DIE AMBIVALENZ DES VOLKES. DER NATIONALSOZIALISMUS ALS GESELLSCHAFTSGESCHICHTE

Ein bemerkenswerter und aufschlußreicher Sammelband

In der Forschung zum Nationalsozialismus lag der Fokus lange Zeit auf den Jahren des Krieges, auf der Vernichtung der Juden, Sinti, Roma, der Homosexuellen und sonstiger „Volksfeinde“. Die Täter rückten in den Mittelpunkt und in strukturalen Analysen wurde versucht nachzuvollziehen, wie es zu all dem kommen konnte. Es dauerte, bis die frühen Jahre des NS-Regimes stärker beachtet wurden und somit gerade auch jene Zeit, in der der Vernichtungswille, der sich allerspätestens mit der berühmt-berüchtigten Wannseekonferenz zur „Endlösung der Judenfrage“ im Januar 1942 und dem darauf folgenden Beginn der seriellen, maschinellen und in Todesfabriken wie den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor oder Majdanek in Gang gesetzten Massentötungen ausdrückte, zwar bereits latent vorhanden war, jedoch nach den frühen – politidchen – Säuberungsaktionen noch im Zaum gehalten wurde. Die Frage, wie ein ganzes Volk, eine Bevölkerung, dazu gebracht werden konnte, auch dabei mitzugehen, auch wenn sie über das wahre Ausmaß des Tötens im Ungewissen gelassen wurde, wurde immer dringlicher. Hatte man durchaus vielschichtige Antworten auf die Frage gefunden, wie es überhaupt zum Aufstieg der Nazis kommen konnte, so stand die Forschung doch relativ ratlos vor dem Komplex, daß trotz der Unmenschlichkeit des Regimes, trotz des Krieges, trotz des Leids, das spätestens mit den Flächenbombardements der Alliierten auch über die Zivilbevölkerung gekommen war, dennoch das Gros der deutschen Bevölkerung weiterhin hinter Hitler und seinen Mordgesellen stand, daß es kaum wirklich nennenswerten Widerstand gegeben hatte, geschweige denn ernsthafte Aufstände oder Revolten gegen eine Führung, einen Führer, der das Land so offensichtlich in den Untergang zu führen gewillt war. Denn spätestens nach dem Fall von Stalingrad und dem Einbruch der Ostfront war Vielen klar, daß der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte.

In den 1990er und den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts wand sich die Forschung mehr und mehr dem Alltag unter dem Hakenkreuz zu. Arbeiten wie Götz Alys HITLERS VOLKSSTAAT. RAUB, RASSENMORD UND NATIONALER SOZIALISMUS (2006) oder, als Herausgeber, VOLKES STIMME. SKEPSIS UND FÜHRERVERTRAUEN IM NATIONALSOZIALISMUS (2006), aber auch Werke von Ian Kershaw und anderen, warfen ein Schlaglicht auf die Politik der Nazis, die sich nicht direkt mit Antisemitismus, rassistischer oder völkischer Ideologie beschäftigte, sondern vielmehr dafür verantwortlich war, die Bevölkerung, das „Volk“, das als Zeichen und Bezeichnung so wesentlich für das NS-Denken war, einzubinden, mitzunehmen, zu umgarnen. Renten- und Sozialgesetzgebung, das Versprechen eines von Klassen- oder Schichtzugehörigkeit unabhängigen Aufstiegs, die Einbindung in etliche Organisationen, die schnell Jugendverbände, Gewerkschaften, berufliche und private Einrichtungen ersetzten, aber auch Repression und vor allem ununterbrochene Propaganda, die immer auch zugleich antisemitisch, völkisch und rassistisch war, wurden immer genauer untersucht. Einzelne Dachverbände, aber auch Ministerien, Organisationen und Institutionen, ließen nun die eigene Vergangenheit in der NS-Zeit durchleuchten und stellten sich ihrer Beteiligung am Aufstieg der Nationalsozialisten, aber auch daran, daß das Regime lange, viel zu lange, an der Macht sich halten konnte.

In diese Reihe gehört auch Michael Wildts sehr aufschlußreicher Band DIE AMBIVALENZ DES VOLKES. DER NATIONALSOZIALISMUS ALS GESELLSCHAFTSGESCHICHTE (2019). Man muß allerdings vorausschicken, daß es sich hierbei nicht um eine eigenständige Untersuchung, Analyse oder Studie handelt, sondern, bis auf wenige Ausnahmen, um eine Sammlung von Aufsätzen und Beiträgen zu Sammelbänden und in einschlägigen Publikationen. Das schmälert den Verdienst dieses Buchs allerdings keineswegs. Die einzelnen Beiträge wurden überarbeitet, die Literaturhinweise aktualisiert. Viele dieser Texte sind in Zusammenarbeit mit anderen Forschern und Forschenden entstanden.

Wildt unterteilt das Buch in fünf große Abschnitte – Volksgemeinschaft, Antisemitismus als Alltagspraxis, Arbeit und Lager, Politische Theorie des Nationalsozialismus, Nach 1945 – und diese jeweils in zwei, drei oder vier Kapitel. Es kommt gelegentlich zu Überschneidungen und Wiederholungen, vor allem dort, wo Engführungen und die Konzentration auf einzelne Personen in den Vordergrund rücken. So widmet sich Wildt in mehreren Kapiteln der Staats- und Rechtstheorie Ernst Fraenkels und setzt sie in Bezug zu den Überlegungen Carl Schmitts, jenes für die NS-Herrscher so wesentlichen Staatsrechtlers, dem es wiederholt gelang, offensichtliches Unrecht so in philosophische Überlegungen zu Volksgemeinschaft, Souveränität und sein berühmtes Freund-Feind-Schema zu überführen, daß selbst ein Unrechtsregime sich durchaus legitimiert fühlen konnte. Gleiches gilt für Texte zu Detlev Peukert und Victor Klemperer. Allerdings nutzt er gerade die Werke dieser Autoren, um auf den Alltag im Nationalsozialismus (Klemperer), sowie die Frage nach dem Forschungsstand zum Nationalsozialismus und dessen Verortung in der Moderne (Peukert) einzugehen.

Ohne damit eine qualitative Aussage treffen zu wollen, stechen einige Beiträge doch heraus. Zum einen ist dies ein etwa in der Mitte des Buchs eingefügter Artikel über fotografische Repräsentationen des Alltäglichen und des Un-Alltäglichen, wobei man es hier eher mit einem Beitrag zu Methodik und neuen Forschungsfeldern zu tun hat, der dennoch sehr bemerkenswert ist. Anhand dreier Fotografien – dem scheinbaren Schnappschuß einer Frau auf einer Bank, im Hintergrund ein Banner: „Die Juden sind unser Unglück“; dem Bild zweier badender Soldaten an der Ostfront, im Hintergrund eine zerstörte Brücke; der Fotografie eines Umzugs, bei dem eine junge Frau von SA-Männern durch die Straßen einer Stadt geführt wird, sie trägt ein Schild um den Hals, das sie als „Rasseschänderin“ ausweist, die Mitlaufenden lachen, recken die Arme zum Hitlergruß, es herrscht eine Volksfestatmosphäre – versuchen Wildt und seine Ko-Autoren (Linda Conze und Ulrich Prehn) herauszuarbeiten, wie man diese Bilder analysieren kann, was genau sie darstellen und welche Rückschlüsse sie auf Zustimmung, Ablehnung oder indifferentes Verhalten der Bevölkerung zulassen.

Ähnlich interessant, allerdings noch aufschlußreicher, ist jenes Kapitel, das sich mit dem Begriff der Arbeit unter den Nationalsozialisten auseinandersetzt (und deutlich mit Alys Arbeiten korrespondiert). Daraus resultierend entwirft Wildt eine Typologie der Lager, die die Nazis betrieben, wobei er das Hauptaugenmerk eben nicht auf die Konzentrations- und Vernichtungslager legt, sondern auf die zahllosen Vorläufer. Dabei – und dies spielt in Wildts Analyse so oder so eine herausragende, übergeordnete Rolle, vor allem in Bezug auf den immer mitschwingenden Antisemitismus, sowie den von den Nazis beschworenen „Volkscharakter“ – kommt er wiederholt auf das Begriffspaar „Inklusion“ und „Exklusion“ zu sprechen. So gab es „Gemeinschaftslager“, die man, ohne verharmlosen zu wollen, als „Umerziehungslager“ kennzeichnen könnte, in denen Menschen eingesperrt waren, die in die „Volksgemeinschaft“ reintegriert werden sollten, und „Zwangslagern“, die für jene vorbehalten waren, die aus Sicht des Regimes nicht zur „Volksgemeinschaft“ gezählt wurden, also vor allem Juden, Homosexuelle, Sinti, Roma, „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“. Die Übergänge – exemplarisch am Lager Dachau zu verfolgen – von Inklusions- zu Exklusionslagern waren dabei fließend. Schließlich wirft Wildt auch einen Blick auf die Kriegsgefangenenlager, die vor allem für gefangene russische Soldaten zu Todesmühlen wurden.

Auch was das Arbeitskonzept angeht – harte Arbeit wurde von den Nazis als Tugend betrachtet, die vor allem nordische „Rassen“ zu eigen war – ist der Definitionscharakter und erneut der Inklusions- wie der Exklusionsgedanke wesentlich. Juden, so die nationalsozialistische Lehre, seien „arbeitsscheu“, sie stehlen angeblich den hart arbeitenden Deutschen deren Erträge, sind damit „Parasiten am Volkskörper“ – und ähnliche Diffamierungen. Zugleich, nur ein scheinbares Paradox, wurden Juden sehr schnell nach den Ereignissen des Frühjahrs 1933 von den allermeisten Berufen ausgeschlossen. Sie durften nicht mehr als Lehrer, Juristen etc. arbeiten, lediglich – wie bspw. Ernst Fraenkel – jene, die durch Auszeichnungen im Ersten Weltkrieg als Frontkämpfer gekennzeichnet waren, hatten noch bis 1938 die Möglichkeit, geregelter Arbeit nachzugehen. Schließlich kulminierten diese Annahmen des Regimes in jene Maßnahmen, die die Nazis selbst als „Vernichtung durch Arbeit“ bezeichneten – Programme, die „Arbeit“ zu Todesfoltern werden ließen und das Prinzip – oder Konzept – von „Arbeit“ vollkommen ad absurdum führten.

Es sind Überlegungen wie diese, aber auch jene zu Recht und Justiz, zu Gerechtigkeit und Staatsentwürfen, anhand derer immer wieder verdeutlicht wird, wie die Nationalsozialisten relativ schnell und letztlich geordnet den Staat übernahmen und nach ihren völkischen und antisemitischen Vorstellungen umbauen konnten, die das Buch so interessant machen. Wildt nimmt hier im Übrigen gelegentlich Gegenpositionen u.a. zu Ian Kershaw ein, der in einigen der „Nebenprodukte“ zu seiner großen Hitler-Biographie darauf verweist, daß der NS-Staat vergleichsweise anarchisch gestaltet war; ein Gebilde, in dem verschiedene Organisationen weitestgehend nebeneinander her arbeiteten und teils auch gegeneinander um Hitlers Gunst buhlten. Dem widerspricht Wildt insofern, als er darauf hinweist, daß bei aller Unterschiedlichkeit der Organisation von „Volksgemeinschaft“, SS, der Wirtschaft, der Wehrmacht und den politischen Institutionen doch alle relativ zielstrebig auf die Verwirklichung der NS-Ideologie hinarbeiteten. So wird hier eine, wenn auch nicht erschöpfende, doch tiefgründige Analyse geboten, wie der Umbau des Staates, wie die Beeinflussung der Bevölkerung, wie die Einbindung größerer Teile des „Volkes“ gelang.

Was bleibt zu kritisieren? Wenig. Am ehesten ist es eine strukturelle und tiefgreifende Analyse des Begriffs „Volk“, die hier fehlt. So bleibt der Begriff, obwohl im Titel geführt, etwas schwammig. Es hätte vielleicht gutgetan, noch einmal grundlegend auf den Begriff einzugehen und ihn zu erläutern. Das hat Wildt selbst in seinem äußerst lesenswerten Band VOLK, VOLKSGEMEINSCHAFT, AfD (2017) bereits getan. Hier hätte man vielleicht Teile übernehmen und integrieren können.

So oder so – DIE AMBIVALENZ DES VOLKES ist eine hervorragende Ergänzung, kann aber auch als Einführung ins Thema gelesen werden und sollte definitiv vor allem für jene interessant sein, die eben nicht nur an der Geschichte des Holocaust selbst interessiert sind, sondern weiterhin nach Antworten auf die Frage des „Warum?“ suchen. Denn Auschwitz, einmal als Chiffre für das System der Massenvernichtung, für die sechs Millionen ermordeter Juden und anderer Menschen, die dem Wahnsinn des Nationalsozialismus zum Opfer fielen, war ja keineswegs der Anfang, sondern letztlich flucht- und Endpunkt einer Phantasmagorie, eines dunklen Denkens in Freund-Feind-Schemata, eines grundlegenden Vernichtungswillens und, ja, vielleicht auch dies: Eines Todestriebes. Es gab einen Weg dorthin, es gab eine Entwicklung. Wirklich zu glauben – ein Denken, das wieder salonfähig zu werden droht – es habe ja auch gute Seiten unter Hitler gegeben, Auschwitz als eine Abweichung zu begreifen, den Antisemitismus zu separieren und als „Auswuchs“ abzutun, ist apologetisch und verkennt die Wirklichkeit des Nationalsozialismus. Der Antisemitismus war von allem Anfang an – man bedenke, daß Hitler bereits 1920 seine programmatische Rede „Warum sind wir Antisemiten?“ hielt, in der auch sehr grundlegend die NS-Auffassung dessen, was Arbeit bedeute, wen sie einschloß, wen sie ausschloß, definiert wird – Motor, Ziel und Schmiermittel dieser Ideologie. Michael Wildt trägt auch mit dieser Publikation erneut dazu bei, diesen Fragen weiterhin nachzugehen und darüber aufzuklären.

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