DAS BRAUNE NETZ. WIE DIE BUNDESREPUBLIK VON FRÜHEREN NAZIS ZUM ERFOLG GEFÜHRT WURDE

Willi Winkler entführt seine Leser*innen in die frühen Jahre der Republik (West) und verdeutlicht noch einmal die Kontinuitäten nazistischen Denkens

Die viel besungene „Stunde Null“, es gab sie nicht. Für Interessierte keine sonderlich neue Nachricht, im Gegenteil. Mittlerweile ist es schon eher eine Binse, dass viele, viele Parteimitglieder der NSDAP, aber auch Angehörige der SS und höhere Ränge der Wehrmacht nach einer gewissen Schamfrist, die in vielen Fällen bereits 1947 oder 1948 abgelaufen war, in der neu entstandenen Republik unter- und ankamen, dort Bleibe und Einkommen fanden und viele sogar eine zweite Karriere machen konnten – oftmals in genau jenem Metier, in welchem sie auch im Dritten Reich schon reüssiert hatten. Gerade in der Politik – bspw. im Auswärtigen Amt, das sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten allerdings große Mühe gegeben hat, diese Geschichte aufzuarbeiten – aber auch in den nach und nach entstehenden geheimen Diensten und ab 1955 in der neu gegründeten Bundeswehr, kamen etliche durchaus Belastete unter. Und viele von ihnen konnten in den Medien, in den Kulturinstitutionen oder den Universitäten Fuß fassen und bereits begonnene, kurzzeitig unterbrochene oder erst noch einsetzende akademische Laufbahnen einschlagen.

Wozu also sollte noch einmal an diesen Teil bundesrepublikanischer Geschichte erinnert werden? Wer Willi Winklers Buch DAS BRAUNE NETZ. WIE DIE BUNDESREPUBLIK VON FRÜHEREN NAZIS ZUM ERFOLG GEFÜHRT WURDE (2019) liest, wird der Antworten bald fündig werden und schnell verstehen, weshalb es eben immer wieder notwendig ist, auch und gerade an diese frühen Jahre des westlichen Teils des „neuen Deutschlands“ zu erinnern. Winklers Verdienst nämlich ist es, eben nicht die schon hundertfach aufgezählten Verwicklungen, Vernetzungen und Missetaten der „Organisation Gehlen“, des späteren BND, und ihres Anführers Reinhard Gehlen aufzuzählen und damit nur einmal mehr vom Gleichen zu bieten – wobei auch diese Aspekte nicht außer Acht gelassen und behandelt werden – sondern vielmehr den Fokus seiner Betrachtungen auf eher unterbelichtete Seiten des Wiederaufbaus einer zivilen Gesellschaft zu legen und dabei andere, bisher weniger genutzte Perspektiven einzunehmen.

So sind es vor allem die Kulturschaffenden und die entsprechenden Institutionen, in denen sie arbeiteten, sowie die Medien, denen er in seinem in sieben Schwerpunktkapitel unterteilten Werk immer wieder seine Aufmerksamkeit widmet. Schon im ersten Kapitel geht er eindringlich auf die kulturellen Kontinuitäten ein, führt an, wer sich in der gerade entstandenen Filmwirtschaft schnell wieder Geltung verschaffen und teilweise bruchlos an jene seichte Unterhaltung anknüpfen konnte, die schon unter dem in dieser Funktion auch und gerade für die Filmproduktion im Dritten Reich verantwortlichen Präsidenten der Reichskulturkammer Joseph Goebbels so hoch im Kurs gestanden hatte. Winkler verfolgt sie Wege von Regisseuren, Schauspielern und Dramaturgen bis in die späten Jahre der Republik und kann veranschaulichen, wie sich Denken und Prägung der Nazi-Diktatur lange fort- und festsetzen konnten. Unter anderem in Krimiserien wie DER KOMMISSAR (1969-1976) oder DERRICK (1974-1998), deren Erfinder und Autor Herbert Reinecker Angehöriger einer Propagandaabteilung der Waffen-SS war. Doch auch die späteren Karrieren diverser „Fachleute“ wie Josef Mengele u.a., die sich absetzten und teils in renommierten Einrichtungen in den Vereinigten Staaten, teils allerdings „nur“ in ominösen Bananenrepubliken in Südamerika oder im Nahen Osten Unterschlupf fanden, werden in diesem Kapitel erwähnt und genauer unter die Lupe genommen.

Winkler widmet sich nach und nach dem Hass auf Kommunisten als sinnstiftendes Element der jungen Bundesrepublik, wodurch sie vergleichsweise schnell wieder in den Kreis der westlichen Länder aufgenommen wurde; er untersucht den Geist der Remilitarisierung; betrachtet am Beispiel von Hans Egon Holthusen jenen schwer erträglichen und doch faszinierenden „Schuldkult“ (um ein böses Wort einmal in einem besseren Rahmen zu verwenden), den einige SS-Männer betrieben, indem sie sich offen dazu bekannten, „dabei gewesen zu sein“[1], zugleich aber keine Scham zeigten, ehemalige Opfer zu verhöhnen – oder bestenfalls gönnerhaft von oben herab zu belehren, dass „Opfer“ meist nicht objektiv urteilen könnten, wie es Holthusen u.a. mit Jean Améry und auch gegenüber Thomas Mann tat; Winkler zeichnet anhand des Beispiels des Germanisten Hans Schwerte, vormals SS-Mann Hans Schneider, nach, wie auch in den Geisteswissenschaften der „alte Geist“ überdauern konnte, wenn er dabei auch teils seltsame und wunderliche Windungen und Wendungen nahm; er kann anhand Adenauers doch recht eigenwilliger Auslegung von Demokratie, der Meinungs- und vor allem der Pressefreiheit nachweisen, wie selbst durch jene, die des Nazismus tatsächlich unverdächtig waren, der vordemokratische, teilweise der Geist des Kaiserreichs auch die Bundesrepublik noch durchtränkte und natürlich auch infiltrierte; schließlich wendet sich Winkler im letzten Abschnitt jenem Aufbruch der 60er und 70er Jahre zu, der im Guten Kennedy und Willy Brandt und die Studentenrevolte der 68er und daraus hervorgehend jene Graswurzelbewegungen hervorbrachte, aus denen schließlich eine Partei wie die Grünen erwuchs; im Schlechten allerdings mit den Auswüchsen eben dieser Studentenrevolte in Terrorismus und komplett übertriebenen staatlichen Gegenmitteln mündete.

Dabei tauchen immer wieder dieselben Figuren und Personenkreise im Umkreis von Politikern, in Funk und Medien auf, und nach und nach entsteht ein Panorama jener 50er Jahre, die die Jüngeren (zu denen sich in diesem Kontext auch dieser Rezensent, Jahrgang 1969, noch rechnen darf) nur aus Erzählungen kennen. Die bleierne Schwere der Adenauer-Jahre, als „Ruhe“ wieder (oder, besser: noch) „erste Bürgerpflicht“ war, man es sich zwischen Heimatfilm und Gelsenkirchener Barock gemütlich machte und weitestgehend der Meinung war, dass mal „Schluss“ sein müsse mit Nazi-Vergangenheit und Schuldeingeständnis. Natürlich ohne zu ahnen, dass dahingehend das „Schlimmste“ erst noch kommen sollte. Vielmehr – auch das wird durch Winklers Beschreibungen deutlich – konnte man sich selbst als „Hitlers erste Opfer“ gerieren, hatte man doch unter dem alliierten Bombenhagel gelitten, hatte fast jede Familie Kriegstote – Soldaten und/oder Zivilisten – zu beklagen und hatten über zwölf Millionen Vertriebene ihre Heimat in den östlichen Staatsgebieten verloren; ja, überhaupt hatte Deutschland ein Drittel seines Staatsgebiets verloren und war obendrein aufgeteilt in vier Sektoren. War man mit all dem nicht genug gestraft? Das sahen damals auch heute als liberal oder gar links angesehene Blätter wie DIE ZEIT und der SPIEGEL so.

Es erstaunt, wie deutlich sich auch ein Rudolf Augstein anfänglich zu einem eher nationalistischen Deutschlandbild bekannte und dass auch beim SPIEGEL, dessen Renommee als „Sturmgeschütz der Demokratie“ vor allem durch die SPIEGEL-Affäre 1962 entstanden ist, etliche ehemalige Nationalsozialisten und SS-Angehörige untergekommen waren. Gleiches gilt für die ZEIT und andere, auch heute noch existente, hochseriöse Blätter wie die Süddeutsche Zeitung oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Es sind vielleicht diese das gesamte Buch durchziehenden Erkenntnisse und Einsichten, die Winklers Werk bedeutsam machen. Denn Vieles geht verloren, wenn man sich – was der Autor selbstredend auch tut – nur auf Hans Globke und dessen – obwohl nie Mitglied der NSDAP – unrühmliche Rolle im Dritten Reich und seinen späteren Einfluss auf den ersten Bundeskanzler der Nachkriegszeit kapriziert.

Winkler – wer seine bisherigen Werke kennt, weiß das – schreibt launig, oft ironisch und manchmal, wenn das, was es zu berichten gilt, allzu unerträglich wird, auch am Rande des Zynismus. Er müht sich um Zurückhaltung und „objektive“ Berichterstattung, wohl wissend, dass das bei diesen Themen, die er da bearbeitet, schlicht nicht möglich ist. Und doch gelingt es ihm, aufzuzeigen, weshalb es vielleicht sogar notwendig war, das Land mit all diesen zumindest Belasteten, wenn nicht gar mit wirklichen Verbrechern, neu aufzubauen; schlicht, weil in vielerlei Hinsicht niemand anderes zur Verfügung stand. Anhand eines Romans wie Christoph Heins eben erschienenen DAS NARRENSCHIFF lässt sich gut nachvollziehen, was passiert, wenn man es anders versucht, wenn man geschulte Parteikader einsetzt, moralisch und ideologisch womöglich einwandfrei, leider aber oftmals auch frei von Fachkenntnissen. Winkler kann nerven, wenn er minutiös jede SS- und Parteimitgliedschaft aufzählt, wenn er immer wieder zurückverweist auf teils schon Dutzende Seiten zuvor Erwähntes und Belegtes. Und doch – oder gerade – deshalb ist seine Studie so eindringlich, weil sie den Leser*innen tatsächlich noch einmal so ausführlich vor Augen führt, wie es sein konnte, dass seine Generation Plakate hochhielt, auf denen „Unter den Talaren, Muff von tausend Jahren“ angeprangert werden musste. Wie schrecklich diese Kontinuitäten waren und dennoch auch notwendig. Ob es Winkler gelingt, die Notwendigkeit hinreichend zu belegen, sei einmal dahingestellt, das sollen die Leser*innen jeweils für sich entscheiden.

Vielleicht gerät das alles an irgendeinem Punkt zu sehr zur Aufzählung, mag sein. Na und? Es tut Not, gerade in Zeiten, in denen die sogenannte „neue Rechte“ sich massiv in den Vordergrund drängt und sich anschickt, den kulturellen „vorpolitischen“ Raum zu erobern und mit ihren spezifischen Themen zu füttern und zu bespielen, daran zu erinnern, was es gekostet hat, diese Republik mit all ihren Macken, Unzulänglichkeiten und Geburtsfehlern überhaupt erst einmal aufzubauen und nach und nach zu verbessern, zu verfeinern und zu einem doch ganz lebenswerten Landstrich zu machen. Und das soll nun einfach so eingerissen werden? Weil ein paar Leutchen schlechte Laune haben? Es braucht mehr Werke wie Winklers DAS BRAUNE NETZ.

 

[1] In Paraphrase eines Buchtitels von Franz Schönhuber; ehemaliger SS-Mann und später Journalist und Mitgründer der Republikaner; einer der erfolgreicheren frühen Versuche, eine rechtspopulistische Partei in Deutschland zu etablieren.

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