VERGANGENHEITSPOLITIK. DIE ANFÄNGE DER BUNDESREPUBLIK UND DIE NS-VERGANGENHEIT

Norbert Frei beschäftigt sich eingehend und detailgenau mit dem Umgang mit Kriegsverbrechern, Kriegsgefangenen und Mitläufern in der jungen Republik

Kaum wer glaubt ja heutzutage noch an die Mär von der „Stunde Null“, jenem fast mythischen Moment, in dem Deutschland – zumindest Deutschland West – sich neu erfand und aus lauter Nazis und Mitläufern quasi über Nacht gestandene Demokraten wurden. Viel zu gut sind mittlerweile die Nachkriegsverstrickungen bspw. im Außenministerium der jungen BRD untersucht worden, wo sich etliche „Diplomaten“ tummelten, die auch Ribbentrop und dem Regime gedient hatten. Gelegentlich gab es, wie im berühmten Weizsäcker-Verfahren und dem fälligen Urteil, den Versuch, auch jene vor Gericht zu bringen, die sich selbst gar im Widerstand sehen mochten und dennoch willfährige Unterstützer von Hitlers Politik gewesen sind. Noch schlimmer war es, auch dies mittlerweile eine Binsenweisheit, im Justizministerium, welches kaum zu betreiben war, ohne auf die „furchtbaren Juristen“ (Rolf Hochhuths Ende der 70er Jahre geprägte Bezeichnung für den damaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Hans Filbinger, der als Marinerichter während des 3. Reichs Todesurteile ausgesprochen, bzw. unterstützt hatte) zurückzugreifen.

In den vergangenen Jahren gab es etliche Studien, Dokumentationen und auch dokumentarisch vorgehende Romane zum Thema[1], wer will, weiß schon lange, daß nicht nur einige, sondern sehr, sehr viele Mitläufer, aber auch Täter schnell wieder in den Institutionen der jungen Republik untergekommen waren. Norbert Frei, mittlerweile Professor für Neue und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena und einer der renommiertesten Historiker des Landes, gerade zu Themen des 3. Reichs, hat sich in seiner Habilitation mit dem Titel VERGANGENHEITSPOLITIK. DIE ANFÄNGE DER BUNDESREPUBLIK UND DIE NS-VERGANGENHEIT (München 1996/2012) sehr faktenreich, eindringlich und äußerst präzise mit einigen der signifikanten Vorgänge zu dieser Thematik in den Jahren 1946-1949 sowie den ersten zehn Jahren der Bundesrepublik beschäftigt.

Dabei behandelt er u.a. den berüchtigten Artikel 131, der Personen, die in den umstrittenen Entnazifizierungsverfahren als unbedenklich – vor allem Beamte – eingestuft worden waren, die Rückkehr in den Staatsdienst sicherte. Frei legt ausgesprochen detailkundig und doch spannend und lesbar dar, wie sich die Gesetzgebung, die so einfach erschien, sich immer stärker mit der Frage nach den Kriegsverbrechern einerseits – wer wurde darunter gefasst? Wodurch war ein Kriegsverbrechen gekennzeichnet? – sowie der nach den sich noch in Gefangenschaft befindlichen deutschen Soldaten vor allem in Belgien, Frankreich oder den Niederlanden vermischte.

Gerade die Frage nach den Kriegsverbrechen und den Tätern durchzieht die gesamte Studie, war dies doch eine Frage, die recht schnell – zunächst war auf allen beteiligten Seiten, durchaus auch auf der der Deutschen, ein wirkliches Entsetzen zu spüren ob der Dinge, die da im Namen des Deutschen Volks begangen worden waren – zu einer im Kern politischen wurde, die sehr früh schon an jene nach der Widerbewaffnung und der Einbindung der Bundesrepublik in ein westliches Staatenbündnis militärischer (NATO) oder wirtschaftlicher (EWG) Ordnung gekoppelt wurde. Gerade in diesen Bereichen weist Frei nach, wie aus zunächst moralischer Empörung (auf Seiten der Alliierten) mehr und mehr Realpolitik wurde, wie neue Bedingungen (der Koreakrieg und der damit immer deutlicher sich abzeichnende Kalte Krieg zwischen den Blöcken der NATO und jenem des Warschauer Pakts) neue Überlegungen auch auf amerikanischer Seite zeitigten und moralische und strafrechtliche Bedenken zunehmend verdrängten.

Weitere Schwerpunkt sind die ersten Versuche von unverbesserlichen Nazis, auch im neuen Staate Fuß zu fassen und sogar mit einer Nachfolgepartei der NSDAP zu reüssieren. Immer wieder macht Frei deutlich, wie stark all diese letztlich politischen Fragen von aktuellen Lagen und Bedingungen abhängig waren, man spürt, wie stark der Druck der Parteien – auch der eigenen, vor allem aber der FDP, anfangs ein wahres Sammelbecken für gestrandete Nationalsozialisten – der Regierungskoalition einerseits, der alter Verbände wie derer von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren und -angehörigen andererseits und jener der Alliierten auf Adenauer gewesen sein muß. Dabei kommt „der Alte“ bei Frei besser weg, als manche Darstellungen jener gern als „bleiern“ bezeichneten 50er Jahre, die Jahre der Restauration, Verdrängung und des „Wiederaufbaus“, es gern sehen wollen. Folgt man Frei, war Adenauer möglicherweise nicht nur aufgrund seiner bewiesenen Opposition gegen die Nazis, sondern auch aufgrund seines Alters und der angenommenen altersbedingten Weisheit durchaus der richtige Mann am richtigen Ort zur rechten Zeit. Daß aber auch Adenauer zu Tricksereien neigte, auch er bereit war, im Zweifelsfall seine Gegner ins Leere laufen zu lassen oder gar bloßzustellen, verschweigt auch Frei natürlich nicht.

Was neben den naturgemäß sich oftmals in allergenauesten Details verlierenden Beschreibungen der juristischen Hintergründe all dieser Themenfelder deutlich hervortritt, sind die heute nahezu vergessenen Versuche der Alt-Nazis, sich – gerade in Norddeutschland – zu sammeln und offen gegen die junge Demokratie zu agitieren. Dabei griffen Leute wie Otto Ernst Remer gern auf die Narrative der Weimarer Republik zurück, als konservative Kreise gern behaupteten, die Demokratie sei ihrem Wesen nach undeutsch und ein verweichlichtes System. Remer ging sehr weit, rief gar zum Umsturz auf und wurde schließlich in der Bundesrepublik angeklagt, die von ihm gegründete SRP (Sozialistische Reichspartei) war eine der ersten in der Republik verbotenen Parteien überhaupt. Zwar konnte Remer entkommen und floh in den Nahen Osten, kehrte später zurück, war weiterhin als Holocaust-Leugner und rechtsextremer Aktivist tätig und entzog sich einer erneuten Verhaftung durch Flucht nach Spanien, wo er schließlich auch starb. Sein Fall aber ist exemplarisch, wird hier doch deutlich, wie schwer es war, gegen die alten Netzwerke und Männerbünde vorzugehen, die sich zudem immer noch eines gewissen Rückhalts in der Bevölkerung sicher sein durften. So schlimm das erste Entsetzen über die Vorgänge in den Konzentrationslagern gewesen sein mag – der durchschnittliche Deutsche betrachtete sich als Opfer einer totalen Kriegsmaschine, die Leid und Elend über das Land gebracht habe, ohne dabei sonderlich die eigenen Anteile zu reflektieren. Man war mit dem eigenen Leid beschäftigt.

So ist denn auch die eigentliche Leistung dieses Werks – zumindest für den Laien und diejenigen, die nicht zuvörderst an juristischen Fachdetails Interesse haben – einmal mehr vorzuführen, wie schwer es gewesen ist, überhaupt an eine Vergangenheit zu erinnern, die die meisten der auf Täterseite Tätigen im Grunde entweder vergessen wollten (die meisten wahrscheinlich) oder nicht so gebrandmarkt wissen wollten, wie dies nun einmal der Fall war (einige wenige, doch die gibt es heute noch, bedenkt man, daß Alexander Gauland, Ehrenvorsitzender und Spiritus rector der AfD, endlich wieder der „Leistungen“ deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen gedenken will; also positiv gedenken natürlich).

Es erschüttert, wenn man begreift, daß „Wiedergutmachung“ zunächst einmal Ausgleiche für ehemalige Wehrmachtsangehörige für erlittenes „Unrecht“ – Kriegsgefangenschaft, Entnazifizierung, Verdächtigungen und natürlich die Vertreibungen aus den ehemaligen Ostgebieten – zu bezeichnen pflegte. Überhaupt spielten die wirklichen Opfer des Nationalsozialismus in jenen Jahren kaum eine Rolle. Frei weist eben auch nach, daß die Gelder, die die Regierung für die Renten und Entschädigungen Deutscher jene für jüdische Mitbürger, die die Lager überlebt hatten, bei Weitem und um ein Vielfaches übertrafen.

Sicher, Vieles von dem, was Frei in seiner nun immerhin fast schon 30 Jahre alten Schrift beschreibt, untersucht und einordnet, ist heute allseits bekannt (vor allem und natürlich unter denen, die sich wirklich für die Thematik interessieren), dennoch lohnt die Lektüre auch heute noch. Ergänzend oder konzentriert gelesen, führt sie zur Wurzel und in den Kern dessen, was heute gern unter „Vergangenheitsbewältigung“ subsumiert wurde und zunächst doch vor allem den Schmerz und das Leid deutscher Menschen beschrieb. Frei nennt sein Buch deshalb nicht umsonst „Vergangenheitspolitik“, weist er doch früh schon darauf hin, wie schnell aus einem moralischen Gebot eine politische Frage wurde, die nach politischen Maßstäben, in einem Abwägen und in vielerlei Kompromissen beantworte wurde.

 

[1] Vgl. Schley, Fridolin: DIE VERTEIDIGUNG. Berlin, 2021; Krechel, Ursula: LANDGERICHT. Salzburg/Wien, 2012.

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