DER SCHLÄCHTER/BUTCHER
Joyce Carol Oates konfrontiert ihre Leser*innen gnadenlos mit den Angfängen der modernen Medizin
Eben noch las man in Barbara Kingsolvers Roman DIE UNBEHAUSTEN von der Schwierigkeit, das Licht der Aufklärung durch Zeiten konservativer, traditioneller, respektive reaktionärer Weltsicht zu tragen, bzw. es in diesen überhaupt erstrahlen zu lassen, davon, der unbestechlichen Wissenschaft gegen die Religion und deren überkommene Ansichten zu ihrem Recht zu verhelfen und dabei auszuhalten, dass man ohne Gottes schützende Hand auf einmal eben unbehaust im Offenen steht – da kommt einem Joyce Carol Oates gewaltig in die Quere. Denn die amerikanische Autorin erzählt in ihrem Roman DER SCHLÄCHTER (BUTCHER, Original erschienen 2024; Dt. 2025) davon, wie viel Schatten das Licht der Aufklärung werfen, zu welchen Verheerungen die hehre, unbestechliche Wissenschaft – gerade in ihren frühen Anfängen – führen konnte. Vor allem, wenn sie durchdrungen war, ja geradezu auf der Basis von Klassismus, Rassismus und – hier ganz besonders hervorzuheben – Sexismus operierte. Und am schlimmsten dabei ist wahrscheinlich, dass Oates es ihren Leser*innen ganz sicher nicht einfach macht, hier in schwarz-weiße Dichotomie zu verfallen, sich auf eine Seite zu schlagen und damit auf der sicheren, der moralischen richtigen Seite zu wähnen. Denn deutlich wird hier auch: Ohne Experiment, ohne die Kälte des forschenden Blicks hätte es und wird es wahrscheinlich niemals so etwas wie „Fortschritt“ geben.
Basierend auf verschiedenen real existierenden Figuren – Dr. J. Marion Sims, Dr. Silas Weir Mitchell, Dr. Henry Cotton nennt Oates in ihrem Dankwort am Ende des Buchs namentlich – entwirft die Autorin, größtenteils in dessen eigenen Worten, das Portrait, nein, das Psychogramm eines Mannes, der, bar jedweder Moral, mehr noch: bar aller Empathie, aber im guten Glauben, das „richtige“ zu tun, zu helfen, medizinisch Großes zu leisten (und dabei natürlich ein gehöriges Stück vom großen Ruhmes-Kuchen abzubekommen), seine Position als zunächst führender Arzt, dann Leiter einer Nervenheilanstalt in New Jersey Mitte des 19. Jahrhunderts ausnutzt, um die unglaublichsten Experimente an den seiner Obhut unterstellten Frauen vorzunehmen. Dieser Dr. Silas Aloysius Weir mag durchdrungen sein vom Forschergeist einer Generation, die durch immer bessere (wenn auch noch lange nicht gute) wissenschaftliche Mittel und Methoden der Menschheit nach und nach tatsächlich immer größere medizinische Erfolge ermöglichte, zu tatsächlichen Erkenntnissen verhalf und damit bessere Heilmethoden fand, die dafür aber auch auf schreckliche Experimente und fürchterliche Versuche an lebenden Objekten zurückgriff.
Oates baut ihren Roman – ganz der postmodernen Tradition entsprechend, der sie entstammt – als einen (fiktiven) Bericht, eine (fiktive) Biographie dieses Arztes auf. Sein Sohn Jonathan, der im Leben des Vaters im Grunde keine und schließlich eine entscheidende Rolle spielen sollte, veröffentlicht diesen Bericht und betreut ihn editorisch. So gibt er ihm vereinzelte Texte Außenstehender bei, schließt ihn vor allem im letzten Kapitel mit dem Lebensbericht einer maßgeblich an den Vorgängen in der Klinik Beteiligten ab und ergänzt das Ganze mit einigen abschließenden Erläuterungen aus eigener Feder. Hauptsächlich jedoch lässt er – lässt Joyce Carol Oates – Dr. Weir für sich selbst sprechen – und diese Aufzeichnungen haben es in sich, ja, sie veranlassen die Leser*innen immer wieder dazu, den Roman zur Seite zu legen, so schwer erträglich ist das, was dieser fürchterliche Mediziner im Brustton der Überzeugung und durchdrungen von der eigenen Bedeutung da berichtet.
Oates Kunst besteht darin, diesen Bericht völlig glaubwürdig wirken zu lassen, dabei aber im Grunde einen Livebericht aus der Hölle zu liefern, der sicherlich mit den fürchterlichsten Beschreibungen dessen mithalten kann, was bspw. ein Dr. Joseph Mengele in Auschwitz seinen Opfern antat. Und man kann sich wohl sicher sein, dass Oates diese Assoziationen sehr bewusst evozieren will, wahrscheinlich auch auf genau solche Berichte zurückgegriffen hat, um den Ton zu treffen, dessen sich ein Mediziner vom Schlage Dr. Weirs womöglich befleißigt hätte. Denn Weir beschreibt teils derart hanebüchene Versuche, die er da an ihm dank seiner Machtposition ausgelieferten Menschen unternimmt – meist ohne Betäubung, weil Chloroform oder gar Morphium teuer waren und er die Frauen, die er „behandelt“, tatsächlich für geistig derart minderbemittelt hält, dass sie seiner Meinung nach auch über kein Schmerzempfinden verfügten –, dass es einem die Sprache verschlägt. Da wird Frauen der Uterus herausgenommen, da wird die Klitoris entfernt, da werden Zähne gezogen – alles im Namen der sogenannten gynäkopsychiatrischen Behandlung der Hysterie, die dem weiblichen Geschlecht gleichsam eingeschrieben sei.
Oates, die immer schon auch einen Hang zum Horror hatte, wobei „Horror“ bei ihr weniger übernatürliches Grauen, vielmehr den Schrecken meint, der vom Menschen ausgeht; vom Menschen mit all seinen widersprüchlichen Stärken und Schwächen, wobei Oates es zumeist bewusst offenlässt, was das eine, was das andere sei und wie beides einander bedingt. So auch hier, gelingen Dr. Weir doch tatsächlich teils bahnbrechende Operationen und damit Heilerfolge. Allerdings scheut Oates sich nicht, das Vorgehen während dieser Operationen und deren doppeldeutigen Ergebnisse in all ihrer Drastik zu beschreiben. Das hat momentweise schon durchaus gewalt-pornographischen Charakter. Und gelegentlich tatsächlich pornographischen Charakter, wenn sie Dr. Weirs Erregung schildert, wenn er mit einem Löffel in eine Vagina eindringt. Es ist ein Spiel mit der Erzählerposition, die sich die Autorin hier erlaubt, denn hätte ein Mann dies geschrieben, müsste er sich wahrscheinlich Vorwürfe gefallen lassen. Oates bietet hier – einmal mehr der postmodernen Tradition verhaftet – eine Metaebene des Erzählens an, die durchaus bedenkenswert und Leser*innen zutiefst verunsichernd ist.
Dass es Leser*innen bei all diesen drastischen Schilderungen die Sprache verschlägt, soll hier allerdings nicht einfach nur eine Metapher für die Wirkung dessen sein, was Oates be-schreibt. Vielmehr spielt die junge Irin Brigit Kenealy und ihr Verhältnis zu dem Arzt, bzw. sein Verhältnis zu ihr, eine ganz wesentliche Rolle in der Handlung des Romans, mehr noch aber in seinen tieferen Schichten, dort, wo es Oates eben gelingt, ein unfassbar treffendes und ebenso schauerliches Psychogramm eines – man muss wohl leider sagen: typischen – Mannes seiner Zeit zu erstellen. Das gelingt ihr wie erwähnt vor allem dadurch, dass sie ihn selbst sprechen lässt in all seiner selbstverliebten Eitelkeit eines sich immer missverstanden fühlenden großen Geistes.
Das Albino-Mädchen Brigit Kenealy ist eine Dienstschuldnerin, eine Frau, die bereits im Kindesalter von ihrer Mutter an die Anstalt Trenton verkauft wurde und dort Frondienste zu leisten hat, bis der Vertrag – der einseitig und willkürlich verlängert werden kann; ein System, das so wirklich existierte – offiziell abgelaufen ist. Brigit Kenealy ist stumm. Vielmehr taubstumm. Zumindest wirkt es so. Die Hebamme Gretel, die eine bevorzugte Stellung in Dr. Weirs System einnimmt, ähnlich wie es Brigit Kenealy nach und nach zugestanden werden wird, meint zu wissen, dass die Stummheit sich nach dem plötzlichen und äußerst gewaltsamen Unfalltod der Mutter eingestellt habe. Dieser Frau hat es buchstäblich „die Sprache verschlagen“.
Wenn es also den Lesenden die Sprache verschlägt, so treffen diese in der Figur der Brigit Kenealy auf eine Figur, der es ebenso ergeht. Es sind ihre Aufzeichnungen, die das letzte Kapitel des Buchs ausmachen, in welchen sie schildert, wie sie, Gretel und einige andere Gefangene der Anstalt – Dienstschuldnerinnen ebenso wie Insassinnen – sich schließlich zur Wehr gesetzt haben. Und es ist auch an ihr, uns zu bestätigen, was wir durch die Aufzeichnungen des Dr. Weir bereits ahnten, nein wussten: Ein solches System, wie er es betreibt, funktioniert eben nur durch ein Geben und Nehmen. Indem er Gretel und dann Brigit zu Handlangerinnen und Mitwisserinnen gemacht hat – natürlich alles im Namen der Forschung, der Wissenschaft, der medizinischen Heilung –, hat er sie auch auf seine Seite gezogen. Und da es ihm tatsächlich gelungen ist, Brigit vom Übel einer Fistel zu befreien – eine damals wohl weit verbreitete Entzündung, die bei Frauen oftmals zu permanenter Inkontinenz führte – sieht sie sich eben auch in seiner Schuld stehend.
Anhand solcher Details gelingt es Oates hervorragend, eine Figur wie Dr. Weir ambivalent, doppelbödig, gar vielschichtig und damit lebensecht erscheinen zu lassen. Einfach schlecht, böse, brutal ist dieser Mann eben nicht. Er hat Erfolge vorzuweisen und wird im Laufe seines Lebens auch mehr und mehr als eine Koryphäe auf seinem, lange Zeit etwas verpönten Fachgebiet der Gynäkologie betrachtet. Doch was den Roman zu mehr als einer wütenden Anklage gegen ein System macht, dass hier im Kleinen spiegelt, was sich im Großen abspielt – die Handlung erstreckt sich über einen Zeitraum von nahezu 40 Jahren, wobei die Jahre zwischen 1851 und 1861, also dem Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs, die Kernhandlung umfassen und somit die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Frage der Sklaverei, die Abolitionisten, die Sezession des Südens besondere Aufmerksamkeit erfahren -, was Oates´ Buch wirklich brillant macht, ist ihre Fähigkeit, die innere Motivation, die tiefsitzende Prägung eines Mannes wie Dr. Weir sichtbar zu machen.
Dieser Mann liebt Brigit Kenealy, das wird schnell deutlich. Er will sie heilen und in einer schon fast als Farce zu begreifende Szene untersucht er ihren Intimbereich, bis zum Äußersten erregt und angespannt, mit dem oben bereits erwähnten Löffel, dringt also in sie ein, ohne den sexuellen Akt vollziehen zu müssen. Diese Szene veranlasst ihn, in seinen Aufzeichnungen darüber zu lamentieren, dass er seine Methode leider nicht hat patentieren lassen und er also nicht mit der Erfindung des Spekulums reich geworden ist (er könnte nach eigenen Angaben auch Anspruch auf die Erfindung der Zwangsjacke, der Gummizelle und einiger anderer in der Psychiatrie lange Zeit verwendeter Mittel erheben). Wichtiger aber ist – hier und an etlichen anderen Stellen des Romans – die Auseinandersetzung dieses Mannes mit Frauen. Die nämlich faszinieren ihn ebenso, wie sie ihn abzustoßen, geradezu anzuekeln scheinen. Er zeugt mit seiner Gemahlin Teresa zwar neun Kinder, hält sich aber von der Familie fern und erst recht von seiner Frau, als die – durch neun Schwangerschaften und neun Geburten in seinen Augen etwas mitgenommen – seinen ästhetischen Ansprüchen nicht mehr genügen kann. Brigit aber ist seine Muse, die Göttin, die er anbetet, das Wesen, das er begehrt, das er aber niemals wird „besitzen“ können, obwohl er sich – und damit auch uns – an einer Stelle seiner Aufzeichnungen eingesteht, dass er davon träumt, nach Teresas hoffentlich nicht allzu spätem Ableben noch einige glückliche Jahre mit Brigit an seiner Seite zu genießen. Und eben diese Brigit, die ferne Göttin seines Begehrens, wird zu seiner Nemesis.
Doch ist dies nur ein Aspekt dieses Psychogramms. Denn anhand der Aufzeichnungen wird ebenso wie diese tiefsitzende Misogynie, die einerseits dem Charakter dieses Mannes entsprungen scheint, andererseits aber eben auch einem gesellschaftlichen Kontext, vor allem eine grundlegende Haltung deutlich, welche der amerikanischen Gesellschaft kein gutes Zeugnis ausstellt. Mag diese sich auch noch so viel einbilden auf ihre demokratischen Werte und Traditionen – gerade hier, in der Figur des Schlächters Dr. Silas Aloysius Weir kommt die Bigotterie dieser Gesellschaft überdeutlich zum Ausdruck. Denn er kann tun, was er tut, weil dies durch gemeingültige Ansichten gedeckt ist. Angefangen beim System der Dienstschuldnerei, das so weit nicht entfernt ist von dem der Sklaverei, die der Süden offen betreibt, über die menschenverachtenden Ansichten über – in diesem Fall Iren und also Katholiken – Minderheiten, die man nicht für vollwertig erachtet, bis hin zu der Annahme, dass man mit Menschen wie denen, die in einer Anstalt interniert sind wie der, die Dr. Weir leitet, umgehen kann, wie man will, weil sie ebenfalls keine vollwertigen Menschen, ja, im Zweifelsfall überhaupt keine menschlichen Wesen seien, beweist dieser schreckliche Arzt in seiner unfassbaren Selbstgerechtigkeit, die ihn seine Taten ja als etwas Erachtenswertes darstellen lassen, auf welch sozialem Konstrukt diese Gesellschaft basiert.
Gerade an der Ostküste, wo jene Leben, die zwar – leben sie in Neuengland als Yankees beschimpft – am stärksten gegen die Sklavenhaltung angingen, dies aber niemals, weil sie Schwarze auch nur ansatzweise für gleichwertig hielten, sondern vor allem, weil die „besondere Institution“, wie die Sklaverei gern genannt wurde, ihren christlichen Werten und Ansichten zuwiderlief, gerade hier also waren diese zutiefst ungerechten Ansichten über Klasse, Rasse und Geschlecht zugleich tief verwurzelt. Und – auch das wird in diesem Roman sehr deutlich – bei allem Glauben an den Fortschritt, vor allem an dessen kommerzielle Seiten, ist ein zutiefst religiöser Aspekt überaus wesentlich. Denn Dr. Weir findet ja letztlich nicht nur gesellschaftliches Ansehen, wird gedeckt durch die herrschenden Konventionen und Meinungen, sondern kann sich immer, wenn ihn doch einmal Gewissensbisse plagen, Zweifel sich seiner zu bemächtigen drohen, auf christliche Werte, auf ein Weltbild berufen, das in Gottes Sinne und nach Gottes Wille geschaffen sei. Wenn also, um auf den Titel von Barbara Kingsolvers eingangs erwähnten Roman zu rekurrieren, die (selbstverschuldete?) Unbehaustheit allzu schwer zu ertragen sein sollte, kann man sich doch wieder unter das Dach eines göttlichen und somit externen Weltwillens und -geschehens flüchten.
All dies in seiner Komplexität herauszuarbeiten, zu analysieren und entsprechend darzustellen gelingt Joyce Carol Oates in diesem Roman hervorragend. DER SCHLÄCHTER ist oberflächlich betrachtet scheinbar darum bemüht sein Publikum zu schockieren, offenbart unter dieser Oberfläche aber eine Vielschichtigkeit und Tiefe, die ihresgleichen sucht. Es ist ein bedrückender, nur schwer erträglicher Roman, der fordert, der sicher nicht zur Unterhaltung geeignet ist, der aber, je länger man sich mit ihm befasst, immer mehr Ebenen und Dimensionen sowohl auf der Handlungsebene als auch auf den Metaebenen und in seinen Subtexten offenbart. Ein schwieriger und sperriger Roman, der es wert ist, gelesen zu werden.