-Las vergebliche – Bemühen des Menschen, allen Geheimnissen der Natur auf die Spur zu kommen und so jede Mystik, jegliche Magie der Welt aus dieser zu vertreiben. Und auch Ruhm wird in dieser Figur gegeißelt, denn natürlich weiß der Professor um die Bedeutung seines Funds und dass sie ihm einen Eintrag in die Geschichtsbücher bringen würde. Auch dies also ein typisches Merkmal der westlichen Zivilisation und ihrem ewigen Streben nach vermeintlich Höherem.

Mit der Figur des Henry Barnard trägt Capra tatsächlich auch konkrete Kapitalismus-Kritik in den Film. Wie vielen – damaligen – Konservativen, war auch Capra der ungezügelte, betrügerische Kapitalismus, das, was wie gern „Raubtierkapitalismus“ nennen und was in den USA der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer noch weit verbreitet war, ein Dorn im Auge. Capras Filme weisen fast immer kritische Untertöne gegenüber diesem Aspekt des American Way of Life auf. Und damit stand er keineswegs allein. Selbst ein strukturell doch eher konservatives Film-Genre wie der Western war immer auch von einer immanenten Kapitalismus-Kritik geprägt. Hollywood galt als liberal, doch ganz sicher waren weder Sam Goldwyn, Louis Mayer, Harry Cohn, Jack Warner und wie all die Studiobosse hießen, dem Dollar gegenüber abgeneigt, ganz im Gegenteil. Und doch stellte Hollywood, gerade in seiner klassischen Ära, den sogenannten „goldenen Jahren“, trotz all dem Protz und der Zurschaustellung von Glitter und Glamour immer auch ein Korrektiv gegenüber all dem Überbordenden dar, das die amerikanische Gesellschaft ausmachte. Vielleicht lag es daran, dass die Bosse sehr genau verstanden, dass die, die ihnen den Reichtum sicherten, die Kinogänger, in den meisten Fällen eben nicht reich waren und es auch niemals sein würden. Da der Film ein, seinem Wesen nach, demokratisches Medium ist, musste er sich also mit den „normalen“ Menschen gemein machen, ihre Sprache sprechen, ihre Sicht teilen. Und das tat er.

Robert Conway wird gegenüber Barnard, Stone und Lovett – und letztlich auch gegenüber seinem Bruder George, der, als es drauf ankommt, sich als „typischer“ Vertreter westlichen Denkens und Fühlens entpuppt – als ein Idealist, als ein Intellektueller aufgebaut, der, vielleicht ein wenig weltfremd, optimistisch bleibt, selbst, wenn die Welt um ihn herum in Flammen aufzugehen scheint. Zugleich ist er aber – und das ist wesentlich für seine Charakterisierung – auch zupackend, ein Macher, ein Mann, der weiß, was zu tun ist, wenn es drauf ankommt. Er ist derjenige, der Menschen rettet, er ist ein Mann, dessen Wort überall in Europa Gewicht zu haben scheint, er wird, zumindest in der Beschreibung seines Bruders, gleichsam zu einem Retter der Menschheit erkoren. Im Grunde, und das spielt eine große Rolle sowohl im Buch, als auch im Film, wenn dort auch nicht explizit, ist Robert Conway exakt das, was er ja eben nicht sein will: Ein Held.

Im Buch wird die Entscheidung Conways, ob er in Shangri-La bleiben oder aber in die Zivilisation zurückkehren soll, von einem inneren Diskurs über den „Helden“ und darüber, wie ein „Held“ sich seiner Verantwortung zu stellen habe, begleitet. Es ist ein äußerst einprägsamer und damaliges Denken spiegelnder Aspekt des Romans, welchen der Film – seinem Wesen, auf Äußeres angewiesen zu sein, entsprechend – nur rudimentär wiedergeben kann. Und doch gehört dieser Diskurs zur Grundierung des Films, zu seinem weißen Hintergrundrauschen. Gleiches gilt für die Philosophie, die in Shangri-La herrscht. Ruskin und Capra gelingt es in langen Dialogsequenzen, die oft komplizierten und hintersinnigen Gedanken wiederzugeben, die der Mönch Chang und der Leiter Shangri-Las, der Hohe Lama, entwickelt haben und die im Kern eine Friedensbotschaft bedeuten, die darauf ausgelegt ist, die Schätze der Welt, aller Zivilisationen und Kulturen aufzubewahren und zu schützen für eine Zeit nach einem bevorstehenden „großen Krieg“. Shangri-La ist das Vorbild einer Gemeinschaft, die sich auf das Wesentliche besinnt, auf innere Ausgeglichenheit, auf seelisches Gleichgewicht, auf ein Auskommen mit der Natur, auf Ruhe, Frieden und Hoffnung.

Dass dieser Hohe Lama ein ehemaliger katholischer Missionar ist, der westliche, christliche mit fernöstlicher buddhistischer Mystik mischt, gibt all diesem zunächst so harmonisch Wirkendem ein gewisses Geschmäckle. Man kann es James Hilton aus der heutigen Zeit heraus nur schwer vorwerfen, doch ist das geistige Konstrukt hinter Shangri-La ein durch die eurozentrische Perspektive geprägtes. Man kann in Hiltons Konstruktion sogar sehr deutlich ein imperiales, britisches Bewusstsein erkennen, das sich bei allem Wunsch nach Erlösung, Frieden und Hoffnung eben doch nicht von den Prägungen seiner Heimat zu lösen und etwas radikal Neues zu denken vermag. Dafür steht letztlich auch die Figur des Robert Conway. Der Film beginnt – darin deutlich gestraffter und sich abhebend vom Buch – mit der Evakuierung vor allem weißer Ansässiger aus dem (fiktiven) Ort Baskul irgendwo in China nach Shanghai. Und obwohl Conway, dem Hilton ja eine deutlich pazifistische Geisteshaltung angedeihen lässt, kritisiert, dass es ausschließlich Weiße sind, die hier den kriegerischen Aufständen entkommen, setzt er dies doch mit eiserner Härte durch. Während des rettenden (letzten) Fluges fort aus der aufrührerischen Stadt, sinnieren er und sein Bruder dann ausgiebig über das Für und Wider einer pazifistischen Haltung in kriegerischen Zeiten. Conway winkt der Job als britischer Außenminister, was ihm laut seines Bruders große Möglichkeiten gäbe, in Europa mäßigend auf die Entwicklungen einzuwirken. Hier sind die Brüder noch ganz beieinander, sind sich ihrer Sache sicher und sind sich einig, dass und wie sie durchzusetzen sei.

1936/37, als der Film entwickelt wurde und entstand, stand genau diese pazifistische Haltung vielerorts noch hoch im Kurs, nicht zuletzt in Großbritannien, dessen damaliger Premierminister Neville Chamberlain 1938 maßgeblich für das – von Männern wie Winston Churchill schon da kritisierte und als naiv abgetane – Münchner Abkommen zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien verantwortlich zeichnete, in welchem das bis dahin tschechische Sudentenland Deutschland zugesprochen wurde. Ein Akt, der als Appeasement-Politik bekannt wurde, da er den erwarteten und von Hitler provozierten Krieg lediglich aufschob, nicht verhinderte. Ein Akt übrigens, von dem die meisten Historiker heute behaupten, dass er Hitlers militärischem Machtvorsprung Vorschub geleistet hätte. Ein Akt, der den bald darauf beginnenden Weltkrieg um zwei, möglicherweise drei Jahre verlängert habe. Aber das ist natürlich Spökenkiekerei. 1937 gab es, nicht zuletzt in den durchaus noch stark isolationistisch ausgerichteten Vereinigten Staaten, etliche, die eine pazifistische Politik bevorzugten. Riskins Drehbuch und Capras Regie entsprachen mit dem stark pazifistisch ausgerichteten Fokus also gängigen Ansichten. Ja, sie unterstützten diese sozusagen.

Buch und Regie nehmen sich im Laufe des Films immer wieder Zeit für die bereits erwähnten, ausgedehnte Dialogsequenzen. Vor allem zwischen Conway und dem Hohen Lama kommt es zu ausführlichen Gesprächen, in denen der alte Mönch seinem Gast – nichts anderes ist Conway, dessen Flugzeug bewusst entführt wurde, wollte man ihn aufgrund seiner Veröffentlichungen und öffentlichen Taten und Bekundungen doch nach Shangri-La lotsen – diesen scheinbar so paradiesischen Ort erklärt, ebenso das Anliegen, das ihm zugrunde liegt, seine Funktionsweise und weshalb die Menschen hier scheinbar so alt werden. Und schließlich bietet er ihm seine Nachfolge an. Capra inszeniert diese Szenen mit äußerster Ruhe, fast meditativ. Lange verweilt die Kamera auf den Gesichtern der Beteiligten und es ist in diesen Momenten nicht zuletzt den Schauspielern zu verdanken, dass sie funktionieren und nicht erstarren, das Publikum nicht langweilen. Im Gegenteil – dadurch, wie Kameramann Joseph Walker das Licht setzt, erhalten diese Szenen etwas geradezu Mystisches, etwas Erhabenes und auch Enthobenes, als trete Conway in diesen Momenten des Gesprächs in eine andere, eine transzendentale Sphäre des Daseins ein, in welcher er höhere Weihen empfängt.

Ronald Colman, den Capra explizit für die Rolle des distinguierten Briten Robert Conway wollte, gelingt es, mit seiner Mimik die Sehnsucht zu vermitteln, die diesen pazifistisch veranlagten Mann umtreibt; man versteht, weshalb er, der doch genauso zu schnellen und auch harten Entscheidungen fähig ist, wie uns die Eingangssequenzen während der Evakuierung bewiesen haben, von einem Leben in der Abgeschiedenheit träumt. Womöglich wäre es gar nicht nötig gewesen, ihm die Liaison mit Sondra Bizet anzudichten, die schon lange in Shangri-La lebt und die maßgeblich dafür verantwortlich war, dass Conway hier Bekanntheit erlangte. Man hätte Conway/Colman den Traum vom Frieden und den Wunsch in dieses Paradies in den Bergen zurückzukehren auch ohne das romantische Motiv abgenommen.

Die Veröffentlichungsgeschichte des Films wäre einen eigenen Artikel wert, doch in der schließlich vorliegenden Fassung von ca. 130 Minuten[1] überwiegen die Dialogsequenzen und ruhigen Szenen, in denen Conway die Vorzüge Shangri-Las entdeckt deutlich gegenüber jenen Szenen, die Action und Abenteuer bieten. Das ist ungewöhnlich für einen Hollywood-Film jener Jahre und zeigt einmal mehr das Ausnahmetalent Frank Capras. Wie es ihm gelingt, sein Publikum zu fesseln und durch die wunderbaren Außenaufnahmen, die in und um Los Angeles herum entstanden und eine friedliche Landschaft, ein wahres Paradies zeigen, immer wieder für die Idee des Friedens und eines friedlichen Zusammenlebens einzunehmen, das zeugt von dem unglaublichen Können dieses Regisseurs, dessen Filme nicht umsonst auch heute noch packen.

Dass LOST HORIZON dennoch als Abenteuerfilm tituliert wird, hat sicherlich mit den ebenfalls atemberaubenden Massenszenen zu Beginn des Films und vor allem mit jenen Momenten zu tun, in denen das Flugzeug, das Conway und seine Entourage aus Baskul ausfliegt, in Turbulenzen gerät und mitten in der Bergwelt des Himalaya abstürzt. Die Szenen im Schneesturm – wie zuvor schon die von Kameramann Elmer Dyer verantworteten Flugszenen – sind aufregend und actiongeladen, jeden Moment glaubt man dem Film die Bedrohlichkeit für die Protagonist*innen durch Eis und Kälte. Und auch die Schneelawine am Ende des Films ist atemberaubend umgesetzt und wirkt sehr realistisch und somit überzeugend gefährlich. Capra wusste natürlich, was er seinem Publikum schuldig ist, er verstand genau, wie man es abholen und einbinden musste, um ihm dann ganz anders gelagerte Ideen zu vermitteln, als der Beginn des Films vielleicht vermuten lässt. Allerdings konnte der Regisseur sich darauf verlassen, dass ein Großteil seines Publikums den Roman kannte und also wusste, was es zu erwarten hatte.

LOST HORIZON ist in mancherlei Hinsicht also recht gut gealtert. Die Effekte sind wie erwähnt immer noch sehenswert, die Schauspieler sind überzeugend, die Dramaturgie stimmt, auch wenn man heute Vieles anders inszenieren würde, auch die Dialogszenen. Im Mittelteil vielleicht etwas schwerfällig, gelegentlich aufgelockert durch lustige Gespräche am Abendbrottisch, bei denen sich die unfreiwillige Reisegruppe über ihre Erfahrungen und Ideen hinsichtlich dieses seltsamen Orts, an den es sie verschlagen hat, austauscht, und dann zum Schluss hin doch wieder an Rasanz zunehmend, wenn Conway schließlich einwilligt, seinen Bruder und dessen Liebe Maria in die „Zivilisation“ zurück zu begleiten, trägt der Film über seine gesamte Länge. Und in Zeiten, die ja wiederum sehr angespannt sind, in denen erneut Autokraten und Diktatoren sich anschicken, die Welt nach ihrem Gutdünken umzukrempeln, könnte auch seine Botschaft wieder verfangen.

Doch an diesem Punkt wird es heikel und dementsprechend interessant. Denn, wie bereits weiter oben angemerkt, vertritt der Film dann doch ein westliches, letztlich sogar kolonial geprägtes Weltbild. Man spürt in dieser Geschichte, wie stark die Prägung durch das 19. Jahrhundert noch nachwirkte, als „Globalisierung“ noch mit „Imperialismus“ und „Kolonialismus“ gleichzusetzen war. Dass der Hohe Lama in Shangri-La ausgerechnet ein katholischer Missionar gewesen ist, spricht da im Grunde Bände. Nahezu unhinterfragt übernimmt der Film dieses Element des Romans und stellt es vollkommen unkritisch aus. Dass und in welchem Maß gerade auch durch die katholische Missionsarbeit in jenen Teilen der Welt, die wir so gern die „dritte“ genannt haben, ungeheures Leid verursacht wurde, lassen Buch und Film vollkommen außer Acht. Sicher, 1937 war genau das auch noch kein Thema – aber genau daran spürt man dann eben doch die Historizität eines Films wie diesem.

So sehr wir heute wieder in unruhigen Zeiten leben mögen, ein Film wie LOST HORIZON wird uns auf die Fragen unserer Zeit keine Antworten mehr liefern können. So gesehen ist dies einfach ein nostalgischer Trip in eine Zeit, als selbst die Krisen und die dahinter aufschimmernde Zukunft noch sehr viel leichter zu ertragen gewesen sein mögen. Denn die Menschen in diesem Film glauben fest an das Gute in sich und an das der Spezies. Das unterscheidet sie doch fundamental von uns Heutigen.

 

[1] Es entstand zunächst eine ca. 210 Minuten lange Fassung, die für die Uraufführung auf 132 Minuten gekürzt wurde. Da der Film so überdeutlich pazifistische Tendenzen aufwies, wurde er in den Folgejahren immer weiter gekürzt und seine Aussage den Gegebenheiten unter Kriegsrecht angepasst. Erst spät, 1973, wurde begonnen, die ursprüngliche Fassung wieder herzustellen; heute liegt der Film in einer durch Standbilder und teils auch durch Schwarzbilder aufgefüllten Fassung vor, die zumindest die erhaltene Tonspur des ursprünglichen Films wiedergibt.

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