DIE VERTEIDIGUNG

Eine Annäherung an Fragen von Schuld, Selbstwahrnehmung und innerer Verteidigung

Spricht man heute von den Kriegsverbrecherprozessen der unmittelbaren Nachkriegszeit, meint man meist jenen gegen die Nazi-Größen wie Göring, Ribbentrop oder Hans Frank. Weniger meint man die Nachfolgeprozesse gegen die Juristen oder die Mitarbeiter bspw. des Auswärtigen Amts – dem Ribbentrop seinerseits vorstand.

Fridolin Schley nimmt sich in seinem Roman DIE VERTEIDIGUNG (2021) eines jener Prozesse an, die aus verschiedenerlei Gründen Aufsehen erregten, heute aber eher als vergessen gelten müssen – dem Wilhelmstraßen-Prozeß, in welchem der Hauptangeklagte Ernst von Weizsäcker hieß. Verteidigt wurde er u.a. von seinem eigenen Sohn, dem späteren Regierenden Bürgermeister von Berlin und Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.

Weizsäcker war tief in die Verbrechen des Regimes verwickelt, da er u.a. dem Auswärtigen Amt als Staatssekretär diente, in dieser Funktion Deportationsbefehle nach Auschwitz abgezeichnet hatte und natürlich auch in die Kriegsvorbereitungen eingebunden war. Allerdings gehörte er auch zu denen, die lange versuchten, einen, wenn auch fragilen, Frieden aufrecht zu erhalten. So war es u.a. ihm zu verdanken, daß nicht bereits nach Hitlers Einmarsch in der Tschechoslowakei 1938 ein europäischer Krieg ausbrach – was historisch gesehen möglicherweise ein Fehler war, da die Wehrmacht im Jahr 38 noch nicht die Stärke aufwies, die sie nur ein Jahr später erreicht hatte. Möglicherweise wäre es 1938 noch möglich gewesen, Deutschland in die Schranken zu weisen.

Sich selbst sah Weizsäcker hingegen völlig anders – er wähnte sich sogar im Widerstand und baute darauf seine Verteidigung auf. Er habe mitgemacht, um Schlimmeres zu verhindern. Ein Motiv, das Viele nach 1945 anführten. Es war einer der Gründe dafür, daß in den 50er und den frühen 60er Jahren die Überzeugung herrschte, das Regime, das die Verbrechen zu verantworten habe, sei eben eine kleine Clique gewesen, die sich das Land, den Staat, praktisch unter sich aufgeteilt habe – „das Volk“ aber sei kaum an den Verbrechen beteiligt gewesen.

Für Schley ist aber nicht eine genaue Chronologie dieses längsten aller Nachfolgeprozesse der Dreh- und Angelpunkt seines Romans[1], sondern das Verhältnis zwischen Richard von Weizsäcker und seinem Vater. Anhand dieser Beziehung, die fast ausschließlich aus der Perspektive des Sohnes geschildert wird – der Vater bleibt dem Leser ähnlich erratisch, wie dem Sohn, der sich zunehmend fragen muß, ob er diesen Mann wirklich kennt – kann Schley wesentliche Punkte an Vergangenheitsbewältigung verhandeln, die hier exemplarisch durchexerziert werden. Sozusagen stellvertretend für die Deutschen, die in den Jahrzehnten danach erst lernen mussten, das ganze Ausmaß der Schuld, welche man auf sich geladen hatte, zu begreifen – und vor allem zu begreifen, wie mit dieser Schuld umgegangen wurde.

Es ist vor allem die Sprache – die des Regimes und die, mit der man vor sich selbst besser dasteht – die Schley durch die Augen Richard von Weizsäckers untersucht. Die Euphemismen, die Vertuschungen, die Selbstentlastung und die darin sich verbergende Schizophrenie, ein öffentliches Ich von einem persönlichen Ich abzuspalten. Sprache als Entlastungsinstrument. Immer wieder wird aus Weizsäckers persönlichen Papieren zitiert, die auch Richard liest, um seinem Vater, aber auch dem Mann, als den er ihn verteidigen muß, näher zu kommen. So wird der Sohn Zeuge, wie sein Vater sich von sich selbst distanziert, wie er sich als erhaben über den ganzen Prozeß begreift, weil jene, die über ihn urteilen, gar nicht in der Lage seien, die Situation zu begreifen, die sie da beurteilen sollen. Wie der Vater sich bemüht, sein Ich, also die tieferen Lagen des eigenen Wesens, abzutrennen von demjenigen, der in offizieller Position handelte. Die Haltung, so das Credo des Alten sich selbst gegenüber, sei das Entscheidende. So ist er bereit, den Prozeß und das zu erwartende Urteil zu ertragen – gleichsam als Exempel, als Märtyrer, um eben diese Haltung zu demonstrieren und darzustellen, daß es eben auch „anständige Nazis“ gegeben habe. Ein „anständiger Nazi“, einer der sauber geblieben war – so sah sich Ernst von Weizsäcker. Und so sahen sich viele Deutsche.

Schley enthält sich selbst jedes historischen Urteils, was eine kluge Haltung ist, um sich dem Sujet zu nähern. Weizsäckers Mitgliedschaft in Partei und SS, seine Versetzung nach Rom in den Vatikan 1943, die angeblich auch auf seine Differenzen mit Ribbentrop zurückzuführen gewesen sei, die unterschriebenen Deportationsmitteilungen usw. – Schley führt all dies an und überlässt es dem Leser, sich ein Urteil zu bilden. Allerdings macht Schley dadurch, daß er Richard von Weizsäcker den eigenen Vater erforschen lässt, deutlich, wie extrem die Selbstverleugnung, die Selbsttäuschung gewesen ist, der viele der Schreibtischtäter unterlagen. Es ist eine geschickte Konstruktion, die der Autor wählt, da er so den inneren Kampf des Sohnes beschreiben kann, die Unsicherheiten, je tiefer er sich in die Papiere des Vaters – die offiziellen wie die persönlichen – einliest. Und damit, wie oben erwähnt, eine exemplarische Auseinandersetzung mit den Verbrechen – auch dem eigenen Tun, denn Richard von Weizsäcker war Offizier an der Ostfront und hatte dort einige der Untaten erlebt, die auch die Wehrmacht beging, hatte sich nachweislich auch der Befehlsverweigerung schuldig gemacht. Und war dadurch im Nachhinein natürlich ebenfalls „sauber“ geblieben. Doch musste auch er sich der Tatsache stellen, daß es die Verbrechen gegeben hat. Und das, wer auch nur irgendwie in die Maschinerie der Nazis eingebunden war, kaum unschuldig bleiben konnte. Anhand einer Frage wie dieser, streift Schley die Diskurse jener Zeit, die auch in den Zeitungen geführt wurde. Diskurse wie jene über die Kollektivschuld im Gegensatz zu Individualschuld etc. Immer wieder sickern Fragen und Diskurse wie diese in den Text ein.

Es lässt sich nun trefflich darüber streiten, ob ein Sachbuch zum Thema nicht sinnvoller wäre? Die Fakten sauber aufgereiht, Pro und Kontra abgewogen gegeneinandergestellt, Dokumente genau angeführt oder in einem Appendix einzeln aufgeführt. Aber warum nicht auf diese Art und Weise? Warum nicht sinnlich, emotional erfahrbar machen, was es bedeutete, so nah an den Tätern dran zu sein? Zumal es Richard von Weizsäcker war, der in seiner vielbeachteten Rede zum Kriegsende am 8. Mai 1985 erstmals klar von einem „Tag der Befreiung“ sprach, nicht von einem der Niederlage. Schley erwähnt diese wegweisende Rede relativ früh in seinem Text und markiert damit den intellektuellen wie emotionalen Weg, den auch ein Mann wie Richard von Weizsäcker gegangen ist, zurückgelegt hat, zurücklegen musste.

Es wird häufig die Frage gestellt, wie wir nun mit der Erinnerung umgehen, jetzt, da die Zeitzeugen langsam wegsterben, die Augenzeugen kein Zeugnis mehr ablegen können. Es hat in den vergangenen 20 Jahren einige Versuche gegeben, die Erinnerung in fiktionalen Formen aufrecht zu erhalten, einige gelungen, andere weniger. Fridolin Schley gelingt hier eine gute Mischung aus sachlicher, dokumentarisch genauer Betrachtung und einem vorsichtigen Vorantasten in den Geist eines vergleichsweise jungen Mannes, der sich eben mit der Geschichte, aber auch mit der eigenen Familie auseinandersetzen muß. Es ist dem Autor hoch anzurechnen, wie vorsichtig, ja skrupulös er dabei vorgeht. Selten bis nie eignet sich Schley die Gedanken seines Protagonisten – der im engeren Sinne keiner ist – an, sondern immer wieder markiert er die Distanz zu dessen Gedanken. „Wahrscheinlich“, „vermutlich“, „mag er…“, sind die Adverbien, Einleitungen und Konjunktive, mit denen er dem Leser verdeutlicht, daß es sich hier allenfalls um eine Annäherung handelt, niemals um eine Wiedergabe.

So kann er eine Äquidistanz halten, die das Historische des Vorgangs bedenkt, den zeitlichen Abstand markiert, die Überlegung hervorhebt und damit auch immer den Unterschied zur reinen Prosa. Denn ein Roman im engeren Sinne ist dies nicht. Dafür gibt es zu wenig Szenisches, im Grunde keine Handlung. Einziger Ort der Handlung ist der Gerichtssaal, der Großteil des Textes betreibt Innenschau. Alles kreist um die Gedanken des Sohnes zum  Vater, dessen Kälte in der Funktion als Vater (immer wieder kommt der Text auf ein Ereignis in Richards Kindheit zurück, bei dem der Vater mit ihm auf einen See hinausruderte und ihn dann ins Wasser warf; er müsse schwimmen lernen), die unterschiedlichen Personae – ob als Vater, als Gatte, als Staatssekretär, als verinnerlichtes Ich, das alles ganz anders gemeint und getan haben will, als die reine Evidenz es erscheinen lässt.

So also mag es möglich sein, sich dieses langsam der Historizität überantworteten Teils der jüngeren deutschen Geschichte anzunähern. Äußerst genaue Kenntnis der Dokumente – Schley liefert wie erwähnt einen erschöpfenden Apparat, der die Quellenlage dokumentiert – und eine auch sprachlich genaue und zurückhaltende Annäherung an die Figuren und ihre Handlungen und Haltungen. Schley setzt hiermit also Maßstäbe, die zukünftige Chronisten und Romanciers, die sich des Themas 3. Reich annehmen wollen, zu beachten haben werden.

 

[1] Was auch nicht nötig ist, denn es gibt eine vielfältige Anzahl an Dossiers, Dokumentationen und Studien zu dem Gesamtkomplex der Nürnberger Prozesse, die Schley in einem umfangreichen Anhang auch minutiös auflistet.

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